Verhandlungen über „Sicherheitszone“ und Widerstand
Die Türkei versucht mit allen Mitteln der politischen Erpressung die Besetzung von Nord- und Ostsyrien durchzusetzen.
Die Türkei versucht mit allen Mitteln der politischen Erpressung die Besetzung von Nord- und Ostsyrien durchzusetzen.
Das Erdoğan-Regime befindet sich sowohl innen- als auch außenpolitisch in der Krise. Um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen, sucht die Türkei auf internationaler Ebene nach Erlaubnis, um Nord- und Ostsyrien zu besetzen. Zur Durchsetzung der auf neoosmanische Ansprüchen aufbauenden Expansionspolitik zieht die Türkei große Truppenkontingente an der Grenze nach Nord- und Ostsyrien zusammen und betreibt praktische Vorbereitungen für einen Angriff. Währenddessen bereiten die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) sich ebenfalls auf einen möglichen türkischen Angriff vor. Die Zivilgesellschaft stellt sich mit Aktionen der „lebenden Schutzschilde“ den türkischen Angriffen in den Weg.
Diplomatie zur Verteidigung der Region
Demgegenüber versucht die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien den Frieden in der Region durch intensive diplomatische Arbeiten zu schützen. Während sich der Syriensonderbeauftragte der USA, James Jeffrey, in Ankara mit der der türkischen Regierung traf, um über eine „Schutzzone“ zu sprechen, sprach der Kommandeur der US-Streitkräfte (CENTCOM) Kenneth McKenzie in Ayn Issa mit dem Generalkommandanten der QSD, Mazlum Abdi, und Vertreter*innen der autonomen Selbstverwaltung. Es finden wiederholt Gespräche zwischen den USA und der Türkei sowie den USA und der Selbstverwaltung statt, auf denen über die Einrichtung einer „Schutzzone“ verhandelt wird.
Die „Schutzzone“
Die sogenannte Schutzzone soll in Dêrik beginnen und bis zur Qereqozax-Brücke reichen und sich 30 Kilometer weit nach Nordsyrien erstrecken. Nach Ansicht der Türkei soll die Region unter ihrer Kontrolle stehen.
Die Selbstverwaltung hat klar gemacht, dass sie ein Gebiet unter der Kontrolle der Türkei nicht akzeptieren werde, aber die YPG/YPJ aus einem fünf Kilometer breiten Streifen, die Städte ausgeschlossen, zurückziehen und die Verteidigung dieser Regionen lokalen Militärräten übergeben könnte. Die Koalition könnte in dieser Pufferzone vom Euphrat bis Dêrik außerhalb der Städte Beobachtungspunkte errichten. Dort könnten auch zivile Beobachter*innen der Türkei die Einhaltung der Pufferzone kontrollieren.
Truppenkonzentration an der Grenze
Für die Umsetzung dieses Plans, der in Übereinkunft zwischen den USA und der Selbstverwaltung entstanden ist, reiste Jeffrey zwischen der Türkei und Nordsyrien hin und her. Während die Drohungen des türkischen Staates andauerten, wurden von Russland die ersten Teile von S-400-Raketen geliefert. Dass am gleichen Tag Truppen an der Grenze nach Kobanê, Girê Spî und Serêkaniyê zusammengezogen wurden, wurde ignoriert.
Erklärungen der türkischen Regierung
Vergangene Woche fand wieder ein Treffen zwischen Jeffrey und der türkischen Regierung statt, in Folge dessen sich die Tonart der Türkei änderte. Nach einem Gespräch mit dem türkischen Verteidigungsminister Hulusi Akar gab der türkische Außenminister eine Erklärung ab, in der er den Vorschlag der US-Regierung als nicht ausreichend zurückwies und sagte: „Wir haben keine Geduld mehr. Wenn es nicht funktioniert, dann machen wir es selbst.“ Der türkische Regimechef Erdoğan hat vor drei Tagen erklärt: „Was auch immer dabei herauskommt, wir sind entschlossen, den Terrorkorridor im Osten des Euphrat zu zerschmettern.“
Zwei verschiedene Ansichten aus der Türkei
Soweit bekannt, benutzt der türkische Staat das Druckmittel einer Annäherung an Russland, um die USA zu einer Zustimmung zu ihren Plänen einer „Sicherheitszone“ zu zwingen. Innerhalb der türkischen Regierung gibt es zu diesem Thema zwei Lager. Die eine Sicht ist, sich gegen eine „Sicherheitszone“ zu stellen, da diese „de facto eine diplomatische Anerkennung bedeutet“ und diese heftig zu bekämpfen, die andere besagt, dass die Eroberungspläne der Türkei eine ausweglose Situation herbeiführen und der Vorschlag der USA akzeptiert werden müsse.
Neue Parteien und der Weg aus der Wirtschaftskrise
Die erste Sichtweise ist die der Falken. Sie sehen im Krieg die einzige Möglichkeit, die Krise in der Türkei zu „überwinden“ und legen eine absolut unversöhnliche Haltung an den Tag.
Die Haltung dieses Flügels wird daran deutlich, wie er die erwartete Parteigründung von Ali Babacan und Ahmet Davutoğlu schon im Vorfeld scheitern zu lassen und die ökonomische Krise in der Türkei durch Krieg zu überdecken versucht.
Das neoosmanische Ziel
Der türkische Staat hat in Sevres und in Lausanne zweimal akzeptiert, dass die expansiven „Misak-i Milli"-Pläne (Nationalpakt) einer Großtürkei null und nichtig sind. Nun wird diese Politik als Neoosmanismus neu aufgelegt. Es wird versucht, das im Nationalpakt vorgesehene Gebiet von Aleppo über Kerkûk bis Mosul unter Kontrolle zu bekommen und zu besetzen. Der türkische Staat, der Dscharablus, Bab, Azaz, Efrîn und Idlib besetzt hält, hat jetzt die Augen auf die Gebiete östlich des Euphrat, insbesondere Şêxler, Girê Spî und Serêkaniyê gerichtet.
Zwei Orte im Visier
Der türkische Staat versucht, das direkt gegenüber von Dscharablus gelegene Şêxler und damit die Qereqozax-Brücke, den ehemaligen Ort des symbolträchtigen Mausoleums von Suleyman Şah, zu erreichen und mit einem Angriff auf Girê Spî Kobanê von Cizîrê zu trennen und sich bis Raqqa auszubreiten.
Aufgrund der massiven Truppenkonzentration an der Grenze bereiten sich auch die Völker der Region auf alle Eventualitäten vor. So versuchen lebende Schutzschilde mit ihren Aktionen die Weltöffentlichkeit zu erreichen. Die lebenden Schutzschilde befinden sich im Westen von Kobanê bei Ziyaret, im Osten bei den Dörfern von Qeremox und an der Grenze von Girê Spî. Dort harren sie in Zelten aus und werden täglich von mehreren hundert Menschen aus ganz Nord- und Ostsyrien besucht.
Die USA werden mit Russland, die EU mit den Schutzsuchenden erpresst
Die Türkei versucht die USA und NATO zu erpressen, indem sie droht, sich nun an Russland zu orientieren und die europäischen Staaten mit dem EU-Türkei-Abkommen, das vorsieht, dass die Türkei Schutzsuchende zurückhält, zu erpressen. So fordert Erdoğan einerseits die USA mit den S-400-Raketen heraus und übt andererseits Druck mit dem Rücknahmeabkommen auf die EU-Staaten aus.
Die IS-Gefahr
Außerdem befinden sich in den Gefängnissen von Nord- und Ostsyrien etwa 10.000 IS-Dschihadisten aus aller Welt, ihre Familien leben in Flüchtlingslagern in Nordsyrien. Die Koalition ist besorgt, ein möglicher türkischer Angriff könne dem sogenannten Islamischen Staat (IS) neues Leben einhauchen, und sie lehnt daher auch den 33-Kilometer-Plan der Türkei eher ab. Nach der Ablehnung der Vorschläge der USA und der Selbstverwaltung durch die Türkei haben daher die USA verkündet, die Verhandlungen über die Sicherheitszone vorerst auf Eis legen zu wollen.