Am 12. März 2004 wurden bei vom syrischen Baath-Regime organisierten Auseinandersetzungen nach einem Fußballspiel in Qamişlo 32 Kurden getötet. Nach diesem Massaker brach ein Aufstand aus, der ganz Rojava erfasste und sich sogar bis Aleppo und Damaskus ausbreitete. Der „Serhildan von Qamişlo“ gilt als erster Massenaufstand in Rojava und fiel in eine Zeit, in der Saddam Hussein im Irak gestürzt wurde und gemeinsame Kabinettssitzungen der Türkei und Syriens stattfanden.
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien bezeichnet den Aufstand vom 12. März 2004 als den „Samen für die Revolution von Rojava“. In einer Erklärung aus Anlass des Jahrestags hält die Autonomieverwaltung fest, dass hinter dem damaligen Massaker die chauvinistische Staatsmentalität der Regierung in Damaskus stand. Damals wie heute versuche das Regime, Feindschaft und Ausgrenzung zwischen den Bevölkerungsgruppen in Syrien zu schüren: „Die Regierung basiert auf der Idee eines einseitigen Systems gegen die Demokratie. Weil Spaltung zum eigenen Machterhalt zu ihren grundlegenden Wesenszügen gehört, soll eine Einheit der Völker verhindert werden. Diese Haltung hat dazu geführt, dass der IS, die Al-Nusra-Front und weitere vom türkischen Staat geförderte Gruppen aufgetaucht sind und ein Hindernis für eine Lösung in Syrien darstellen.
Die Revolution in Nord- und Ostsyrien und die Selbstverwaltung basieren auf einem demokratischen System, das alle Völker vereint. Durch die Revolution ist eine gesellschaftliche Einheit entstanden, die die Hoffnung aller Bevölkerungsgruppen in der Region repräsentiert. Das Projekt einer demokratischen Nation ist die beste Antwort auf das Massaker von 2004 und alle weiteren Versuche, den Willen den Menschen zu brechen.
Das Modell der Autonomieverwaltung muss nicht auf Nord- und Ostsyrien beschränkt bleiben. Es ist ein Modell, das überall umgesetzt werden kann. Insofern stellt es einen historisch bedeutsamen Schritt dar, um die wahren Beziehungen zwischen den Völkern gegen die Spaltungsversuche des zentralistischen und nationalistischen Staates zum Vorschein zu bringen. Basierend auf der Geschwisterlichkeit der Völker, ihrer Vielfalt und dem Aufbau einer politisch-ethischen Gesellschaft kann es die zerstörten Hoffnungen in der Gesellschaft wiederbeleben.
Damit in ganz Syrien Frieden und Stabilität einkehren können, setzen wir uns für eine demokratische Autonomie in Nordostsyrien ein. Unser Beharren auf einer demokratischen Lösung und einem Dialog sowie unser konsequenter Kampf gegen den Terrorismus sind darauf angelegt, Syrien gegen jede Form des Angriffs zu stärken, die Gesamtheit des Landes zu schützen und eine Einheit der Völker herzustellen. Auf dieser Grundlage rufen wir die syrische Regierung und die demokratische Öffentlichkeit dazu auf, sich für einen demokratischen Wandel einzusetzen.
Wir gedenken den Gefallenen des Aufstands von Qamişlo. Der Serhildan vom 12. März 2004 war der Samen für unsere Revolution vom 19. Juli 2012. Wir geben den Gefallenen und der Bevölkerung von Nordostsyrien unser Wort, dass wir diesen Weg fortsetzen und uns weiterhin dafür einsetzen werden, die Region zu schützen, den Terror zu besiegen und Efrîn und alle weiteren vom türkischen Staat und seinen Banden besetzten Gebiete zu befreien.“
Hintergrund: Der Aufstand von Qamişlo
Am 12. März 2004 brach in Qamişlo ein Aufstand aus, der schnell auf ganz Rojava übergriff. An diesem Tag sollte in der Stadt im Nordosten von Syrien eigentlich ein Fußballspiel zwischen der kurdischen Mannschaft Jihad und der arabischen Mannschaft Fatwa aus Deir ez-Zor stattfinden. Doch es sollte ein blutiges Massaker folgen, das vom syrischen Geheimdienst gezielt geplant und initiiert worden war.
Schon im Vorfeld der Partie kam es zu Provokationen seitens arabisch-nationalistischer Fans, die anti-kurdische und pro-Saddam Parolen skandierten, ohne dass die Polizei eingriff. Beim Betreten des Fußballstadion wurden die Fans von Jihad dann auf Waffen durchsucht, nicht aber die Fans von Fatwa. Im Fußballstation selbst fuhren die Fans aus Deir ez-Zor fort, Parolen wie „Lang lebe Saddam Hussein” und „Wir geben unser Blut für Saddam Hussein” zu rufen und die Kurden als „Verräter” zu beschimpfen. Darüber hinaus wurden Bilder von Saddam Hussein gezeigt. Die Kurden reagierten mit „Lang lebe Kurdistan”.
Als die Stimmung kippte und es schließlich zu Ausschreitungen kam, griffen die Sicherheitskräfte des Regimes gemeinsam mit den arabischen Fans die Kurden im Stadion an. Die Anhänger von Fatwa hatten Steine und Eisenketten mitgebracht, versteckt in ihren Teekannen. Die Bilanz des ersten Angriffs: Vier Tote und zahlreiche Verletzte. Die Ausschreitungen weiteten sich schließlich auf die gesamte Stadt aus. Denn trotz der am Abend in Qamişlo verhängten Ausgangssperre gingen zehntausende Kurden auf die Straße, syrische Fahnen wurden verbrannt, mehrere Statuen des verstorbenen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad zerstört. Die Sicherheitszentrale der Polizei, das Gebäude des syrischen Geheimdienstes sowie der Sitz des Landrates wurden in Brand gesetzt. Bei diesen Demonstrationen wurden mindestens 30 weitere kurdische Zivilist:innen getötet, mehr als 1000 wurden verletzt und mehr als 2500 verhaftet.
Unter den Soldaten des Regimes, die mit scharfer Munition in die Menschenmenge schossen, war auch der damalige Gouverneur von Hesekê. Damaskus verbreitete die Theorie, es habe sich um eine „spontane Aktion“ der arabischen Fans gehandelt. Dagegen sprach Einiges, unter anderem die massive Bewaffnung der arabischen Fans sowie das Vorhandensein von Saddam-Bildern. Auch die ab Ende 2002 angesichts des sich abzeichnenden Regimewechsels im Irak aufkommenden kurdischen Proteste – beispielsweise eine Demonstration vor dem syrischen Parlament in Damaskus im Dezember 2002 und eine große Aktion am 25. Juni 2003 vor dem Hauptgebäude von UNICEF ebenfalls in Damaskus – sprechen für die Annahme, dass es sich bei dem Massaker von Qamişlo um eine gezielte Provokation des syrischen Geheimdienstes respektive der Baathpartei gehandelt hat.