Anne Souyris zur Causa Öcalan und Kurdistan
Die französische Senatorin Anne Souyris (EELV) fordert Sanktionen gegen das Erdogan-Regime. Die Grünen-Politikerin und ehemalige Pariser Bürgermeisterin ist eine von über sechzig Persönlichkeiten aus der französischen Politik und Zivilgesellschaft, die im Juni in einem offenen Brief an das europäische Antifolterkomitee (CPT) zur Überprüfung der Haftbedingungen von Abdullah Öcalan aufgerufen haben. Zu dem PKK-Begründer und seinen drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş im türkischen Inselgefängnis Imrali gibt es seit dreieinhalb Jahren keinen Kontakt mehr.
Anne Souyris im Gespräch mit ANF-Korrespondent Serkan Demirel
Anne Souyris erklärte gegenüber ANF, dass die Isolation der Imrali-Gefangenen rechtswidrig sei und sofort aufgehoben werden müsse. „Diese Isolation ist definitiv eine Form der Folter“, sagte die Senatorin. Das Komitee zur Verhütung von Folter (CPT), eine Einrichtung des Europarates, sei in dem offenen Brief aufgefordert worden, Abdullah Öcalan „im Gefängnis zu besuchen, seinen Gesundheitszustand und seine Haftbedingungen zu überprüfen und sich zu vergewissern, dass seine Grundrechte respektiert werden. Das Ziel war auch, Druck auszuüben, damit Herr Öcalan normalen und demokratischen Zugang zu seinen Anwältinnen und Anwälten erhält“.
„Wir wissen nicht einmal, ob Öcalan noch lebt“
Die Türkei sei nach wie vor Beitrittskandidatin zur EU und der Umgang mit Öcalan ein bezeichnendes Signal für den Zustand der Demokratie in dem Land, so Anne Souyris weiter: „Haftanstalten sind Orte, an denen die Grundrechte geachtet und durch Recht und Demokratie geschützt werden müssen. Wenn wir nichts von Herrn Öcalan hören, können wir sehen, dass seine Rechte nicht geachtet werden. Wir wissen nicht, ob sein Gesundheitszustand gut oder schlecht ist, wir wissen nicht einmal, ob er lebt oder nicht, denn niemand hört von ihm, nicht einmal seine Familie. Das ist entwürdigend und völlig inakzeptabel. Deshalb müssen wir unbedingt herausfinden, was hier vor sich geht. Außerdem weiß ich, dass sich drei andere Gefangene in einer ähnlichen Situation befinden wie er. Das darf nicht passieren. Diese Isolation ist etwas, das wir überwachen und international bekämpfen müssen. Wir müssen Druck auf die Türkei ausüben, damit sie das beendet.“
Erdogan braucht Europa
Mit Blick auf den Krieg in Kurdistan sagte Senatorin Souyris, dass Europa politischen Mut brauche, um die Türkei zu stoppen. Europa halte sich hinsichtlich der Situation von Abdullah Öcalan und der Unterdrückung von Kurdinnen und Kurden bedeckt. Es seien „geopolitische Bedenken und Interessen, die die europäischen Institutionen zum Schweigen gebracht haben“. Erdogan unterhalte gute Beziehungen zu Frankreich und Europa, daher wolle niemand militärischen Druck ausüben. „Aber Wirtschaftssanktionen sind möglich. Man kann Wirtschaftssanktionen verhängen, ohne militärische Maßnahmen zu ergreifen, aber im Moment traut sich niemand, das zu tun. Ich will damit sagen, dass wir die Mittel dazu haben. Herr Erdogan braucht Europa, er braucht unsere Unterstützung, und wir können sie an Bedingungen knüpfen. Europa hat die Mittel, um Druck auszuüben. Dann müssen wir es auch tun.“
Europa kann zu einer Lösung beitragen
Die kurdische Frage könne nur über einen Dialog und Verhandlungen gelöst werden, und Öcalan habe sich dafür bereit erklärt, betonte Anne Souyris: „Es ist nicht hinnehmbar, dass die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei weiterhin verweigert werden, wie es heute der Fall ist. Es gibt keinen Dialog, um das Problem zu lösen, und das ist inakzeptabel. Irgendwann muss die Frage des Völkerrechts und des Selbstbestimmungsrechts der Völker in allen Ländern anerkannt werden. Leider ist das in der Türkei nicht der Fall. Wichtig ist, dass wir zu einem Dialog kommen. Ob unter dem Namen der PKK oder in anderer Form, das Wichtigste ist, dass man sich an den Verhandlungstisch setzt. Vielleicht könnte Europa eine Rolle bei der Erleichterung dieses Dialogs spielen, anstatt passiv zu bleiben, wie es jetzt der Fall ist. Europa könnte auch dafür sorgen, dass der Ausschuss zur Verhütung von Folter Herrn Öcalan besucht, bestimmte Maßnahmen empfiehlt und bestätigt, dass seine Grundrechte und die der anderen Gefangenen geachtet werden. Das könnte der Beginn eines neuen Dialogs mit Herrn Öcalan und anderen kurdischen Akteuren sein. Europa schützt die Grundrechte und kann, wie im Fall von Abdullah Öcalan, sogar als dritte Partei auftreten. Das Europäische Parlament könnte Entschließungen zur Entsendung von Delegationen zu Treffen mit Herrn Erdogan verabschieden und, falls sich nichts ändert, Sanktionen in Erwägung ziehen.“
Hintergrund: Abdullah Öcalan und die Kurdistan-Frage
Abdullah Öcalan führte von der Gründung der PKK 1978 bis zu seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenias Hauptstadt Nairobi auf die türkische Gefängnisinsel Imrali am 15. Februar 1999 den kurdischen Befreiungskampf an. Er gilt nach wie vor als führender Stratege und wichtigster politischer Repräsentant der kurdischen Freiheitsbewegung. Seine in Isolationshaft verfassten Gefängnisschriften, in denen er den Paradigmenwechsel der PKK von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer radikaldemokratischen, multiethnischen und politisch offenen Basisbewegung für den gesamten Nahen und Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete, haben seit 1999 weltweit große Beachtung gefunden. Mehrfach initiierte Öcalan einseitige Waffenstillstände der Guerilla und lieferte konstruktive Vorschläge für eine demokratische und politische Lösung der kurdischen Frage. Der letzte Dialog staatlicher Stellen mit ihm wurde 2015 einseitig von der türkischen Regierung beendet. Seitdem befindet sich Öcalan in nahezu vollständiger Isolation. Schon seit 2011 verwehrt die Regierung seinem Verteidigungsteam einen regelmäßigen und geordneten Zugang auf Imrali. Der letzte Anwaltsbesuch fand 2019 statt. Nach einem kurzen und aus unbekannten Gründen unterbrochenen Telefonat mit seinem Bruder Mehmet Öcalan am 25. März 2021 gab es keinen Kontakt mehr zu Abdullah Öcalan.