Im 8. Jahrhundert führt Bonifacius die Christianisierung in Hessen ein, indem er, geschützt durch fränkisches Militär, eine 1000 Jahre alte Eiche in Fritzlar fällen lässt, um den Menschen zu zeigen, dass ihre Verehrung der Natur der falsche Weg sei. Das ist ein Signal für alle Menschen, künftig die Natur zu missachten, zu missbrauchen, nach Kosten-Nutzen zu berechnen, zu versiegeln, zu zerstören. Heute werden Autobahnen gebaut, geschützt durch Polizei, gegen jene, die angefangen haben, im Wald mehr zu erkennen. Im 12. Jahrhundert tragen die Zisterzienser zur Rodung von Urwaldgebieten bei, bauen in Dreifelder-Wirtschaft Korn an, bewässern die Böden und führen die Mühlen als regenerative Energie ein, welche dann auch zum Zerkleinern von Holz, zur Verhüttung von Erzen und zum Aushöhlen von Erlen genutzt werden können. Sie tragen damit entscheidend zur Industrialisierung bei. Die Burg- und Schlossherren lassen ihre Wälder roden, um besser erkennen zu können, aus welcher Richtung Feinde kommen. Auf dem Schlossberg von Marburg wird bis zum 16. Jahrhundert Wein angebaut.
Erst im 13. Jahrhundert macht Franziskus in seinem „Sonnengesang“ deutlich, dass wir nicht nur ein Teil der Natur sind, sondern die klaren Quellen unsere Schwestern, die Erde unsere Mutter, die Bäume unsere Brüder, selbst die Sterne mit uns verbunden sind. Überall wirkt ein göttlicher Funke, der sie zum Leben erweckt. Die Verantwortung, die daraus erwächst, haben die meisten Menschen Jahrhunderte lang nicht begriffen.
In Krieg weichen die Wälder strategischen Interessen
Die Angst vor der Gewalt der undurchdringbaren Natur ist im 16. Jahrhundert vorbei. Bis dahin sind die meisten Urwälder abgerodet, die hohen Bäume für Ständerbauten verwendet, verheizt, zur Verhüttung gebraucht, die Gewässer durch Gerbereien, Färbereiabfälle und Fäkalien verseucht, die Bären und Wölfe abgeschossen, die Raubritter beseitigt. Menschen können nun gefahrlos reisen. Den seit dem 15. Jahrhundert geäußerten Wunsch der Bauern nach ihrer Almende gestatten die Fürsten nicht, denn nun fürchten sie um die verbliebenen Restwälder für ihre Jagd. Landgraf Philipp möchte, dass die Bürger künftig nur noch Steinbauten mit Schindeldächern errichten, damit es keine Feuersbrünste in den Städten geben kann und nicht noch mehr Holz gebraucht wird. Aber die Bürger bauen weiterhin Fachwerkhäuser, weil sie in zwei Wochen errichtet sind und billiger kommen. Nun entstehen nicht mehr Ständerbauten, sondern Rähmbauten, das heißt mit kürzeren Balken errichtete Gebäude. Im 30-jährigen und siebenjährigen Krieg weichen die Wälder wieder strategischen Interessen der unterschiedlichen kriegführenden Parteien.
„Zurück zur Natur“
Erst im 18. Jahrhundert bestimmt die neue feuerpolizeiliche Ordnung, dass Menschen ihre Häuser verputzen müssen oder mehr Steuern bezahlen müssen. Fast alle Bürger Marburgs folgen dieser Aufforderung. In Frankreich kritisiert Rousseau aufgrund der Entdeckungsreisen mit seiner Aufforderung „zurück zur Natur“ die gekünstelte adelige Gesellschaft und die Zurichtung der Natur auf sie. Die Bürger in Bath greifen im 19. Jahrhundert in England den Gedanken auf, um die Wälder wieder frei wachsen zu lassen. Wege sind nun nicht mehr feudalabsolutistisch gerade auf die Überwachbarkeit und Kleidung der Adeligen ausgerichtet, sondern krumm. Der Adel übernimmt nun den Naturgedanken von den Bürgern und es entsteht der Englische Garten in München. Bürger, die ihre Gesellschaft angesichts der Überwachung nicht offen kritisieren, gehen in die innere Emigration und machen absterbende Eichen in der Romantik zum Symbol der Gesellschaft und ihrer Trauer.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führt die Politik der verbrannten Erde zur Vernichtung der Natur und Menschen in Afrika (Hereros). Die Nationalsozialisten versiegeln die Böden durch den Bau von Autobahnen, die als Zubringer für Soldaten und Kriegsmaterial für den künftigen Zweiten Weltkrieg dienen. Sie nutzen diesen Autobahnbau zur Ideologie. Fotos von Autobahnarbeitern, die für einen Tag eingestellt und am zweiten entlassen werden, sollen die Illusion von Vollbeschäftigung erzeugen. Im Zweiten Weltkrieg nutzen die Nazis die Politik der verbrannten Erde in Russland. Tausende von Bäumen verbrennen. Im Krieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien 1999 werden selbst Naturschutzgebiete mit Uranbomben beschossen und erzeugen in den intakten Gebieten Verstümmelungen und Krebsgeschwüre.
Bäume besitzen ein Kommunikationsnetz
Der Förster Peter Wohlleben hat jedoch im 21. Jahrhundert in seinem Werk „Das geheime Leben der Bäume“ deutlich gemacht, dass Bäume ein Kommunikationsnetz besitzen. Sie kommunizieren untereinander über Pilzgeflechte. Sie informieren sich, wenn Schädlinge oder Rehe kommen, die ihre Blätter fressen. Dann senden die anderen Bäume gleich einen bitteren Stoff, der die Rehe oder andere Schädlinge davon abhält, sie anzuknabbern. Sie sind eine Baumfamilie. Der Lebenszyklus eines Baumes dauert viel länger als der eines Menschen. Während sie – ungestört – bis zu 1000 Jahre erreichen können, erreichen wir bei guter Gesundheit meist nicht mehr als 80 Jahre oder vielleicht 120. Während in ihnen das Wasser auf- und absteigt, sie bei Verletzungen Harz produzieren, so fließt in uns ebenso wässriges Blut und auch wir produzieren bei Verletzungen einen Schorf. Mit ihren Wurzeln halten sie sich in der Erde, halten das Trinkwasser in der Erde, nähren die Pilze mit Zucker und geben uns Sauerstoff. Ihre abgefallenen Blätter verrotten zur Erde, geben zahllosen Tieren eine Heimstatt. Das Wachstum der Sprösslinge hängt nicht nur vom Licht ab, das sie erhalten, oder vom sauberen Wasser, sondern von der Nahrung ihrer Mutter-/Vaterbäume und die Sprösslinge ernähren ihre absterbenden Eltern, manchmal selbst dann noch, wenn nur mehr ein Baumstumpf hochragt. Daher gehen auch nicht alle künstlich auf Ausgleichsflächen gepflanzten Bäume an, ihnen fehlt schlichtweg die Unterstützung ihrer Eltern. (Sebastiao Selgado musste dies bei der Renaturierung der von seinem Vater abgeholzten Regenwälder in Brasilien erkennen. Er hat mehrere zehntausende Setzlinge mehrmals vorkeimen müssen, bevor einige anwuchsen, dann aber wieder Wasser und Tiere in das Gebiet lockten.)
Bäume, Pflanzen, Trinkwasser und Tiere sind unsere Familienmitglieder
Wir bedauern, wenn Bolsonaro den Amazonas, die Lunge der Erde, die Heimstatt aller Indigenas, die seit Jahrtausenden im Einklang mit der Natur leben, durch Brandrodung oder Abholzen zerstört. Aber wir sind dafür verantwortlich, wenn wir deren Hölzer abnehmen und Produkte importieren, mit welchen wir unsere Hühner ernähren, die wir essen, aus welchen wir Bio-Benzin machen und tragen zu dieser Tragödie bei.
Was mich so angerührt hat, war, dass junge Leute angesichts der Klimakrise im Danneröder Wald verstanden haben, dass Bäume, Pflanzen, Trinkwasser und Tiere unsere Familienmitglieder sind und wir dafür verantwortlich sind, sie wie unsere Familie gegen Harvestermaschinen (!), die ihnen und Zehntausenden von Lebewesen das Leben nehmen, zu verteidigen. Harvestermaschinen versiegeln allein durch ihre Schwere den Boden. Die Jugendlichen haben begriffen, dass wir Bäume nicht nach Kosten-Nutzen-Rechnung betrachten dürfen, um den Ast, auf dem wir sitzen, der uns Menschen und Tausende von Tieren durch Trinkwasser, saubere Luft und Glücksstoffe erhält, nicht abzusägen. Wir müssen lernen, im Einklang mit der Natur, nicht gegen die Natur zu leben. Dazu ist es erforderlich, dass wir unsere Lebensgewohnheiten ändern. Das führen die Jugendlichen mit ihren Baumhäusern, die zum Teil Solardächer haben, exemplarisch vor. Zu bewundern ist der Mut, mit dem die Jugendlichen in 27 Meter Höhe diese Baumhäuser gebaut haben, das Geschick, mit dem sie herauf- und herunterklettern, die Offenheit, mit der sie die ihnen helfenden Danneröder Dorfbewohnern zeigten, wie man vegan kocht.
Wie ein Leben auf Utopia, aber mitten unter uns
Hier wird die gesellschaftlich wichtige Nähe gepflegt. Des Nachts wärmen sich die Jugendlichen zu zweit, zu dritt oder zu sechst auf dem Baumhaus, wenn es regnet oder kalt wird. Gemeinsam wird an verschiedenen Stellen im Baum gekocht. Beim Würzen berücksichtigen sie die Vorlieben jedes einzelnen. Jeder kann sich mit seinem Gewürz nachwürzen. Niemand wird zu etwas gezwungen. Alle kooperieren solidarisch: Junge, Ältere und Alte. Jugendliche und Besucher spielen Gitarre im Wald und singen dazu für die Bäume. Niemand klatscht, die einen hören zu, die anderen singen mit. Die einen sägen, die anderen besorgen die Nägel. Die Jugendlichen führen Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch den Wald und bringen ihnen bei, wie diese Bäume existieren können und uns nähren. Sie bringen Jugendlichen, die sonst fast nirgends sinnvolle Betätigungsfelder haben, das gefahrlose Klettern bei, geben ihnen Mut und Selbstvertrauen. Ein Künstler aus Leipzig malte am vorletzten Sonntag Kunst, die im besten Sinne den Begriff der Avantgarde mit humanen Inhalten künstlerisch füllte. Die Zärtlichkeit, mit der die jungen und älteren Menschen den Danneröder und Herrenwald „Danni“ oder „Herri“ abkürzen und überall um ein Verständnis für den Wald werben, ist vorbildlich. Das alles klingt, wie ein Leben auf Utopia, aber es ist noch mitten unter uns. Wer den Danneröder Wald besuchen möchte, findet einen guten Bahnanschluss bis Stadtallendorf und wird dann mit Shuttlebussen am Sonntag hin- und zurückgebracht. Festes Schuhwerk ist nötig, weil es inzwischen regnet und die Wege matschig sind. Im Wald ist es auch noch zwei bis drei Grad kälter, daher möge jeder seine Winterkleidung anziehen.
Zu welchen Werten wollen Eltern ihre Kinder im 21. Jahrhundert erziehen?
Zu Liebe und solidarischer Kooperation untereinander, zu achtsamem, zärtlichem Umgang mit Menschen, Tieren, Gewässern, Erde und Wald, zum Lauschen auf den Wind in den Zweigen, auf die Vögel, auf die Waldtiere, die des Nachts den Wald durchstreifen, zur Erhaltung des Lebens, zum Mut, zum Selbstbewusstsein, zur Fröhlichkeit, zum Glücklichsein, zur Bildung, zur Reinerhaltung und Verteidigung der Natur oder zu juristischem und polizeilichem Durchkämpfen von Wald- und Wasserzerstörung, einer das Austrocknen der Erde fördernden Versiegelung zugunsten der kurzfristigen Geschwindigkeit von lauten, dreckigen 24.000 Autos auf einer neuen Autobahn A49, zur Vernutzung des Planeten in einer Generation oder in ein oder zwei Wahlperioden nach dem Motto „nach mir die Sintflut“, obwohl es keinen Planeten B gibt. Wir haben die Wahl. Aber der Klimawandel lässt uns nicht mehr lange die Wahl. Das Eis der Pole schmilzt derzeit bei 18 Grad Celsius ab (Carola Rackete). Die nächsten Katastrophen (Überflutung, Stürme, sengende Hitze, Austrocknung der Böden infolge von Abholzung, daher Waldbrände) können wir nicht mit Autobahnen abwehren.
*Dr. Ilina Fach ist Kunsthistorikerin in Marburg.