50. Jahrestag der Nelkenrevolution
Ein halbes Jahrhundert ist es nun her, als am 25. April 1974 ein Radiosender in Lissabon zwanzig Minuten nach Mitternacht zwei Lieder abspielen lässt: „E depois do Adeus" (dt. Und nach dem Abschied) von Paulo de Carvalho und kurz darauf dann das verbotene „Grândola, Vila Morena“ des antifaschistischen Musikers José Afonso. Für Eingeweihte enthielt der erste Titel die Botschaft: ‚Macht euch bereit‘. Das zweite Lied über die ‚braungebrannte Stadt Grândola', eine Hochburg des kommunistischen Widerstands, war das geheime Signal zum Aufstand gegen das faschistische Regime von Salazar bzw. seinem Nachfolger Caetano.
Eine linksgerichtete Organisation innerhalb der Armee, das „Movimento das Forças Armadas“ (MFA), wagte in dieser Nacht den Putsch gegen die älteste Diktatur Westeuropas. Alsbald umstellten Soldaten das Regierungsviertel, besetzten den Fernsehsender, nahmen in Militärschulen Kommandeure fest und stürmten die Zentrale der berüchtigten Geheimpolizei. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom beginnenden Umsturz. In den Morgenstunden strömten Hunderttausende auf die Straßen. Es schien, als ginge der Staatsstreich des Militärs über in eine Volksrevolution. Eine unbeschreibliche Euphorie breitete sich aus. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit statt Unterdrückung, Ausbeutung und Verzweiflung. Eine Blumenverkäuferin überreichte einem Soldaten eine rote Nelke. Er steckte sie in seinen Gewehrlauf. Tausende machten es ihm nach. Der Aufstand, der bald das ganze Land erfasste, ging als „Nelkenrevolution“ in die Geschichte ein, und ihre Hymne war „Grândola, Vila Morena“.
Wie kam es zu dieser Allianz von Armee und Zivilbevölkerung? Die Gründe liegen vor allem in Übersee. In den portugiesischen Kolonien Angola, Guinea-Bissau und Mosambik entstanden Unabhängigkeitsbewegungen, die sich gegen die Besatzung und Ausbeutung ihrer Länder wehrten. Portugals Kolonialkriege waren kostspielig, verlustreich und zunehmend aussichtslos. Das Militär war kriegsmüde. Die Ausbeutung der Bodenschätze in den Kolonien machte die heimischen Eliten reich, während die Bevölkerung hungerte. Immer mehr Angehörige der Armee wollten ein Ende der mörderischen Kolonialpolitik. Die Bevölkerung in Portugal indes war verzweifelt, gefangen in den Klauen der Diktatur und hatte nichts mehr zu verlieren. Das Land war bereit für einen politischen Umsturz.
Die Luft Portugals in jenen Wochen und Monaten nach dem April 74 war erfüllt von Hoffnung und Begeisterung. Inspiriert von den weltweiten Studenten- und Befreiungsbewegungen war die Vision eines freien, selbstbestimmten Lebens greifbar. Schnell kam es zu Haus-, Fabrik- und Landbesetzungen, Betriebe wurden vergesellschaftet und Großgrundbesitzer enteignet – ‚das Land denen, die es bearbeiten‘ war die Parole. Arbeiter:innen übernahmen die Betriebe, und auf dem Land entstanden zahlreiche Kooperativen. Auch die Frauen organisierten sich, setzten für sich das Wahlrecht durch, auch das Recht auf Scheidung, und sorgten dafür, dass Krippen und Vorschulen entstanden.
Allgegenwärtig war die Parole von internationaler Solidarität, auch mit der für die Freiheit ihrer Länder kämpfenden Guerilla in den Kolonien. Viele Linke in Europa reisten damals nach Portugal, um den Frühling der Nelken zu schmecken und sich davon zu überzeugen, dass eine Revolution möglich ist.
Wie es weiterging mit der Nelkenrevolution ist in den Geschichtsbüchern nachzulesen. Das Militär bildete eine Übergangsregierung, die freie Wahlen ankündigte. Die politischen Gefangenen wurden frei gelassen, die Zensur aufgehoben, die Unabhängigkeit der Kolonien sollte in die Wege geleitet und Wahlen innerhalb von 12 Monaten durchgeführt werden.
Neuer Staatspräsident der Übergangsregierung wurde Spinola, ein General, der sein Handwerk bei den deutschen Nazis lernte. Was sollte man von ihm erwarten? Sein Ziel war nie eine sozialistische Revolution. Das Volk sollte durch ein paar Zugeständnisse beruhigt werden. Doch mit ein bisschen mehr Freiheit wollten sich die Portugiesen nicht zufrieden geben. Es kam zu Differenzen um die politische Ausrichtung innerhalb des MFA. Machtgeplänkel. Die Kirche mit ihrer antikommunistischen Propaganda trug im streng katholischen Portugal in dieser Zeit des Umbruchs ihren Teil zur Destabilisierung bei. Schließlich musste Spinoza fliehen, der Revolutionsrat des MFA hielt zunächst am Programm der Verstaatlichung von Betrieben und Banken fest. Doch eine gemeinsame Linie zur Neuorganisierung der Gesellschaft fehlte.
Die Wende und letztlich Niederschlagung der Revolution besorgte dann die Intervention von außen: Westeuropäische Staaten boykottierten die portugiesische Wirtschaft, verweigerten dringend benötigte Kredite. Kriegsschiffe der NATO tauchten vor der Küste Portugals auf, um das Gründungsmitglied des Militärbündnisses zur Räson zu rufen. Gleichzeitig warben führende sozialdemokratische Kräfte europäischer Staaten mit viel Kapital für den Aufbau bürgerlicher Parteien. Diese sollten den Portugiesen die basisdemokratischen Flausen austreiben. Man lockte das verarmte Land mit Wirtschaftshilfen und dem Beitritt zur EU. Schließlich siegte der Neoliberalismus mit hinlänglich bekannten Versprechungen einer Zukunft Portugals im Kreis der bürgerlichen „Demokratien“. Nach und nach flossen Kredite vom IWF (Internationaler Währungsfonds), Fabrik- und Landbesitzer kehrten zurück, die Restauration begann, kollektives Wirtschaften war Vergangenheit. Portugal wurde in die kapitalistische Moderne eingehegt.
Was ist außer dem unvergessenen Grândola-Lied geblieben von der Nelkenrevolution? Der langen Geschichte des Widerstands von unten wurde ein neues Kapitel hinzugefügt. Geblieben nach dem kurzen Intermezzo des basisdemokratischen Experiments ist vielleicht die Erkenntnis, dass ein Putsch, der eine Diktatur hinweg fegt, nicht ausreicht, um in einer – eher unvorbereiteten – Gesellschaft eine dauerhafte Revolution durchzusetzen.
Vielleicht erzählen die Zeitzeug:innen der Nelkenrevolution ihren Kindern und Enkeln, wie es sich angefühlt hat, als sie im April vor 50 Jahren mit Nelken auf der Straße waren. Vielleicht können sie der nächsten Generation auch noch erklären, warum sie sich heute wieder Sorgen um Wohnraum und Arbeit machen müssen. Weshalb Rassismus und Sexismus das Leben vergiften, und warum sie die ökologische Verwüstung zuließen, die ihre Zukunft bedroht. Manche dieser jungen Männer und Frauen finden vielleicht Antworten darauf in den Jineolojî-Camps der kurdischen Freiheitsbewegung oder bei den Konferenzen zum Modell einer demokratischen Konföderation. Vielleicht entdecken sie dort den Schlüssel für ein gerechtes und solidarisches Leben und wie man es sich erkämpft; in einer nächsten Revolution und besser vorbereitet …