Hamburger PKK-Prozess: Kenan Ayaz setzt „letztes Wort“ fort

Der wegen PKK-Mitgliedschaft angeklagte Aktivist Kenan Ayaz hat dem OLG Hamburg eine historische Einordnung zum Kurdistan-Konflikt und der politischen und sozialen Unterdrückung der Bevölkerung durch Hegemonialmächte im Nahen Osten gegeben.

Lehrstunde in Geschichte

Im §129b-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Hamburg hat Kenan Ayaz (offiziell Ayas) am Montag sein „letztes Wort“ an das Gericht fortgesetzt. Wie bereits bei den vorherigen Verhandlungssitzungen gab Ayaz dem Strafsenat und der Öffentlichkeit eine historische Einordnung zu dem jahrhundertelangen Konflikt der kurdischen Bevölkerung und deren politischer und sozialer Unterdrückung durch Hegemonialmächte im Nahen Osten. Er eröffnete seine Ausführungen chronologisch anknüpfend an die vorangegangenen Sitzungen mit dem Einfluss der politischen Ereignisse des Ersten Weltkriegs auf Kurdistan.

Geprägt war die jüngste Verhandlung auch von erneuten verbalen Ausfällen der Vorsitzenden Richterin Wende-Spohrs gegenüber den Prozessbeobachter:innen. Sie nahm jede noch so unpassende Gelegenheit zum Anlass, die Öffentlichkeit zu maßregeln. So ermahnte sie die Zuhörenden lautstark mehrfach, weil diese nach einer Unterbrechung, aber noch im Saal in gedämpfter bis normaler Tonlage sprachen.

Erster Weltkrieg und die Teilung Kurdistans

Ayaz berichtete darüber, dass Kurdistan während und nach dem Ersten Weltkrieg große Verluste erlitten hat und in vier Teile geteilt wurde, was zu Konflikten mit anderen Völkern führte, mit denen zuvor friedlich zusammengelebt wurde. Die Beziehungen der Kurd:innen zu anderen Gruppen, wie den Armenier:innen, Assyrer:innen, Brit:innen, Russ:innen und der osmanischen Regierung seien von großer historischer Bedeutung und versprächen wichtige Erkenntnisse.

Die Politik und Rolle der Ittihadisten, der jungtürkischen Bewegung, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte zu einer Maschinerie des Völkermords entwickelte, betonte Ayaz in diesem Kontext hervorgehoben.

Das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (Ittihadisten) hatte bei seiner Gründung eine heterogene Struktur mit Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen, darunter Kurden und Albaner, wandelte sich jedoch ab 1906 in eine rassistische und faschistische Militärstruktur.

Kenan Ayaz, hier beim Prozessauftakt im November 2023, ist einer von zwölf Kurden, die momentan in Deutschland nach §§129a/b StGB in Untersuchungs- oder Strafhaft sind. Er wurde im März 2023 aufgrund eines deutschen Auslieferungsersuchens in der Republik Zypern festgenommen, wo er seit 2013 als anerkannter politischer Flüchtling lebte. In der Türkei war er insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis, seit gut einem Jahr befindet er sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2020 als PKK-Mitglied Gebiete in Deutschland verantwortlich geleitet und personelle, finanzielle und organisatorische Angelegenheiten koordiniert zu haben. Die Bundesanwaltschaft stützt sich dabei auf nicht hinterfragbare Geheimdienstinformationen und einseitig interpretierte SMS und Telefonate. © Mehmet Zeki Ekinci


Historiker unterschieden demnach zwischen zwei Komitees: Das erste, 1889 in Istanbul gegründete, umfasste diverse osmanische Nationen und befürwortete einen Osmanismus unter dem Einfluss Frankreichs, während das zweite, das 1906 in Thessaloniki gegründete und hauptsächlich aus Türken bestehende den Einfluss Deutschlands sowie die Idee des Türkentums propagierte. Die Ittihadisten spalteten sich in zwei Lager: Während die einen für die Rettung des Osmanischen Reiches durch Zusammenarbeit mit den Völkern eintraten, strebten die anderen eine rassistische und nationalistische Unterdrückung im Interesse eines „Mutterlandes“ an.

Geschichte der Vernichtung

Kenan Ayaz erwähnte die zahlreichen Massaker und Vertreibungen, welche in der Phase des späten 20. Jahrhundert in das frühe 21. Jahrhundert während des fortschreitenden Niedergangs des Osmanischen Reiches an den verschiedenen Völkern wie den Assyrer:innen, Tscherkess:innen, Griech:innen und Kurd:innen verübt wurden. Im April 1914 und in den Jahren danach erlitten die Assyrer:innen systematische Massaker durch die Ittihadisten, die am 8. September 1924 ihren Höhepunkt fanden, was zu einer weitgehenden Auslöschung des assyrischen Volkes führte. Die Ittihadisten, die 1908 die Macht übernahmen, festigten ihre Position durch eine Kombination aus Putschen, Verschwörungen und Attentaten, während sie tiefgreifende taktische Maßnahmen zur Erweiterung ihrer Macht ergriffen.

Im Jahr 1912 traten die Ittihadisten von der Macht zurück, als der Balkankrieg begann, und die Opposition übernahm die Regierung. Nach der Niederlage im Balkankrieg und dem Rückzug der Gegner kehrten die Ittihadisten mit einem Staatsstreich am 23. Januar 1913 zurück. Der preußische General Colmar von der Goltz beeinflusste die Ittihadisten mit seinen Ideen zur Modernisierung und Militarisierung des Osmanischen Reiches. Goltz propagierte eine starke, militarisierte Nation und beeinflusste die Bewegung, die eine solche Vorstellung in ihren politischen und militärischen Strategien umsetzten. Führende Ittihadisten betonten die Notwendigkeit einer starken Armee und einer Assimilation der Bevölkerung, was zu einer zunehmend repressiven Politik führte. Sie verfolgten systematisch eine Politik des kulturellen Genozids gegenüber den Kurd:innen, indem sie deren Sprache, Geschichte und Identität zu unterdrücken versuchten. Unter der Führung von Persönlichkeiten wie dem Soziologen Ziya Gökalp, der beauftragt wurde, die kurdische Gesellschaft zu untersuchen, entwickelten sie Pläne zur gezielten Assimilation und Auslöschung kurdischer Identität. Gökalps Bericht diente als Grundlage für die „Östlichen Reformpläne“, die auf eine umfassende Integration der Kurd:innen in die türkische Gesellschaft abzielten.

Kultureller Genozid

Die Ittihadisten propagierten, dass die kurdische Sprache primitiv sei und keinen Platz in der modernen Welt habe. Diese ideologischen Positionen wurden von weiteren Ittihadisten wie Naci İsmail Peliştir unterstützt, der behauptete, die kurdische Sprache sei unvollständig und deren Sprecher:innen nicht als eigenständige Nation anerkennenswert. Zusätzlich wurde versucht, die kurdische Geschichte zu verfälschen und den Kurd:innen jegliche historische Existenz abzusprechen, indem ihre Geschichte als Teil der türkischen dargestellt wurde.

Mit dem Militärputsch von 1913 unter der Führung von Enver Pascha übernahm das Komitee für Einheit und Fortschritt die Kontrolle und setzte diese repressiven Maßnahmen gegen die Kurd:innen und andere Völker des Osmanischen Reiches fort. Diese Politik setzte sich nach dem Sturz von Sultan Abdülhamid II. fort, als die Ittihadisten die bestehenden rechtlichen Grundlagen und das kulturelle Erbe der kurdischen und anderen Minderheiten untergruben.

Vor dem Ersten Weltkrieg leisteten die Kurd:innen zahlreiche Aufstände gegen die Ittihadisten. Von 1912 bis 1914 gab es diverse Aufstände in Dersim, Barzan, Bitlis und Siirt. Gleichzeitig gab es auch arabische Aufstände gegen die Ittihadisten. Mit Kriegsbeginn unterstützten viele Kurd:innen die Osmanen, obwohl der Widerstand gegen die ittihadistischen Kräfte anhielt. Der Krieg und das Sykes-Picot-Abkommen führten zur Zerstörung Kurdistans und gaben es weitgehend den Russen preis. Auch ein deutscher Diplomat schlug vor, die Kurd:innen zur Vernichtung der Armenier:innen zu nutzen.

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Kurd:innen und Armenier:innen in Kurdistan durch gezielte Massaker und Vertreibungen erheblich dezimiert. Russland und Großbritannien trugen zur Eskalation bei, indem sie die Völker gegeneinander aufhetzten und die Zerstörung durch ihre militärischen Aktionen verschärften. Die Osmanen, insbesondere die Ittihadisten, nutzten den Krieg als Vorwand für eine brutale Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die zu massiven Deportationen und vielen Toten führte. Die Kurd:innen litten unter enormer Armut und Hungersnot aufgrund der Kriegsverwüstungen und der Enteignung ihres Besitzes und natürlicher Ressourcen. Die Auswirkungen dieser Politik hinterließen tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Schäden, die bis heute spürbar sind.

Armenien

Sichtlich bewegt thematisiert Ayaz den Völkermord an den Armenier:innen, der Anfang des 20. Jahrhunderts stattfand und eine systematische und grausame Vernichtung des armenischen Volkes war, bei der Millionen Menschen vertrieben, ermordet und ihrer Kultur beraubt wurden. Die osmanische Regierung unter den Jungtürken führte diese Massaker durch, indem sie die Armenier:innen durch gezielte Verfolgung, Zwangsdeportationen und Todesmärsche in die Wüste trieb, wo sie an Hunger, Durst und Krankheit starben. Die grausamen Taten wurden von den Tätern nicht nur ungestraft gelassen, sondern sie wurden für ihre Rolle im Völkermord belohnt, während die Opfer ihrer Güter beraubt und ihre kulturellen Spuren ausgelöscht wurden. Die offizielle türkische Geschichte hat lange Zeit die Realität des Völkermords geleugnet und verzerrt, obwohl die Verbrechen eine der dunkelsten und verheerendsten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte darstellen. Der Völkermord an den Armenier:innen, der von der osmanischen Regierung unter den Jungtürken verübt wurde, wurde auch von kurdischen Feudalherren unterstützt, insbesondere durch die Hamidiye-Regimenter, die zur Zeit des Völkermords gegen die Armenier:innen eingesetzt wurden. Dieser Völkermord fand nicht isoliert statt, sondern war Teil einer längeren Geschichte von Massakern und Unterdrückungen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, als bereits mehrere Massaker an Armenier:innen verübt wurden. Vor und während des Ersten Weltkriegs trugen verschiedene westliche Mächte, insbesondere die Briten, zur Eskalation bei, indem sie Propaganda verbreiteten und die Hamidiye-Regimenter gegen die armenische Bevölkerung aufhetzten. Die Ittihadisten, die sich vor dem Ersten Weltkrieg den Deutschen annäherten, nutzten die Kurd:innen, insbesondere die Hamidiye-Regimenter, um Armenier:innen zu unterdrücken und auszurotten, während sie die kurdische Bevölkerung als Werkzeug ihrer Politik missbrauchten. Der Völkermord führte zu einer tiefen Feindschaft zwischen Armenier:innen und Kurd:innen, verschärft durch die antikurdischen Gewalt der Russen und die gegenseitige Provokation durch verschiedene Mächte im Laufe des Krieges. Zusätzlich zum Völkermord von 1915 wurden bereits 1909 in Adana 30.000 Armenier:innen ermordet, was die brutal konsequente Politik der Ittihadisten verdeutlicht, die auf eine umfassende Türkisierung der nicht-türkischen Ethnien abzielte.

Es ist entscheidend, dass die Welt die historische Realität des armenischen Volkes anerkennt und den betroffenen Nationen ermöglicht, ihren Schmerz zu teilen, während die Türkei, Deutschland und England Verantwortung für ihre Rolle beim Genozid übernehmen.

Die Verantwortung für den Völkermord an den Armenier:innen, Assyrer:innen und Griech:innen wird von den europäischen Hegemonialmächten nicht anerkannt und stattdessen den Türken zugeschoben. Diese historische Ungerechtigkeit setzt sich durch die fortdauernde Gewalt gegen die Kurd:innen fort, was die Notwendigkeit unterstreicht, die Vergangenheit aufzuarbeiten, um eine erfolgreiche Zukunft zu gestalten. Der Sykes-Picot-Vertrag von 1916, der die Region zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland aufteilte, hatte weitreichende Auswirkungen auf den Nahen Osten und Kurdistan, da er die Verwaltung durch diese Mächte festlegte und die kurdische Frage unbeachtet ließ. Die Kairoer Konferenz von 1921 bestätigte, dass die Kurd:innen keinen eigenen Status erhalten würden, während die arabischen Eliten bevorzugt wurden. Nach dem Waffenstillstand von Mudros 1918 begannen die Kurd:innen intensiv nach politischem Status zu suchen, was zu verstärkten politischen Aktivitäten führte. Diese Entwicklungen wurden durch die Ideologie des Nationalstaates verschärft, die auf einer dominanten Ethnie basiert und ethnische Konflikte zwischen Kurd:innen, Türk:innen, Armenier:innen und Assyrer:innen hervorrief.

Kenan Ayaz wird sein Schlusswort am heutigen Dienstag ab 9:30 Uhr am OLG Hamburg (Sievekingplatz 3) fortsetzen.