„Ziel der türkischen Siedlungspolitik ist die Annexion der besetzten Gebiete“

Die Türkei will mit der Ansiedlung von einer Million Geflüchteten in der Besatzungszone in Nordsyrien demografische Fakten schaffen. Nîhad Ehmed vom Leitungsrat der Euphrat-Region bezeichnet diesen Plan als tickende Zeitbombe.

Der türkische Staat hat bis 2016 hauptsächlich über islamistische Gruppierungen wie FSA („Freie Syrische Armee“, al-Nusra und IS („Islamischer Staat“) in Syrien und Rojava interveniert. Dann änderte er seine Politik und begann mit der direkten Besatzung syrischen Territoriums. Im Moment hält er weite Gebiete in Idlib, Efrîn, Dscharablus, Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) besetzt und verfolgt eine demografische Veränderung durch die Zerstörung der bestehenden ethnischen, kulturellen und religiösen Bevölkerungsstruktur.

In der Türkei findet seit geraumer Zeit eine hetzerische Debatte über die aus Syrien geflüchteten Menschen statt. Staatschef Erdogan hat angekündigt, eine Million Flüchtlinge zurück nach Syrien zu schicken. Der türkische Staat plant, diese Menschen in seiner Besatzungszone in Nordsyrien anzusiedeln und somit die demografische Struktur dauerhaft zu verändern.

Wie aus syrischem Gebiet die türkische Provinz Hatay wurde

Nîhad Ehmed ist Mitglied des Leitungsrats der Euphrat-Region und hat sich in Kobanê gegenüber ANF zu der türkischen Siedlungspolitik geäußert. Seiner Meinung nach entspricht die aktuelle türkische Politik in Nord- und Ostsyrien der Übernahme der Sandschak Alexandrette, einer von 1918 bis 1938 bestehenden Verwaltungseinheit im französischen Mandatsgebiet Syrien und Libanon. Im September 1938 wurde aus dem Sandschak Alexandrette der Staat Hatay gegründet, ein Übergangskonstrukt, das bis zum 29. Juni 1939 bestand. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde dieser Staat Hatay am 23. Juli 1939 von Frankreich der Türkei überlassen, um diese zur Neutralität während des Krieges zu bewegen. Heute ist Hatay eine Provinz in der Türkei.

Dieselbe Politik verfolgt der türkische Staat heute in seiner Besatzungszone in Nordsyrien, sagt Ehmed: „Der Zweck dieser Politik ist die komplette Annexion der besetzten Gebiete.“ Bei den zur Rückführung vorgesehenen Syrerinnen und Syrer handele es sich um Menschen, die nicht aus dieser Region stammten. Dieser Plan könne gefährliche Auswirkungen haben, warnt Ehmed:

„Der türkische Staat greift seit einem Jahrhundert überall dort an, wo sich ein Vorteil für das kurdische Volk ergibt, wo es stärker wird oder wo ein kurdischer Status entsteht. Er macht seine eigene Existenz von der Verleugnung und Vernichtung der Kurdinnen und Kurden abhängig. Als sich die Krise in Syrien auf alle Gebiete ausweitete, waren die Kurden für die Türkei das größte Problem. Daher unterstützte der türkische Staat dschihadistische Gruppen mit wechselnden Namen und ließ sie die Kurden angreifen. Das geht bis heute so weiter.“

Siedlungsbau in Efrîn

Nîhad Ehmed erinnert an die von Erdogan angekündigte Rückkehr von einer Million Menschen nach Syrien und sagt: „Hier stellt sich die Frage, wer diese Personen sind und wohin sie geschickt werden. Diese Frage ist sehr wichtig. Bereits jetzt findet eine gezielte Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den von der Türkei besetzten Gebieten statt. Was in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî passiert, ist allgemein bekannt.“

Vor allem in Efrîn habe die demografische Veränderung große Ausmaße. In dem besetzten Kanton seien Tausende Unterkünfte errichtet worden, in denen Menschen aus Idlib und vielen weiteren Städten Syriens untergebracht werden. „Die ursprünglichen Bewohner wurden durch die Angriffe und unmenschliche Maßnahmen vertrieben und die Personen, die jetzt angesiedelt werden sollen, kommen nicht von ihr, ihnen gehört dieses Land nicht.“

Ehmed ist der Auffassung, dass nach zehn Jahren Krieg eine Lösung der politischen Probleme in Syrien die Voraussetzung für eine Rückkehr der Geflüchteten ist. „Auch die wirtschaftliche Lage muss verbessert werden, damit die Menschen überhaupt ein Auskommen haben. Der dritte Punkt ist, dass alle Geflüchteten an ihre Herkunftsorte zurückkehren sollten. Erdogan setzt die Rückführung der Flüchtlinge als Pluspunkt für die Wahlen in der Türkei auf die Agenda. Damit einhergehend will er die demografische Struktur in Nordsyrien grundlegend verändern.“

Tickende Zeitbombe

Nîhad Ehmed verweist darauf, dass die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien etliche Male an internationale Einrichtungen appelliert hat, das türkische Vorgehen zu kritisieren und zu stoppen. Er warnt: „Diese Politik des türkischen Staates wird sehr gefährliche Konsequenzen haben. Die Ansiedlung von einer Million ortsfremder Menschen wäre eine tickende Zeitbombe, eine dauerhafte Gefahr für die Stabilität und Sicherheit der Region. Das muss von internationalen Institutionen und der Öffentlichkeit ernst genommen werden, der türkische Staat muss endlich gestoppt werden.“