Prozesserklärung von Kenan Ayaz: Ich bin kein Terrorist

Der in Hamburg als PKK-Mitglied angeklagte Kurde Kenan Ayaz fragt in seiner Schlusserklärung, warum Deutschland sich nicht für eine Lösung des Kurdistan-Konflikts einsetzt. Der Staatsschutzsenat spricht von einer Herabwürdigung des Gerichts.

PKK-Prozess in Hamburg

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist der Prozess gegen Kenan Ayaz wegen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) fortgesetzt worden. An den letzten beiden Verhandlungsterminen konnte der Angeklagte nicht mit seinem „letzten Wort“ beginnen, da die Vorsitzende Richterin Wende-Spohrs die Sitzung vertagt hatte. Heute nun konnte der kurdische Aktivist und Politiker den Anfang seiner Prozesserklärung verlesen, nachdem das Gericht die Beweisaufnahme geschlossen hatte. Erwartungsgemäß verlief auch der heutige Verhandlungstag nicht ohne Unterbrechungen.

Die Taktik der Richterin, die Verhandlung so lange zu vertagen, bis keine Zuhörer:innen mehr kommen, war nicht aufgegangen. Erneut war der Saal gut gefüllt, etwa 25 Menschen wollten die Prozesserklärung von Kenan Ayaz hören. Auch der zyprische Anwalt Efstathios C. Efstathiou und ein weiterer zyprischer Prozessbeobachter waren vor Ort.

Ayaz: „Der Kampf um Existenz und Freiheit ist kein Terrorismus“

„Die Anklageschrift verschleiert geschickt die völkermörderische Mentalität, die der völkermordende türkische Staat seit Jahrhunderten gegenüber den Kurdinnen und Kurden und anderen Völkern anwendet. Die Anklageschrift blendet die systematischen terroristischen Angriffe des türkischen Staates auf die kurdische Existenz aus und behandelt das Problem lediglich als eine einfache Verletzung der Menschenrechte. Die Anklageschrift wertet den kurdischen Kampf um Existenz und Freiheit sowie den legitimen Verteidigungswiderstand gegen diesen Völkermord als Terrorismus“, begann Kenan Ayaz seine Erklärung. Er zeigte auf, wie unsinnig es sei, Konflikte mit militärischen Mitteln lösen zu wollen. „Es ist möglich, Kriege und politische Feindschaften, die großes Leid und Zerstörung verursachen, zu verhindern und Probleme ohne Blutvergießen zu lösen, wenn man ein entwickeltes Recht hat“, so Ayaz.

Die Hauptaufgabe des Rechts bestehe nicht darin, den Staat vor dem Bürger zu schützen und zu stärken, sondern im Gegenteil, den Bürger vor der Macht des Staates zu schützen, indem es ihn mit starken Grundrechten ausstatte. Nicht der Staat sei schutzbedürftig, sondern das Individuum, der Bürger.

Es sei skandalös, die Ungerechtigkeiten gegen die Existenz der Kurdinnen und Kurden nur als begrenzte Menschenrechtsverletzungen zu betrachten. Sie seien als Volk und kulturelle Einheit vom Gesetz ausgeschlossen. Europa verstoße gegen seine eigenen Konventionen. Eine grundlegende Quelle des römischen Rechts, das auch die Grundlage des europäischen Rechts bilde, sei die Achtung der rechtlichen Existenz von Völkern. „Das europäische Recht des 21. Jahrhunderts kann nicht rückständiger sein als das römische Recht vor 2500 Jahren“, fuhr Ayaz fort. Die EU müsse die kurdische Frage als Hauptproblem der Türkei auf ihre Tagesordnung setzen, um sie im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu lösen. Bisher habe die EU mit zweierlei Maß gemessen und aus politischen Gründen darauf verzichtet, ihr eigenes Recht in dieser Frage anzuwenden.

Erste Unterbrechung durch die Richterin

Im Folgenden ging Kenan Ayaz auf die kurdische Geschichte ein. Von den ersten Funden in der südkurdischen Shanidar-Höhle über die matriarchalen Kulturen des Mesolithikum mit ihrer Verehrung der Muttergöttinnen über das Neolithikum im fruchtbaren Halbmond spann er einen Bogen, um darzustellen, dass die Geschichte der Vorfahren der Kurden und Kurdinnen eine Grundlage für nachfolgende Zivilisationen geschaffen habe.

„Diese Geografie weist einen entscheidenden Unterschied zu anderen Regionen der Welt auf. Aufgrund dieser Besonderheit haben sich in diesen Gebieten Werte und Kenntnisse entwickelt, die das kulturelle Gedächtnis der Menschheit prägen“, sagte Ayaz zur Bedeutung der Region für die Geschichte der Menschheit.

Nach eine kurzen Pause unterbrach die Richterin die Erklärung des Angeklagten und behauptete, Kenan Ayaz würde zu weit ausholen, was eine „rechtsmissbräuchliche Nutzung des letzten Wortes bedeuten könnte“.

Kenan Ayaz antwortete, indem er von seiner vorbereiteten Rede abwich und sich frei äußerte. Er könne die kurdische Frage nur auf der Basis der historischen Ereignisse erklären. „Ich behaupte, die Kurden sind keine Terroristen, sie haben einen großen Beitrag zur Zivilisation geleistet. Ein Volk, dass so viel zur Zivilisation beigetragen hat, darf nicht so behandelt werden“, fuhr er sichtlich erregt fort.

Warum müssen die Kurden ihre Existenz beweisen?“

Es gebe viele Völker, die großes Leid erlitten hätten, aber nur die Kurdinnen und Kurden müssten ihre Existenz beweisen. Ein Volk von 40 Millionen habe keinen Status. Obwohl die Kurden 50 Jahre lang gekämpft hätten, müssten sie immer noch beweisen, dass sie keine Terroristen seien. Die Rechte vieler Völker seien im Befreiungskampf anerkannt worden, wie etwa die der Bosnier, der Kosovaren oder der Mazedonier, aber die der Kurden seien immer noch nicht anerkannt. Im Gegenteil, im 21. Jahrhundert seien Tausende kurdische Frauen auf Sklavenmärkten verkauft worden. Wenn sich das kurdische Volk wehre, nenne man sie Terroristen. Selbst im Römischen Reich habe man die Rechte der Völker akzeptiert, die Kurden jedoch werfe man den Löwen zum Fraß vor.

„Ich bin kein Terrorist“, sagte Ayaz. Erdogan sei der größte Terrorist des 21. Jahrhunderts. Gemeinsam mit dem IS habe er den Nahen Osten in ein Blutbad getaucht. Er müsste vor Gericht stehen. „Aber auf sein Verlangen prozessieren Sie gegen mich. Ich bin gezwungen, diesen historischen Zusammenhang herzustellen. Ich behaupte, die EU hat eine Doppelmoral, was die Kurden angeht“, fuhr Ayaz fort. Erdogan brüste sich damit, dass er 35.000 Menschen getötet habe. „Ich habe niemandem etwas zuleide getan, niemanden beleidigt, sie aber rollen Erdogan einen roten Teppich aus“, sagte Ayaz. Erdogan ermorde Kinder, schicke Müttern die Knochen ihrer Kinder mit der Post und wenn sich die Mütter beschwerten, landeten auch sie vor Gericht.

In Rojava im Nordosten Syriens, wo fünf Millionen Menschen sich selbst zu verwalten versuchten, hätten die Menschen endlich durchatmen können, aber Erdogan bombardiere die Region vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Historische Ungerechtigkeit gegenüber den Kurden

Erneut kritisierte Ayaz, dass ihm vom Gericht das Wort entzogen wurde, als er den Analysen des Sachverständigen Günter Seufert etwas entgegen setzen wollte. Die Geschichte werde verurteilen, dass die Kurdinnen und Kurden zu Terroristen deklariert werden. Es gebe nichts, was den Kurden nicht angetan worden wäre, sie ertränken im Meer wie Alan Kurdî, sie erfrören im Winter an den Grenzen, Mütter warteten auf ihre Kinder vor Gefängnissen und Leichenhallen.

Kenan Ayaz spannte den Bogen zur Geschichte und sagte, die kurdische Sprache sei eine Protosprache, Landwirtschaft und Tierzucht seien in dieser Geographie entstanden und die Kurd:innen kämpften für ihre Rechte wie Mütter für ihre Kinder. Sie seien ein Volk so alt wie die Erde selbst, aber wenn man heute Kurdistan sage, werde man getötet oder lande im Gefängnis. Ayaz erklärte an weiteren Beispielen wie den Massakern von Zîlan oder Dersim die historische Ungerechtigkeit gegenüber den Kurdinnen und Kurden.

Deutschland habe den Genozid an der ezidischen Gemeinschaft in Şengal anerkannt, aber was der IS nicht zu Ende gebracht habe, setze Erdogan nun fort. Er habe Waffen an den IS geliefert und IS-Kämpfer ausgebildet. Vor den Anschlägen von Belgien habe Erdogan Europa gedroht und gesagt: „Was macht ihr, wenn bei euch Bomben explodieren?“ Kurz danach sei es zu den Attentaten gekommen.

Warum Deutschland sich nicht dafür einsetze, den Kurdistan-Konflikt zu lösen, fragte Ayaz und wandte sich direkt an den Staatsschutzsenat: „Ich bin seit 30 Jahren immer wieder vor Gericht, um Rechte zu erlangen, die Sie von Geburt an haben.“

Sie haben die Möglichkeit einzugreifen“

Die Türkei habe sogar ein EM-Spiel zu einer faschistischen Veranstaltung gemacht. Unter der Parole „Diesmal gewinnen wir“, sei beim Spiel gegen Österreich ein Bezug zur osmanischen Belagerung von Wien 1529 hergestellt worden.

In Kurdistan habe die Türkei 4000 Dörfer verbrannt. 20.000 Menschen seien durch den JITEM ermordet worden. „Warum zündet ein Staat 4000 Dörfer an? Warum bombardiert ein Staat Städte, wie Nisêbîn, Cizîr oder Gever?“ fragte Ayaz das Gericht.

Die Türkei verübe einen Genozid, aber der Konflikt werde nicht gelöst. Mit dem Verbot kurdischer Organisationen solle verhindert werden, dass die Kurd:innen die Weltöffentlichkeit erreichten. „Wir werden massakriert, auf Sklavenmärkten verkauft, in Käfigen verbrannt, aber Sie machen nicht den Tätern den Prozess, sondern denen, die sich dagegen auflehnen.“ Das Gericht habe die Möglichkeit einzugreifen, wenn es sagen würde, bei der kurdischen Frage handle es sich um einen politischen Konflikt, appellierte Ayaz.

Die gesamte frei gehaltene Rede von Kenan Ayaz war für die Dolmetscherin sehr schwer zu übersetzen, da sie schnell und sehr emotional vorgetragen wurde. Dass dieser emotionale Appell mit einer Vielzahl von Beispielen der Ungerechtigkeit gegenüber dem kurdischen Volk das Gericht nicht erreichte, zeigte sich nach einer kurzen Pause.

Mangelnde Empathie des Gerichtes

Wende-Spohrs zeigte sich keineswegs betroffen von den Schilderungen der Grausamkeiten gegenüber den Kurd:innen, sondern bezeichnete die Rede von Kenan Ayaz als Herabwürdigung des Gerichts. Denn er habe gesagt, das Gericht habe keine Empathie und sei „zwangsgesteuert“.

Eine weitere Stunde verging damit zu klären, ob Ayaz das Wort „zwangsgesteuert“ benutzt habe oder nicht. Obwohl die Dolmetscherin erklärte, Kenan Ayaz habe das Wort nicht benutzt, sie habe es aber vielleicht fälschlich übersetzt, bestand Wende-Spohrs darauf, der Angeklagte habe das Gericht versucht herabzuwürdigen.

Nach einer weiteren Pause konnte Kenan Ayaz fortfahren. „Ich spreche über Massaker, die wir erlebt haben. Wenn Sie dafür keine Empathie haben, macht es wohl keinen Sinn, dass ich weitermache“, kommentierte er.

Dennoch fuhr er mit seiner ursprünglichen Rede fort und führte die Bedeutung des Beitrags der neolithischen Revolution im fruchtbaren Halbmond aus. Im Weiteren ging Ayaz auf die Rolle Europas bei der Unterwerfung der Kurd:innen ein. Durch die Intervention Großbritanniens im 19. Jahrhundert sei das Osmanische Reich, das einen föderativen Charakter und somit autonome kurdische Fürstentümer beinhaltete, unter Druck geraten. In Kurdistan begann somit ein Jahrhundert der Aufstände und des Widerstandes.

An dieser Stelle wurde Ayaz erneut unterbrochen und die Richterin vertagte den Prozess auf Montag, den 22. Juli, um 9:30 Uhr.

Fortsetzung am Montag

Das letzte Wort von Kenan Ayaz könnte noch mehrere Tage andauern. Weitere anberaumte Termine sind am 29. Juli um 13 Uhr und am 19. August um 9:30 Uhr. Der Prozess findet im 1. Stock des OLG Hamburg am Sievekingplatz 3 statt, entweder in Saal 237 oder 288.

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamens „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spendenkonto:
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Stichwort: Free Kenan
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Foto: Prozessauftakt im November 2023