Unter dem Vorwand der Proteste gegen die türkische Unterstützung des Angriffs des „Islamischen Staat” (IS) auf die Stadt Kobanê in Westkurdistan sind 28 Politikerinnen und Politiker, unter anderem die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, in der Türkei inhaftiert. Gegen die 108 Angeklagten hat heute der Prozess in Ankara begonnen. Es geht um den Aufstand zwischen dem 6. und dem 8. Oktober 2014. Damals forderten Hunderttausende, die Grenzen nach Kobanê für humanitäre Hilfe zu öffnen und die Unterstützung für den IS zu beenden. Der türkische Staat ging brutal gegen die Proteste vor, Dutzende Menschen kamen ums Leben. Im ANF-Gespräch legen Kämpferinnen und Kämpfer der Verteidigungseinheiten YPG und YPJ, die damals in Kobanê den IS besiegt haben, ihre Perspektive auf das Verfahren dar.
„Türkische Wunschträume durch den Widerstand von Kobanê geplatzt“
Die YPJ-Kämpferin Çiçek Dûlî im Widerstand von Kobanê einen Arm verloren. Sie erinnert sich an den am 15. September 2014 begonnenen IS-Angriff und sagt: „Es war kein normaler Krieg. Es war das erste Mal, dass es in einer Stadt zu Nahkämpfen gegen den IS kam. Der IS griff mit seiner ganzen Technik und professionellen Kraft an.
Kobanê ist zwar eine kleine Stadt, aber sie ist von großer Bedeutung. Es ist die Stadt, durch die Rêber Apo [Abdullah Öcalan] nach Syrien gekommen war. In Kobanê hat auch die Rojava-Revolution begonnen. Die Stadt hatte strategische Bedeutung, denn sie verbindet die Gebiete Efrîn und Cizîrê. Aus diesem Grund wurde Kobanê zum Hauptangriffsziel des IS, der in Kobanê besiegt wurde. Anschließend wurde er in ganz Rojava und Nord- Ostsyrien zerschlagen. Das Volk organisierte sich selbst mit einer autonomen Verwaltung nach dem Modell der demokratischen Nation. So wurde Kobanê zum Schlüssel der Freiheit.“ Dûlî erklärt, am Widerstand von Kobanê seien die Wunschträume der Staaten, die hinter dem IS stehen, zerbrochen.
„Die Menschen in Nordkurdistan haben uns Kraft gegeben“
Dûlî weist darauf hin, wie wichtig der Kampf der Menschen in Nordkurdistan gewesen sei und wie ihnen dieser Widerstand Kraft und Moral gegeben habe: „Die Menschen im Norden leisteten ab dem 15. September 2014, dem Zeitpunkt, als der IS mit seiner Kobanê-Offensive begann, bis zur Befreiung der Stadt Widerstand an der Grenze und über sie hinaus. Das selbst war ein Krieg für sich. Die Menschen leisteten mit Herz und Seele Widerstand.
Damals waren wir nicht in der Situation, fernzusehen oder Nachrichten zu hören. Aber wir konnten die Parolen der Bevölkerung im Norden über die Grenze hinweg direkt hören. Schließlich wurde die Umzingelung immer enger. Wir waren nah an der Grenze. Die Parolen der Menschen gaben uns Kraft. Einige Leute überquerten die Grenze, nur um uns zu sehen. Ich habe ein paar dieser Menschen gesehen. Eines Tages kam einer. Wir wussten nicht, ob er aus Kobanê oder dem Norden kam. Er stellte sich vor und sagte: ‚Heval, ich komme aus Nordkurdistan. Alle Menschen sind für euch an der Grenze. Die ganze Welt spricht über euch, alle Augen sind auf euch gerichtet. Ganz Nordkurdistan ist auf den Beinen. Überall sind die Menschen zum Widerstand übergangen, um euch zu unterstützen.‘
Der Krieg führte unweigerlich zu körperlicher und geistiger Ermüdung. Wir leisteten Widerstand, aber wir waren müde. Aber von diesem Widerstand des Volkes zu hören, gab uns große Moral und Vitalität. Wenn wir über den Sieg von Kobanê sprechen, dann können wir diesen Sieg nicht vom Widerstand der Bevölkerung in Nordkurdistan und der jungen Menschen, die nach Kobanê gekommen sind, trennen.
„Nicht die HDP, sondern der IS und seine Unterstützer gehören vor Gericht“
Zum Prozess in Ankara, in dem vor allem führende Politikerinnen und Politiker der HDP angeklagt sind, sagt Dûlî: „Die HDP dient allen Völkern, den Frauen, den Kindern ebenso wie den Alten. Eine solche Partei kann alle Probleme in der heutigen Türkei lösen. Die Entwicklung und Ausweitung des HDP-Projekts kann den Krieg beenden, wirtschaftliche Probleme lösen und die Femizide stoppen. Der türkische Staat will natürlich nicht, dass sich die Türkei demokratisiert, denn er ist selbst antidemokratisch. Jetzt versucht das Regime, den Kobanê-Widerstand durch die HDP zu verurteilen. Wir wissen aus den Nachrichten, dass die türkische Regierung ihre Kerker mit Politikerinnen und Politikern der HDP gefüllt hat. Es handelt sich um eine große Ungerechtigkeit, die HDP heute wegen Kobanê zu verurteilen. Dieses Verfahren ist nichts weiter als offene IS-Unterstützung. Es geht um Rache an der HDP für die Niederlage des IS. In Kobanê wurde Widerstand für das kurdische Volk sowie auch für alle Völker in der Türkei und die Menschheit geleistet. Nicht die HDP, sondern der IS und seine Unterstützer gehören vor Gericht.“
„Die Türkei hat den IS in allem unterstützt“
Auch der YPG-Kämpfer Zerdeşt Dilovan wurde während des Kobanê-Widerstands verletzt. Er weist darauf hin, dass die Revolution von Rojava von Beginn an bis heute im Visier der sogenannten FSA, der Muslimbruderschaft, von Jabhat al-Nusra und des IS gewesen sei. All diese Gruppen wurden von der Türkei unterstützt und zum Angriff auf die Revolution eingesetzt. Dilovan erklärt: „Die türkische Regierung hat ihnen jede Art von Unterstützung zukommen lassen. Sie unterstützte auch den IS beim Angriff auf Kobanê.
Der IS befand sich an der türkischen Grenze in den Gebieten, die er in Syrien bis zum Kobanê-Widerstand besetzt hatte. Aber die türkische Regierung hat niemals auch nur eine Kugel auf ihn abgeschossen. Im Gegenteil, er unterstützte den IS auf jedwede Weise. Die Türkei war zu einem Einfallstor nach Syrien für IS-Verbrecher aus Europa und der ganzen Welt geworden. Die IS-Mitglieder, die in die Türkei kamen, wurden aus Gebieten wie Girê Spî nach Syrien verlegt und attackierten Kobanê bereits vor dem großen Angriff.
Der Anfang vom Ende für den IS begann in Kobanê. Unser Widerstand und der des Volkes haben dafür gesorgt. Wenn man gegen den IS kämpft und sein Fortschreiten behindert, dann sieht der türkische Staat dies natürlich als Angriff gegen sich selbst an. Aus diesem Grund schickte er die IS-Verbrecher nach Nordkurdistan, um dort das Volk und die HDP anzugreifen. Sie sprengten sich in Pirsûs (tr. Suruç), Ankara, Dîlok (Antep), kurzgesagt überall, wo der Widerstand von Kobanê unterstützt wurde, in die Luft.“
Dilovan sagt, das Verfahren jetzt ziele genau auf die Teile der Gesellschaft, die den Widerstand von Kobanê unterstützt hätten, ab. Er fährt fort: „Dieser Verfahren ist politisch. Es ist ein Putsch. Es ist ein Urteilsspruch gegen die HDP und verschiedenste Segmente der Gesellschaft in der Türkei. Es geht um Rache für die Niederlage des IS, die in Kobanê begann und in al-Bagouz endete. Der türkische Staat will sich dafür an der HDP und der nordkurdischen Bevölkerung rächen.
Ich habe gesehen, wie der IS aus der Türkei nach Kobanê kam
Der aus dem Kobanê-Widerstand versehrt hervorgegangenen Kämpfer Canpolat Fedakar berichtet: „Ich sah mit eigenen Augen, wie der türkische Staat die IS-Verbrecher über die Nordgrenze nach Kobanê geschickt hat. Nördlich von Kobanê liegt das Dorf Tilşair. Dort wurden andauernd IS-Mitglieder über die Grenze geschickt. Wir konnten das sehen. Manchmal haben wir sie angegriffen. Man kann den IS-Angriff auf Kobanê und den Widerstand nicht in Worte fassen. Der IS griff mit voller Wucht an und versuchte, Kobanê schnell zu erobern. Als YPG und YPJ haben wir uns diesem Angriff mit der Kraft, die wir von unseren Gefallenen und dem Volk erhalten haben, widersetzt. Die Menschen in Nordkurdistan haben Tag für Tag, Monat für Monat, jeden Moment Widerstand geleistet. Die vier Teile Kurdistans wurden zu einem Herz. Die Menschen kamen uns zu Hilfe, indem sie die Grenzen niederrissen und uns Kraft gaben.“
„Durch die HDP steht der Kobanê-Widerstand vor Gericht“
Fedakar sieht die Unterstützung der Türkei für den IS vor allem in der antidemokratischen Haltung und der Kurdenfeindschaft des Regimes begründet. Er sagt: „Ich erinnere mich, wie Erdoğan in der Zeit des Widerstands von Kobanê sagte: ‚Kobanê ist gefallen oder wird fallen‘. Während der IS in Kobanê angriff, gab es gleichzeitig Kämpfe zwischen der FSA und dem Regime in Aleppo. Erdoğan und die türkische Presse stellten diesen Krieg immer wieder in den Vordergrund. Er wollte, dass die internationalen Kräfte der FSA in Aleppo und nicht dem Kobanê-Widerstand helfen.
Heute ist der türkische Staat allen Kurden und Rojava feindlich gesinnt. Das ist sein Argument gegen die HDP. Die HDP strebt eine friedliche demokratische Lösung des kurdische Frage an. Der türkische Staat will uns ermorden. Er zielt nicht nur auf uns ab, er richtet sich gegen alle, die nicht so sind wie er selbst und ihm nicht gehorchen. Heute müssen die demokratischen Kräfte in der Türkei und die freiheitliche Menschheit gegen diese Politik des türkischen Staates und die Aburteilung des Kobanê-Widerstands protestieren.“