Das zehnjährige Jubiläum der Revolution von Rojava nähert sich. Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad e.V. nimmt dies zum Anlass, mit einer Artikel- und Interviewreihe auf die Entwicklungen und Errungenschaften dieser Dekade zurückzublicken. Im ersten Beitrag werden schlaglichtartig die wichtigsten Ereignisse der letzten zehn Jahre in Rojava in Erinnerung gerufen und ein Eindruck davon gegeben, wie Civaka Azad diese ereignisreiche Zeitspanne miterlebt hat.
Es ist der 20. Juli 2012…
Plötzlich erreicht uns in unserem kleinen Büro in Frankfurt am Main eine ebenso bemerkenswerte wie überraschende Nachricht. In Kobanê, im Norden Syriens, hat die Bevölkerung das Militär und die Beamtenschaft des Baath-Regimes aus der Stadt herausgedrängt und die Selbstverwaltung ausgerufen. Wir, das Team von Civaka Azad – dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, sitzen zusammen und grübeln, was diese Meldung wohl bedeutet. In den nächsten Tagen passierte dasselbe in weiteren Städten Nordsyriens. Wir telefonieren mit kurdischen Journalist:innen, die in die Region gereist sind, um über die unerwarteten Ereignisse zu berichten. So langsam wird uns die Tragweite des Ganzen bewusst. In Westkurdistan, im Kurdischen als „Rojava“ bezeichnet, ereignet sich eine Revolution! Das hatten wir nun wirklich nicht auf dem Schirm. Sicher, in Syrien war ein Bürgerkrieg ausgebrochen und irgendwie mussten sich die kurdischen Akteur:innen in dieser unübersichtlichen Gemengelage positionieren. Aber eine Revolution?! Bis zu jenen Ereignissen in Kobanê, Efrîn und weiteren Städten Rojavas hatten tatsächlich die wenigsten Menschen diesen Teil Kurdistans vor ihren Augen. In Südkurdistan (Nordirak) war nach viel Blutvergießen mit internationaler Unterstützung eine kurdische Autonomie etabliert worden, in Nordkurdistan (Südosttürkei) führte die kurdische Freiheitsbewegung seit 1984 einen bewaffneten Kampf und selbst in Ostkurdistan (Nordwestiran) gab es mit Unterbrechungen immer wieder einen Guerillawiderstand gegen das Regime in Teheran. Doch aus Rojava gelangten bis dato immer nur sehr bruchstückhaft Informationen über den Widerstand gegen die Staatsmacht in Damaskus an die Öffentlichkeit. Wir wussten natürlich, dass auch hier die Kurd:innen unterdrückt, kurdische Aktivist:innen verfolgt, die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und umgesiedelt wurden. Unzählige Kurd:innen lebten dort ohne Staatsbürgerschaft und somit ohne elementare Bürger:innenrechte und nicht wenige, die sich gegen diese Ungerechtigkeit wehrten, landeten in den Folterkellern des Regimes oder wurden verschwunden gelassen. 2004 kam es dann kurzzeitig zu einem landesweiten Aufstand, als sich nach einem Fußballspiel in Qamişlo die Wut der Bevölkerung über das Regime entlud. Doch erst viel später sollten wir erfahren, dass dieser Aufstand der eigentliche Ausgangspunkt der späteren Revolution von Rojava war. Nach der Niederschlagung des Aufstands durch das Regime im Jahr 2004 begann die Bevölkerung nämlich damit, sich klandestin zu organisieren und ihre politischen Strukturen aufzubauen.
Der Aufbau des Demokratischen Konföderalismus in Rojava
Die Revolution hatte also begonnen …
Damit begann nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern auch für uns als Civaka Azad eine äußerst intensive und spannende Zeit. Wir versuchten zu verstehen, was in Rojava vor sich ging. Wer waren die politischen Akteur:innen vor Ort? Welche Ziele verfolgten sie? Es entstanden so viele Organisationen und Strukturen, dass wir schnell die Übersicht verloren. Wir bauten also Kontakte in die Region auf und sprachen mit Journalist:innen und Aktivist:innen. Wir studierten geradezu jeden Artikel, der in kurdischer oder türkischer Sprache zur Revolution in Rojava erschien. Wir beschäftigten uns auch intensiv mit der Geschichte Rojavas, denn niemand aus unserem Zentrum stammt aus diesem Teil Kurdistans und ehrlicherweise müssen wir selbstkritisch eingestehen, dass auch unser Fokus bis dato eher auf den anderen kurdischen Regionen lag. Irgendwann hatten wir uns einen groben Überblick geschaffen. Wir hatten bereits die ersten Texte über Rojava geschrieben oder übersetzt und sie auf unserer Homepage veröffentlicht. Nun konnten wir auch die ersten Fragen der Presse beantworten, die von uns wissen wollte, welche Ziele die Kurd:innen im Bürgerkrieg von Syrien verfolgten und weshalb sie nicht auf der Seite der „syrischen Opposition“ kämpften.
Rojava war geradezu ein Türöffner für den kurdischen Freiheitskampf. Denn hier wurde in der Praxis gezeigt, welches Gesellschaftsmodell die kurdische Freiheitsbewegung anstrebt. Bislang gab es den Demokratischen Konföderalismus weitgehend nur in der Theorie. Doch in Rojava wurde diese Idee, welche Abdullah Öcalan in seinen Verteidigungsschriften formuliert hatte, mit Leben gefüllt. Aus der Gesellschaft heraus entstanden Rätestrukturen, die sich in Form von Kommunen organisierten. Zudem schlossen sich die Menschen in verschiedensten zivilgesellschaftlichen Strukturen zusammen. Frauen organisierten sich autonom, ebenso wie die Jugendlichen und die Mitglieder religiöser Minderheiten. Und all das schien zu funktionieren. Denn nach der Revolution und dem damit einhergehenden Ende der staatlichen Hoheit über Rojava gelang es der Gesellschaft, sich selbst zu verwalten. Das öffentliche Leben war nicht zusammengebrochen. Im Gegenteil, die Menschen konnten ihre Grundversorgung sicherstellen. Es taten sich Freiheitsräume auf und es entwickelten sich demokratisch kontrollierte gesellschaftliche Strukturen. Der Demokratische Konföderalismus konnte trotz widriger Umstände den Praxistest bestehen und entfaltete so langsam sein Potential. In Rojava wurde unter Beweis gestellt, dass die Gesellschaft keinen Staat benötigt, um ihren Alltag zu bewerkstelligen.
Kobanê als Wendepunkt
Die erfolgreichen Aufbauarbeiten im Zuge der Rojava-Revolution mussten früher oder später auch die Feinde der Kurd:innen auf den Plan rufen. Insbesondere der Türkei war jede Errungenschaft der kurdischen Bevölkerung ein Dorn im Auge. Anfangs griff der türkische Staat nicht selbst in das Kriegsgeschehen ein, sondern versuchte verschiedene Akteure gegen das Selbstverwaltungssystem von Rojava aufzustacheln. Eine der Gruppen, die darauf eingingen, war der berüchtigte „Islamische Staat“ (IS). Der IS nutzte die Türkei als sicheren Hafen und unzählige seiner Kämpfer reisten über die Türkei in Syrien und in den Irak ein. In Städten wie Istanbul und Dîlok (tr. Antep) hatte der IS eine Organisationsbasis aufgebaut. Im Irak überrannten die Dschihadisten dann die irakische Armee und nahmen im Sommer 2014 die erdölreiche Metropole Mossul ein. Anschließend kam es im August 2014 zum Angriff auf Şengal, wo ein Genozid an der ezidischen Bevölkerung verübt wurde, nachdem die Peschmerga-Einheiten der Demokratischen Partei Kurdistan (PDK) sich aus der Region zurückzogen und die Bevölkerung schutzlos zurückgelassen hatten. Schätzungen nach fielen etwa 10.000 Menschen diesem Genozid zum Opfer. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden vom IS entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Es waren Kämpfer:innen der PKK-Guerilla, aber auch Einheiten der Selbstverteidigungskräfte aus Rojava, die ein noch größeres Ausmaß des Genozids verhinderten, indem sie sich dem IS entgegenstellten und einen Fluchtkorridor für die Menschen freikämpften.
Hier trafen erstmals die Volksverteidigungseinheiten der YPG und die Frauenverteidigungseinheiten der YPJ auf den IS. Kurz darauf sollten sie sich abermals dem IS entgegenstellen, und zwar in Kobanê. Die Schlacht um Kobanê war ein Wendepunkt der Rojava-Revolution. Die kurdischen Einheiten waren bis zum bitteren Ende bereit, ihre Stadt gegen die Islamisten zu verteidigen. Die waffentechnisch deutlich überlegenen IS‘ler konnten bei ihrem Großangriff auf die Unterstützung der Türkei setzen. Mehrmals griffen sie die Stadt von deren Staatsgebiet aus an, ihre verletzten Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern versorgt und auch Waffen und weitere logistische Unterstützung fanden über die Türkei ihren Weg nach Kobanê. Die internationale Staatengemeinschaft beobachtete zunächst reglos diesen Angriff. Auf den Straßen aber war das Gegenteil der Fall. In Nordkurdistan kam es im Oktober 2014 geradezu zu einem Volksaufstand. Bei Straßenschlachten mit türkischen Sicherheitskräften kamen mehr als 30 Menschen ums Leben. Auch überall auf der Welt, von Europa, über Lateinamerika bis nach Afghanistan und Indien gingen die Menschen auf die Straßen und zeigten ihre Solidarität mit den Verteidiger:innen von Kobanê. Nun konnten auch die Staaten nicht mehr schweigen. Die internationale Koalition gegen den IS hätte bei weiterer Zurückhaltung mit einem schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen. Sie waren also gezwungen, einzugreifen, denn andernfalls hätte der IS, dessen Terror unlängst auch die Metropolen Europas erreicht hatte, zu einer unkalkulierbaren Gefahr werden können. Die einzigen Kräfte im Mittleren Osten, die sich entschieden gegen den IS stellten, waren zu jenem Zeitpunkt die Verteidigungseinheiten Rojavas. So kam es also zu einer unerwarteten militärischen Allianz. Mit der Luftunterstützung der Anti-IS-Koalition gelang es den Einheiten der YPG und YPJ den IS in Kobanê niederzuringen. Es war die erste militärische Niederlage des IS und der Anfang seines Endes. Anschließend gelang es den kurdischen Einheiten in einer Koalition mit arabischen Kräften, die sich unter dem Dach der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) zusammenfanden, den IS immer weiter zurückzudrängen, bis das Kalifat im Januar 2019 schlussendlich vollständig zerschlagen wurde. Der Preis für den militärischen Erfolg über den IS war hoch. Rund 11.000 Kämpfer:innen der YPG, YPJ und QSD verloren hierbei ihr Leben. Weitere 21.000 Menschen wurden verletzt, von denen 5.000 dauerhaft kriegsgeschädigt sind. Doch der Sieg über den IS sollte nicht der letzte Kampf um die Verteidigung von Rojava sein.
Die Angriffe des IS auf Şengal und Kobanê waren für die kurdische Bevölkerung weltweit eine sehr intensive und schwierige Zeit. Viele Menschen konnten nicht mehr schlafen. Immer wieder informierten sie sich über die aktuellen Geschehnisse – und die Nachrichten waren oftmals traumatisch. Doch die Kurd:innen und die mit ihnen solidarischen Menschen wichen nicht von den Straßen. Bei uns im Büro wurde zu dieser Zeit praktisch 24 Stunden am Tag gearbeitet. Wir waren im Schichtdienst tätig, übersetzten Nachrichten, telefonierten mit Rojava und beantworteten Presseanfragen. Es war mit Abstand die intensivste Zeit in der kurzen Geschichte unseres Öffentlichkeitsarbeitszentrums. Das Telefon klingelte permanent und wir waren ständig damit beschäftigt, die neuesten Entwicklungen nach außen zu tragen. Als der Sieg über den IS in Kobanê errungen war, fiel eine große Last von unseren Schultern. Doch wir konnten den militärischen Erfolg nicht wirklich feiern. Zu viele Menschen waren gestorben, zu viel Leid hatte die Bevölkerung erfahren. Die Revolution von Rojava hatte allerdings überlebt und das gab uns Hoffnung und Kraft.
Die türkischen Angriffe und neue Bedrohungen
In Ankara war man hingegen keineswegs glücklich über die Niederlage des IS. Das türkische Militär schritt ab 2016 selbst in das Geschehen in Nordsyrien und Rojava ein. 2018 wurde Efrîn besetzt und 2019 ereilte die Region zwischen Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniye (Ras al-Ain) dasselbe Schicksal. Gemeinsam mit ihren islamistischen Partnern etablierte die Türkei ein Terrorregime in den besetzten Gebieten. Schon wieder erreichten uns grausame Nachrichten von Flucht, Mord und Vertreibung. Diese Angriffe haben bis heute nicht nachgelassen. Im Gegenteil, täglich werden die Gebiete der Selbstverwaltung bombardiert und mit Drohnen angegriffen. Es sterben weiterhin Menschen, während die internationale Staatengemeinschaft tatenlos zuschaut. Diejenigen Kräfte, die den IS unter Inkaufnahme von so vielen Opfern besiegt haben, werden seit Jahren vom NATO-Staat Türkei bekämpft und angegriffen. Als Efrîn besetzt wurde, rollten Panzer aus deutscher Produktion mit der türkischen Armee und ihren islamistischen Partnern in die Stadt ein. Auch die Kampfdrohnen, mit denen die Türkei Nord- und Ostsyrien terrorisiert, verfügen über deutsche Militärtechnologie. Die Bundesregierung macht sich dadurch mitverantwortlich für die Kriegsverbrechen der Türkei. Und auch bei den aktuellen Kriegsdrohungen der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien herrscht in Berlin ausschließlich ohrenbetäubendes Schweigen.
Der Krieg in Rojava und ganz Nord- und Ostsyrien ist auch nach dem Ende des IS also zu keinem Zeitpunkt abgekühlt – das mediale Interesse in Deutschland hingegen schon. Wir sind weiterhin darum bemüht, die Ereignisse aus der Region an die Öffentlichkeit zu tragen. Doch oft haben wir das Gefühl, dass wir auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Klar, mit der Corona-Pandemie und dem Ukrainekrieg dominieren mittlerweile andere Themen das öffentliche Interesse. Allerdings wirkt die Ignoranz gegenüber der Aggression der Türkei und den von ihr begangenen Kriegsverbrechen in Rojava sehr beklemmend. Noch fataler als die geringe mediale Resonanz ist die Zurückhaltung auf der politischen Ebene. Das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft kann in diesem Fall nur als Zustimmung für die Kriegshandlungen der Türkei in Rojava gedeutet werden. Das nehmen nicht nur wir so wahr, sondern unlängst auch die Menschen in Nord- und Ostsyrien.
Zehn Jahre Rojava-Revolution – ein Zwischenfazit
Doch es gibt auch Lichtblicke. Die Revolution von Rojava wird bald zehn Jahre alt. Und trotz des ununterbrochenen Krieges in dieser Zeit haben die Menschen zu keinem Zeitpunkt den Aufbau ihrer Revolution vernachlässigt. Was mit drei geographisch voneinander losgelösten Kantonen 2012 in Rojava seinen Anfang genommen hat, ist heute zu einem multiethnischen und basisdemokratischen Gesellschaftsmodell herangewachsen, das auf den Prinzipien der Frauenbefreiung und des ökologischen Bewusstseins beruht. Die Revolution schreitet voran und gibt weiterhin allen Menschen auf der Welt, die auf der Suche nach einem alternativen Gesellschaftsmodell sind, Hoffnung.
Die Verteidigung dieser Revolution ist deshalb heute mehr denn je eine globale und internationalistische Aufgabe. Die Rolle der internationalen Solidarität bei der Befreiung von Kobanê ist zu einem Symbol des gelebten Internationalismus geworden und wird ihren Platz in den Geschichtsbüchern einnehmen. Unzählige Internationalist:innen sind nach Rojava gereist und haben vor Ort die Revolution miterlebt und mitgestaltet. Viele haben bei der Verteidigung der Revolution ihr Leben gelassen. Sie sind nicht nur in Rojava unvergessen.
Wir werden in den nächsten Wochen mit verschiedenen Artikeln die unterschiedlichen Facetten der Revolution von Rojava näher beleuchten. Wir sind davon überzeugt, dass die Erfahrungen, die in Rojava gesammelt wurden und weiterhin gesammelt werden, zu einer Inspirationsquelle für viele Menschen und Bewegungen auf der ganzen Welt geworden sind, die für eine bessere und gerechtere Welt kämpfen. In diesem Sinne möchten wir uns allen zum zehnjährigen Jubiläum der Rojava-Revolution gratulieren!