Am 19. Juli 2012 hat die Revolution von Rojava begonnen. Civaka Azad e.V., das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, nimmt das Jubiläum zum Anlass, mit Artikeln und Interviews auf die Entwicklungen und Errungenschaften dieser Dekade zurückzublicken.
Wie hat alles begonnen? Welche Etappen wurden auf dem Weg zum zehnten Jahrestag genommen? Und welche Gefahr stellt die Türkei für die Revolution dar? Über diese und weitere Fragen sprach Civaka Azad mit Berivan Khaled, der Ko-Vorsitzenden der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien.
Die Rojava-Revolution ist mittlerweile zehn Jahre alt. Aber diese Revolution hat auch eine Vorgeschichte. Kannst du uns berichten, welche geschichtlichen Faktoren diese Revolution möglich gemacht haben?
Das stimmt, wir schreiten dem 10. Jahrestag der Revolution entgegen. Diese Revolution hat am 19. Juli 2012 in Rojava ihren Anfang genommen. Sie hat sich natürlich nicht von alleine ereignet. Es gab eine Grundlage, es gab Vorarbeiten. Über Jahrzehnte hinweg wurden die Völker Nord- und Ostsyriens unterdrückt. Sie waren einem autoritären Regime ausgesetzt, dem Baath-Regime. Die kurdische Bevölkerung Rojavas, aber nicht nur sie, war von Repressionen, Verfolgung und Massakern betroffen. Das ging so weit, dass sogar die kurdische Kultur verboten und verfolgt worden ist. Das Regime hat die Menschen in dieser Region brutal verfolgt, eingesperrt und in den Gefängnissen gefoltert. Die kurdische Bevölkerung hat dem allerdings nie tatenlos zugesehen. Sie hat sich organisiert, zur Wehr gesetzt und vielfach auch den Aufstand geprobt. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist sicherlich der Aufstand von 2004, der von Qamişlo ausging. Das Regime hat auch auf diesen Aufstand mit äußerster Brutalität reagiert. Ihre Antwort war blutige Gewalt, unzählige Menschen wurden ermordet und festgenommen. Viele Menschen sind in Gefängnisanstalten des Regimes „verschwunden“. Seit 2004 ist das Schicksal vieler Menschen, die damals verhaftet worden waren, unklar. Doch auch diese Brutalität des Regimes konnte den Willen der Bevölkerung Rojavas nicht zerschlagen. Die Menschen haben sich weiterhin organisiert und damit die Basis für die Revolution von 2012 geschaffen. Als es dann in Nordafrika und im Mittleren Osten zum Frühling der Völker kam, haben die Menschen in Rojava das als historische Möglichkeit für sich gesehen und Stück für Stück die Regimekräfte aus ihrer Heimatregion vertrieben. Sie haben Rojava befreit und die staatlichen Institutionen hinausgedrängt. Damit einhergehend haben sich langsam aber stetig eigene gesellschaftliche Strukturen aufgebaut. In diesen Strukturen haben alle Völker Rojavas, also die Kurd:innen, die Araber:innen, die Suryoye und alle anderen Gemeinschaften ihren Platz eingenommen. Am 21. Januar 2014 haben sie schließlich ihre Autonome Selbstverwaltung ausgerufen. Sie haben gemeinsam einen Gesellschaftsvertrag unterzeichnet und ihre Selbstverwaltung der Öffentlichkeit verkündet. Zunächst wurde die Selbstverwaltung im Kanton Cizîre ausgerufen. Am 27. Januar folgte die Deklaration im Kanton Kobanê und zwei Tage später dann im Kanton Efrîn. Alle gemeinsam haben auf Grundlage des Konzepts der Demokratischen Nation und der Geschwisterlichkeit der Völker die autonome Selbstverwaltung verkündet, den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet und anschließend ihre Strukturen weiter aufgebaut.
Nach der Befreiung der drei Kantone bestimmte der Kampf gegen den IS die Tagesordnung. Schritt für Schritt wurden weitere Gebiete vom IS befreit. Kannst du uns erzählen, wie es dazu kam?
Mit der Ausrufung der Autonomieverwaltung in den drei Kantonen haben junge Frauen und Männer auch bewaffnete Selbstverteidigungsstrukturen aufgebaut. Ziel dieser Strukturen war es, einerseits die Kantone vor feindlichen Angriffen zu schützen, andererseits weitere Gebiete unter der Herrschaft des Regimes und anderer Akteure zu befreien. In dieser Phase hat auch der sogenannte Islamische Staat (IS) begonnen, Rojava anzugreifen. Ab 2014 hat der IS dem Kanton Kobanê den Krieg erklärt. 2015 ist es den jungen Menschen Nord- und Ostsyriens unter dem Dach der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) gelungen, den IS in Kobanê zu besiegen. Und nach diesem Sieg haben die Selbstverteidigungseinheiten die Verantwortung übernommen, weitere Gebiete, die unter Joch des IS standen, zu befreien. Sie haben zunächst Minbic befreit und dort eine zivile Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut. Anschließend haben sie die Regionen Tabqa, Raqqa und zum Schluss Deir ez-Zor befreit. Auch in diesen Gebieten wurden nach der Befreiung mit der Lokalbevölkerung autonome Selbstverwaltungen errichtet. Auf diese Weise wurden schließlich in insgesamt sieben Regionen Selbstverwaltungen aufgebaut, die gemeinsam die Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens darstellen. Diese gemeinsame Selbstverwaltung wurde am 6. September 2018 offiziell verkündet.
Nach der Befreiung der Gebiete vom IS hat sich die Türkei militärisch in Nordsyrien eingeschaltet. Wie ist es dazu gekommen? Und was war die Reaktion der internationalen Mächte, die in Teilen ja im Kampf gegen den IS auf der Seite der kurdischen Kräfte standen?
Nach der Befreiung von Kobanê durch die YPJ und YPG wurden die Demokratischen Kräfte Syriens (arab. Quwwāt Sūriyā ad-dīmuqrāṭīya, kurz QSD) gegründet. Unter dem Dach der QSD haben sich verschiedene ethnische Gruppen militärisch organisiert. Auch die YPJ und YPG nahmen ihren Platz in den Reihen der QSD ein. Und die Befreiung der vorhin genannten Gebiete, also Minbic, Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor, erfolgte eben durch dieses Bündnis der QSD, die der Brutalität des IS ein Ende bereiten wollten. Doch nach dem militärischen Erfolg gegen den IS sahen wir uns plötzlich mit der Aggression des türkischen Staates konfrontiert. Die Türkei konnte es nicht ertragen, dass direkt südlich ihrer Staatsgrenze ein demokratisches politisches System geschaffen wurde, das auf der Grundlage der Demokratischen Nation und der Geschwisterlichkeit der Völker beruht. Das war nicht im Sinne des AKP-Regimes. Aus diesem Grund hat die Türkei Rojava eigentlich schon seit Anbeginn der Revolution mit verschiedenen Mitteln angegriffen. 2018 ist es dann leider dazu gekommen, dass die Türkei selbst militärisch in Efrîn einmarschiert ist und die Region besetzt hat. Die internationale Staatengemeinschaft hat die Türkei gewähren lassen und ihre Augen vor den Grausamkeiten und den Verbrechen des türkischen Staates in Efrîn verschlossen. Die Türkei, aber auch ihre internationalen Partner:innen, wollten das Selbstverwaltungsmodell dort auslöschen. Trotz der militärischen Überlegenheit der Türkei und der ununterbrochenen Luftangriffe haben die jungen Menschen aus Efrîn über 58 Tage hinweg einen beispiellosen Widerstand geleistet. Doch auch weil die internationalen Akteure die Türkei gewähren ließen, wurde Efrîn schließlich besetzt. Nach der Besatzung von Efrîn hat der türkische Staat seine Angriffe gegen die Bevölkerung Rojavas nicht eingestellt. So kam es 2019 zu einer weiteren Militäroffensive der Türkei in den Gebieten Girê Spî und Serêkaniyê. Auch diese Gebiete stehen bis heute unter der Besatzung der Türkei und ihrer islamistischen Partner. Tagtäglich kommt es in diesen besetzten Gebieten zu weiteren Menschenrechtsverletzungen, Entführungen und Vertreibungen. Doch die internationale Öffentlichkeit verschließt bis heute die Augen davor. Und die Drohungen und Angriffe des türkischen Staates gegen das Selbstverwaltungssystem von Nord- und Ostsyrien haben kein Ende gefunden. Die Angriffe dauern auch heute weiterhin an.
Warum haben die internationalen Akteure die Angriffe der Türkei geduldet? Welche Absicht verfolgen sie damit? Und wie geht die Bevölkerung Nord- und Ostsyriens damit um?
Ihr müsst verstehen, dass die autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien verschiedensten Angriffen ausgesetzt ist. Während auf der einen Seite der IS sich im direkten Krieg mit den Kräften der Selbstverwaltung in Kobanê befand, hat die Türkei mit verschiedenen Mitteln versucht, die Gegner unseres Systems zu unterstützen. Wir mussten uns also zeitgleich dem IS und der Türkei entgegenstellen. Und auch wenn die Türkei am aggressivsten gegen die Selbstverwaltung vorgeht, so haben doch auch andere regionale Mächte ebenso wie internationale Akteure ein Interesse daran, dass das System, das wir hier im Zuge der Revolution Stück für Stück aufgebaut haben, scheitert. Doch all diese Versuche, all die Kriege und Angriffe konnten die Selbstverwaltung nicht in die Knie zwingen. Der Grund ist, dass die Menschen Nord- und Ostsyriens hinter diesem Gesellschaftsmodell stehen. Die Menschen verteidigen die Errungenschaften der Revolution. Mehr als 12.000 Menschen haben im Kampf für die Verteidigung dieser Errungenschaften mittlerweile ihr Leben gelassen. Mehr als 24.000 Menschen wurden seit 2012 in militärischen Auseinandersetzungen verletzt. Es ist ihr Verdienst, dass wir trotz aller Angriffe heute noch hier stehen können. Der Zusammenhalt der Menschen in Nord- und Ostsyrien ist stark und wird immer stärker. Alle Volks- und Religionsgemeinschaften sind von diesem Modell überzeugt und deshalb auch bereit, es gegen Angriffe zu verteidigen.
Du bist bereits auf die islamistischen Gruppierungen eingegangen, die gegen die Revolution gekämpft haben. Was ist die Absicht dieser Gruppen? Weshalb wollen sie das Selbstverwaltungssystem bekämpfen?
Die verschiedenen islamistischen Gruppierungen, sei es der IS, die Al-Nusra-Front oder wer auch immer, sie alle verfolgen das Ziel, die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien zu zerschlagen. Doch ihre Versuche sind bislang alle gescheitert. Denn die Bevölkerung hier hat sich im Sinne der Demokratischen Nation organisiert und sie verfügt über ein starkes politisches Bewusstsein. Die islamistischen Kräfte hingegen, allen voran der IS, haben viel Grausamkeit in diese Region gebracht. Die hier lebenden Menschen haben viel Leid erfahren. Die Islamisten haben geradezu einen schwarzen Schleier über die Gebiete, die unter ihrer Kontrolle standen, gelegt. Doch heute gibt es auch in diesen Gebieten dank des Kampfes und der Opfer der QSD ein demokratisches und gleichberechtigtes System.
Der Kampf um Kobanê war mit Sicherheit ein Wendepunkt der Revolution. Was hat sich nach der Befreiung von Kobanê für euch geändert?
Die Befreiung Kobanês war selbstverständlich eine Zäsur. Zum ersten Mal wurde der IS militärisch besiegt. Das hat vielen Menschen, die in den Herrschaftsgebieten des IS lebten, große Hoffnung gegeben. Diese Menschen waren vielleicht zuvor auch nicht mit der Gewaltherrschaft des IS einverstanden, trauten sich jedoch nicht, dagegen aufzubegehren. Nach dem Sieg in Kobanê kamen viele von ihnen unter dem Dach der QSD zusammen und befreiten ihre Heimatgebiete. Das hat auch den Grundstein für die Solidarität und den gemeinsamen Kampf der Völker Nord- und Ostsyriens gelegt. Dieser Zusammenhalt hat in Kobanê seinen Anfang genommen.
Mittlerweile hat sich die Revolution von Rojava auf weite Gebiete in Nord- und Ostsyrien ausgebreitet. Es leben verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften in diesen Gebieten. Wie funktioniert heute das Zusammenleben?
Diese Revolution ist zweifellos keine rein kurdische Revolution. Klar, die Kurdinnen und Kurden haben eine Vorreiterrolle bei der Revolution gespielt, insbesondere die kurdischen Frauen haben die Avantgarde gestellt. Doch heute sind es alle Völker und alle Religionsgemeinschaften dieser Region, die das System der Autonomen Selbstverwaltung weiter ausbauen und gegen feindliche Angriffe verteidigen. Es ist bekannt, dass ganz Syrien und insbesondere der Norden Syriens ein Mosaik der ethnischen und religiösen Gemeinschaften darstellt. Was wir nun hier verwirklichen wollen, ist ein Gesellschaftsmodell, in dem dieses Mosaik seiner selbst in der bestmöglichen Form gerecht werden kann. Es soll ein gleichberechtigtes und friedliches Leben aufgebaut werden, in welchem die Menschen in ihrer Vielfalt zugleich eine gemeinsame Kraft darstellen. Der Gesellschaftsvertrag von Nord- und Ostsyrien ist auf dieser Grundlage entstanden und von den Vertreter:innen aller Gruppen unterzeichnet worden. Und heute leben all diese Gemeinschaften auf Grundlage der Demokratischen Nation und der Geschwisterlichkeit der Völker friedlich und demokratisch beisammen.