„Kollateralschaden der deutsch-türkischen Beziehungen“

Im PKK-Prozess in Hamburg hat die Verteidigung von Kenan Ayaz auf die politische Dimension des Verfahrens hingewiesen und auf Freispruch plädiert. Geheimdienstangaben sind naturgemäß mangels Überprüfbarkeit das genaue Gegenteil eines Beweises.

Prozess gegen Kenan Ayaz in Hamburg

Die Hauptverhandlung gegen den kurdischen Politiker Kenan Ayaz vor dem Oberlandesgericht Hamburg neigt sich dem Ende zu. Während die Bundesanwaltschaft viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe fordert, plädierten die drei Verteidiger:innen am Dienstag auf Freispruch. Am 9. Juli wird voraussichtlich eine ausführliche Prozesserklärung des Angeklagten folgen. Das Komitee #FreeKenan ruft zur Teilnahme an der Verhandlung auf.

Kenan Ayaz, hier beim Prozessauftakt im November, ist einer von zwölf Kurden, die momentan in Deutschland nach §§129a/b StGB in Untersuchungs- oder Strafhaft sind. Er wurde im März 2023 aufgrund eines deutschen Auslieferungsersuchens in der Republik Zypern festgenommen, wo er seit 2013 als anerkannter politischer Flüchtling lebte. In der Türkei war er insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis, seit gut einem Jahr befindet er sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2020 als PKK-Mitglied Gebiete in Deutschland verantwortlich geleitet und personelle, finanzielle und organisatorische Angelegenheiten koordiniert zu haben. Die Bundesanwaltschaft stützt sich dabei auf nicht hinterfragbare Geheimdienstinformationen und einseitig interpretierte SMS und Telefonate.


Kuhn: Deutschland schützt ein diktatorisches Regime

Rechtsanwalt Stephan Kuhn griff in seinem Plädoyer zunächst den § 129b StGB an. Es sei offensichtlich, dass man den falschen schütze, nämlich ein diktatorisches Regime. Die Strafe solle andere Kurd:innen abschrecken, sich in bestimmter Form zu betätigen, damit bestimmte Strukturen geschwächt bzw. vernichtet werden. „All dies ist nicht im eigenen deutschen Interesse, sondern vor allem, weil die Bundesregierung sich aus bündnis-, migrations- und außenpolitischen Gründen die Interessen des türkischen Staates zu eigen gemacht hat“, so der Rechtsanwalt.

Kombattantenstatus für PKK-Mitglieder

Die Erteilung der Verfolgungsermächtigung gegen die PKK durch das Bundesjustizministerium brandmarkte der Verteidiger als „objektiv willkürlich“, da sich nicht die PKK, sondern die Politik des türkischen Staates gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung und das friedliche Zusammenleben der Völker richte. Die Türkei sei „ein autokratischer Unrechtsstaat, der im Tatzeitraum und zuvor systematisch folterte, seine eigene Zivilbevölkerung bombardierte, mit islamistischen Terror-Milizen kooperierte und mehrere völkerrechtswidrige Angriffskriege unternahm, der rechtsstaatliche Institutionen und demokratische Teilhabe insgesamt, aber insbesondere zu Lasten der Kurden systematisch zerstörte.“ Es handele sich um einen Staat, der „sich nicht scheute, das Land in einen Bürgerkrieg versinken zu lassen, um sich an der Macht zu halten“. Kuhn forderte, den Kämpfer:innen der PKK müsse ein Kombattantenprivileg zugestanden und die PKK aus dem Anwendungsbereich europarechtskonformen Terrorismusstrafrechts herausgenommen werden.

Geheimdienstangaben sind kein Beweis

Weiterhin prangerte Kuhn an, dass die angeblichen „mitgliedschaftlichen Betätigungshandlungen“ von Kenan Ayaz allein auf Grundlage von Erkenntnissen des Verfassungsschutzes als Beweis erhoben wurden. Geheimdienstangaben seien jedoch naturgemäß mangels Überprüfbarkeit das genaue Gegenteil eines Beweises. „Ich habe allerdings keinerlei Hoffnung, dass Sie, die keinerlei Verständnis für Herrn Ayaz vortäuschen, demgegenüber das einzig Richtige tun, nämlich ihn freizusprechen, hilfsweise das Verfahren durch Prozessurteil nach § 260 Abs. 3 StPO einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben, was ich hiermit allerdings beantrage“, schloss Kuhn.

Behrens: Hätte Russland nicht die Ukraine angegriffen

Rechtsanwältin Antonia von der Behrens erklärte, das Strafverfahren gegen Kenan Ayas folge maßgeblich einer politischen und keiner rechtlichen Logik. Wie schon in der Hauptverhandlung verwies sie auf die im Zuge der NATO-Beitrittsverhandlungen von der Türkei gestellte Forderung, PKK-Mitglieder in Schweden, Finnland, Deutschland und den übrigen NATO-Staaten noch stärker strafrechtlich zu verfolgen. Die deutschen Sicherheitsbehörden würden von dem Erdogan-Regime öffentlich und im diplomatischen Verkehr sowie bei der Sicherheitszusammenarbeit unter Zugzwang gesetzt, immer mehr vermeintliche Anhänger der PKK zu verhaften. Dieser Druck sei besonders effektiv, weil die PKK eine Organisation sei, auf deren Verfolgung sich die Türkei und Deutschland einigen können. Der Haftbefehl stütze sich auf eine dünne Ermittlungsakte mit vermeintlichen Erkenntnisse aus Telekommunikationsüberwachungen, eine Passkontrolle, drei Auskünfte von Geheimdiensten sowie auf zwei Observationen. Alle diese Maßnahmen hätten kaum konkrete Informationen zutage gefördert. Das Verfahren wäre irgendwann eingestellt worden, hätte nicht Russland die Ukraine angegriffen. Nur deshalb sei Kenan Ayaz zum „Kollateralschaden der türkisch-deutschen Beziehungen“ geworden, so von der Behrens.

Europäische Haftbefehle im Interesse deutscher Außenpolitik

Der Export der deutschen Konstruktion zur Verfolgung von Mitgliedern der PKK führe zu einer Konsolidierung der Anti-PKK-Rechtsprechung in Europa. Die Achse Deutschland-Frankreich treibe diese strafrechtliche Verfolgung voran. Es gebe keinerlei erkennbares innenpolitisches Interesse, „warum es Deutschland darauf anlegen sollte, sich aus ganz Europa kurdische Menschen - anerkannte Flüchtlinge, Journalisten, Menschen, die wie Herr Ayaz, die massivste Verfolgung durch die Türkei erlitten haben, - zusammenzuklauben, um sie in Deutschland vor Gericht zu stellen und auf diese Verfahren Staatsschutzressourcen zu verwenden“, sagte Antonia von der Behrens weiter. Es könne somit nur ein außenpolitisches Interesse sein, vermehrt europäische Haftbefehle gegen zu beantragen.

Noch nie in einem PKK-Verfahren erlebt“

Im zweiten Teil ihres Plädoyers kritisierte die Verteidigerin die Art der Hauptverhandlung. Der Senat habe kein erkennbares Interesse an einer vertieften Aufklärung der gegen Kenan Ayaz erhobenen Vorwürfe gezeigt. Die Hauptverhandlung sei von Anfang an auf eine Bestätigung der Anklage ausgerichtet und nicht auf Aufklärung der offenkundig vorhandenen Widersprüche.

Auch erklärte Antonia von der Behrens, sie habe noch nie ein PKK-Verfahren erlebt, in dem die Vorsitzende Richter:in die Öffentlichkeit so sehr angegangen und die Verteidigung derartig erschwert worden sei. So sei die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers abgelehnt worden, obwohl der Generalbundesanwalt mit zwei Personen anwesend ist und das bei diesen Verfahren ansonsten üblich sei. Auch sei die Kommunikation der Verteidigung mit Kenan Ayaz sei durch eine Trennscheibe und aufgrund einer sogenannten Leserichteranordnung erschwert.

Kein Rederecht für Kurden

Kenan Ayaz selbst habe sich nicht erklären können, obwohl dies sein Recht gewesen sei. Dem Angeklagten sei das Wort entzogen worden, als er eine Erklärung zu dem Sachverständigengutachten von Dr. Günter Seufert vortragen wollte: „Für Herrn Ayaz stellt sich der Wortentzug so dar, dass einem Kurden das Wort verboten wird, wenn er über die kurdische Geschichte spricht, und Nichtkurden, wie dem Sachverständigen Seufert, die alleinige Interpretationshoheit über die der kurdische Geschichte gelassen wird“, führte die Verteidigerin aus.

Nichts gegen Kenan Ayaz in der Hand

In einem weiteren Schritt erklärte Antonia von der Behrens ausführlich, dass sich aus Sicht der Verteidigung die Anklage nicht bestätigt habe und es kaum ausreichende Tatsachen gäbe. Allein die Behördenzeugnisse des Bundesamtes und des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, deren Quellen nicht befragt werden konnten, würden nicht ausreichen. Zudem habe die Telekommunikationsüberwachung keine Tätigkeiten ergeben, die „typisch für PKK-Kader, wie Spendensammeln bzw. die Sammlungen überwachen, auf Webseiten zum Nachrichtenaustausch schauen, Berichte schreiben oder Anweisungen von niederländischen Nummern erhalten“ seien.

Unverständliche und unverhältnismäßige Strafforderung

Am Ende ihres Plädoyers ordnete die Verteidigerin die Strafforderung des Generalbundesanwalts politisch ein. Das geforderte Strafmaß von vier Jahren und sechs Monaten sei für eine Person wie Kenan Ayaz, der massiver Verfolgung ausgesetzt gewesen sei, der viele Jahre und mehrfach unschuldig in der Türkei inhaftiert war, dem keine einzige Gewalttat vorgeworfen werde und der nicht vorbestraft sei, völlig unverständlich und selbst bei Unterstellung des Anklagevorwurfes völlig unverhältnismäßig. Solch eine hohe Strafforderung, die viel höher als verhängte Urteile in vergleichbaren Verfahren sei, lasse sich nur politisch erklären. Es solle der Türkei wohl augenscheinlich auch durch diesen hohen Strafantrag des Generalbundesanwalts die unnachgiebige Verfolgung von Kurden in Deutschland bewiesen werden.

Was Europa den Kurd:innen zu verdanken hat

Antonia von der Behrens schloss ihr Plädoyer mit den Worten von Kenan Ayaz, die er am ersten Hauptverhandlungstag gesagt hatte: „Dass die Menschen in Großeuropa bequem spazieren gehen und ihren Alltag leben können, verdanken sie insbesondere auch den Kurden, die sie als Terroristen bezeichnen. Hätten sich die Kurdinnen und Kurden nicht dem IS-Faschismus entgegengestellt und den Islamischen Staat liquidiert, würde der IS heute unter der Führung von Erdoğan den Mittleren Osten erobern, die Welt unbewohnbar machen und in ein Blutbad verwandeln. Die Gefahr ist gleichwohl noch nicht gebannt.“

Efstathiou: Dem Leben von Kenan Ayaz gerecht werden

Der zyprische Anwalt Efstathios C. Efstathiou thematisierte die gemeinsame Erfahrung von Kurd:innen und Zyprer:innen mit Gewalt und Besatzung durch die Türkei und erklärte zur Verfolgungsgeschichte von Kenan Ayaz:

„Wir konnten sehen, dass Kenan Ayaz viel zu früh lernen musste, dass pro-kurdische Gesinnung in der Türkei gnadenlos verfolgt wird und dass alle, die sich politisch engagieren, was nach türkischen Maßstäben sogar legal ist, dem sehr realen Risiko von Folter, Misshandlung und Inhaftierung ausgesetzt ist. In einem Alter, in dem für andere junge Erwachsene das Leben beginnt, wurde er Zeuge der Folterung seines 13-jährigen Bruders und erlebte selbst Folter. Er wurde zu einer Zeit inhaftiert, in der andere ihr Leben aufbauen, studieren, einen Beruf erlernen und eine Familie gründen. Im Gefängnis hat er immer wieder die grausamen Methoden gesehen und gehört, mit denen der türkische Staat einfache Kurdinnen und Kurden und die kurdische Bewegung verfolgt. Er war Zeuge, wie der türkische Staat versuchte, die Hoffnungen des kurdischen Volkes auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben mit gleichen Rechten zu zerstören. Er war auch Zeuge, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Hoffnung und Solidarität gibt und dass die kurdische Bewegung nicht von jemandem wie Esat Okay Yildiran, dem Direktor des berüchtigten Militärgefängnisses von Diyarbakir, der seine Grausamkeiten während der türkischen Invasion auf Zypern gelernt hatte, zum Schweigen gebracht werden konnte. Auch wenn diese Worte dem Leben von Kenan Ayaz nicht gerecht werden, hoffe ich, dass sie Sie an seine Biografie erinnert haben, in der er über so viel mehr als nur Verfolgung schrieb. Er schrieb über das Lernen, das Bewusstsein und die Hoffnungen des kurdischen Volkes in der Zeit der Friedensgespräche.“

Warum Menschen in Zypern den kurdischen Kampf nicht als Terrorismus ansehen

Efstathiou warf dem Gericht und der Staatsanwaltschaft vor, „die Ausübung grundlegender Menschenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit als terroristische Handlungen zu deklarieren“. Die deutsche Art und Weise könne die Zyprer:innen jedoch nicht überzeugen:

„Wenn man jede Handlung eines angeblichen PKK-Mitglieds als Terrorismus bezeichnet, was macht man dann mit echtem Terrorismus, dessen Ziel es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten, und warum bezeichnet man die grausamen und rechtswidrigen Handlungen des türkischen Militärs nicht als Terror? Außerdem überzeugt diese deutsche Sichtweise die Menschen in Zypern nicht, denn sie sehen den kurdischen Kampf als bewaffneten Konflikt, als Kampf der Unterdrückten gegen das unterdrückerische türkische Regime.“

Auch Nelson Mandela oder Che Guevara hätten einst als Terroristen gegolten. „All diese Versuche, den freien Menschen zum Schweigen zu bringen, sind angesichts der Wahrheit zusammengebrochen. Ich bin sicher, dass es auch in diesem Verfahren der Fall sein wird. Die willkürliche Konstruktion von Kenan Ayaz als Terrorist wird der Geschichte nicht standhalten“, so Efstathiou.

Weitere Verhandlungstermine

Weitere anberaumte Termine sind am 9.7., 11.7., 17.7., 22.7. 29.7. und 19.8. Der Prozess findet im 1. Stock des OLG Hamburg am Sievekingplatz 3 statt, entweder in Saal 237 oder 288. Die Verhandlungen beginnen in der Regel um 9:30 Uhr.

Postadresse und Spendenkonto

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamens „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spendenkonto:
Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203