Türkisches Projekt einer Kolonialsiedlung in Besatzungszone

Der türkische Staat bereitet die Errichtung einer großen Kolonialsiedlung in den besetzten Gebieten um Girê Spî und Serêkaniyê vor. Die Türkei wird dabei von Katar und Kuwait unterstützt.

Die Türkei besetzte 2019 einen breiten Streifen von Rojava, in dem unter anderem die Städte Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) liegen. Seitdem herrscht dort eine kolonialistische Siedlungs- und Vertreibungspolitik. Die Region wird durch eine demografische Umgestaltung auf die Annexion vorbereitet. Im ANF-Gespräch äußert sich Cîwan Îso von der Außenarbeit des Migrationskomitees von Serêkaniyê.


Ciwan Îso unterstreicht, die Bevölkerung von Serêkaniyê sei zur Rückkehr entschlossen und fordere das Ende der Besatzung. „Die Menschen aus Serêkaniyê sagen: ‚Wir nehmen alle schwierigen Bedingungen hin, wir widersetzen uns, aber wir werden die Besatzung niemals akzeptieren.‘ Diese Haltung zeigen sie auch praktisch“, erklärt er.

Legitimationsstrategie der Besatzung verfolgt zwei Taktiken“

Ciwan Îso weist darauf hin, dass der türkische Staat neue Schritte geht, um seine Besatzung dauerhaft zu machen. So werden Lager, Dörfer und Städte in den von der Türkei besetzten Regionen in Syrien errichtet. Gleichzeitig werde die Legitimationsstrategie der Besatzung mit zwei Taktiken vorangetrieben: „Der türkische Staat stellt es so dar, als ob Serêkaniyê von dem von ihm selbst zusammengestellten ‚Lokalrat von Ras al-Ain‘ regiert werde. Auf der anderen Seite versucht er, mithilfe der humanitären Rechts- und Hilfsinstitutionen, die in den besetzten Gebieten arbeiten, eine Legitimität herzustellen. Sie wollen damit die Botschaft vermitteln, dass dieses Gebiet in der aktuellen Form anerkannt und legitim wäre.“

Als sogenannte Hilfsorganisationen sind IHH, Kızılay, AFAD, Deniz Feneri, Şanlıurfa-Verein, die allesamt seit Beginn der Besatzung als Fortsatz des türkischen Staats agieren, in Serêkaniyê aktiv. „Es gibt noch andere Einrichtungen, aber das sind die prominentesten. Es gibt auch Vereine, die nicht direkt dem türkischen Staat gehören, aber tief in ihm verwurzelt sind. Auch bei ihnen stammen die meisten Mitarbeitenden aus der Türkei. Tatsächlich setzen sie die Politik des türkischen Staates mit dem Ziel um, das Volk zu salafisieren und zu turkisieren.“

So sind insbesondere Kuwait und Katar, Staaten mit besonderer Verbundenheit zur salafistischen Muslimbruderschaft, dort aktiv. Eine dieser Organisationen heißt Besma und stammt aus Kuwait. Sie bereitet sich gerade vor, nach Serêkaniyê zu gehen. Îso kommentiert: „So versuchen sie, die Besetzung der Region zu legitimieren. Sie wollen damit sagen: ‚Hier ist ein sicheres Gebiet. Es gibt einen Volksrat aus den Menschen der Region, und internationale Hilfsorganisationen arbeiten hier.‘“

Kolonialsiedlungen mithilfe aus Katar und Kuwait

Ciwan Îso betont demgegenüber, dass alle Institutionen in Serêkaniyê, einschließlich des „Lokalrats“, vom türkischen Staat und Geheimdienst gesteuert würden, und erklärt, der türkische Staat plane zwischen den Städten Serêkaniyê und Girê Spî eine Stadt für Siedler zu errichten, um seine Kolonialpolitik voranzutreiben. „Zwischen Serêkaniyê und Girê Spî gibt es viel Land, um so etwas zu realisieren. Silûk, eine kleine Kreisstadt, liegt zwischen den beiden Städten. Sie ist ohnehin besetzt. Der türkische Staat hat noch nicht offiziell damit begonnen, diese Häuser hier zu bauen, aber der er versucht, die Zustimmung internationaler Staaten und Organisationen zu erhalten und trifft entsprechende Vorbereitungen. Denn der Bau der Stadt soll ein offizieller Akt werden. Nach unseren Informationen unterstützen Katar und Kuwait die Türkei bei diesem Projekt durch an ihre Regierungen angeschlossene ‚Hilfsorganisationen‘.

Es ist die Rede von einer Million syrischen Flüchtlingen, die zurückgeschickt werden sollen. Aber die Menschen, die in die besetzten Gebiete geschickt werden sollen, stammen nicht aus dieser Region. Die eigentliche Bevölkerung von Serêkaniyê und Girê Spî wurde vertrieben und lebt derzeit in Lagern. Aus diesem Grund weiß jeder, was hinter diesem Projekt des türkischen Staates steckt, aber leider haben weite Kreise von internationalen Menschenrechts- und Rechtsinstitutionen bis hin zu den großen Staaten die Besatzung, die Besatzungspraktiken und das Projekt des türkischen Staates bisher ignoriert.

Jeder kennt den türkischen Staat und seine Politik. Die türkische Politik im Nahen Osten ist die klarste. Sie wurde besonders deutlich, nachdem die AKP an die Macht gekommen war. Der türkische Staat startete den Invasionsangriff unter dem Namen ‚Operation Friedensquelle‘, aber in Wirklichkeit handelte es sich um eine Operation zur Zerstörung des Friedens. Vor der Besetzung lebten die Völker von Serêkaniyê in Frieden und verwalteten sich selbst. Ihre Rechte waren garantiert. Heute leben nur noch 13 bis 15 Prozent der ursprünglichen Einwohner:innen in der Stadt. Die Invasion und die anschließende demografische Umgestaltung der Stadt waren ein Prozess. Der aktuelle Prozess ist noch gefährlicher. Sie bauen Kolonialsiedlungen, Dörfer und sogar Städte.“

Es geht darum die Besatzung zu verstetigen“

Îso weist auf politische und wirtschaftliche Interessen hinter der Besatzung hin und fährt fort: „Das Hauptziel des türkischen Staates mit diesem Projekt der Kolonialsiedlungen und -städte ist es, seine Anwesenheit in Syrien zu verstetigen. Mit anderen Worten, in Zukunft mehr Mitspracherecht und Initiative in Syrien zu haben.“ Diese Siedlungspolitik könne zu einem Bürgerkrieg zwischen Siedlern und Bürger:innen der Region führen. Dies stelle ein reales Hindernis zur Lösung der Syrienkrise dar, betont er.

Îso warnt, die Türkei handle nicht in Übereinstimmung mit der Resolution Nr. 2254 des UN-Sicherheitsrates, in der eine politische Lösung des Syrienkonflikts geregelt wird und sagt: „Unter anderem will die AKP dieses Projekt als Wahlpropaganda nutzen.“

Îso unterstreicht, dies sei auch eine Menschenrechtsverletzung an den Schutzsuchenden, die dort angesiedelt werden sollen und sagt: „In diesen Gebieten gibt es täglich Tötungen, Gefechte und Plünderungen. Dies sind keine Bereiche, in die Menschen zurückkehren und in Sicherheit leben können. Und es sind ohnehin keine Menschen aus der Region, die hier angesiedelt werden sollen. Zu einem anderen Punkt: Diese Rückkehr der Syrer:innen ist keine freiwillige Rückkehr, sondern erzwungen. Dies widerspricht auch den internationalen Konventionen und den Regelungen für Kriegsflüchtlinge.“

175.000 Menschen aus Girê Spî und Serêkaniyê geflohen

Nach Angaben des Migrationskomitees und Menschenrechtsinstitutionen der Region mussten aufgrund der Invasion etwa 175.000 Menschen aus Serêkaniyê und Girê Spî fliehen. Während einige der Binnenflüchtlinge aus Serêkaniyê in drei Lagern in der Region Cizîrê wohnen, lebt die überwiegende Mehrheit von ihnen in den Städten und Dörfern der Region. Demnach sind insgesamt 15.381 Menschen im Waşokanî-Lager, 4.063 Menschen im Serêkaniyê-Lager bei Hesekê und 12.036 Menschen im Newroz-Camp in Dêrik untergebracht. Trotz aller Schwierigkeiten sagen die Menschen aus Serêkaniyê: „Wir bleiben hier, bis Serêkaniyê befreit ist, wir akzeptieren alle Schwierigkeiten, wir leisten Widerstand und wir akzeptieren die Besatzung nicht.“

Die Lager wurden mit den begrenzten Mitteln der Selbstverwaltung errichtet, die Lebensbedingungen dort sind schwer. Die UN erkennt diese Lager nicht an und leistet keinerlei Hilfe. Auch internationale Hilfsorganisationen haben seit Beginn der Invasion keinerlei Arbeit in den Binnenflüchtlingslagern geleistet. Nur einige kleine lokale Kooperativen und Hilfsorganisationen arbeiten dort. Abgesehen davon werden alle Bedürfnisse der Lager von der Selbstverwaltung gedeckt.

Am 16. Mai 2022 kam es zu einem Treffen zwischen dem Migrationskomitee von Serêkaniyê und den UN. Îso berichtet über das Treffen: „Wir haben einen Brief an die Vereinten Nationen über die Situation der Binnenflüchtlinge aus Serêkaniyê und das Projekt der Kolonialsiedlungen des türkischen Staates überreicht. Die UN versprachen, unseren Brief an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und den UN-Generalsekretär António Guterres zu übergeben.“