QSD-Kommandant Xelîl: Daesh ist eine internationale Gefahr

Vor sieben Jahren wurde Raqqa befreit. Der QSD-Kommandant Lokman Xelîl hat diese Zeit miterlebt und warnt vor der anhaltenden Gefahr durch Daesh, den selbsternannten „Islamischen Staat“.

Sieben Jahre nach der Befreiung von Raqqa

Im Mai 2016 begannen die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gemeinsam mit Koalitionstruppen eine Offensive zur Befreiung von Raqqa. Nach siebzehn Monaten schwerer Kämpfe – die letzten vier Monate der Operation konzentrierten sich auf den Stadtkern – verkündeten die Frauenverteidigungseinheiten YPJ am 17. Oktober 2017 den Sieg über den „Islamischen Staat“ in der Hauptstadt seines sogenannten Kalifats. Der QSD-Kommandant Lokman Xelîl hat diese Zeit miterlebt und ANF sieben Jahre nach der Befreiung eine Einschätzung der damaligen und heutigen Situation gegeben. Die anhaltende Bedrohung durch „Daesh“, das arabische Akronym für „IS“, muss international erkannt werden, warnt Xelîl als Mitglied des Generalkommandos der QSD.


Mit dem Verlust von Raqqa, das Daesh zu seiner Hauptstadt gemacht hatte, beschleunigte sich der Zerfall des sogenannten Kalifats. Wie bewerten Sie als Kommandant, der aktiv an dieser Zeit beteiligt war, diesen Prozess?

Die Brutalität und Grausamkeit, die Daesh der Bevölkerung von Raqqa angetan hat, war eine menschliche Tragödie, wie es sie in der Geschichte der Menschheit selten gegeben hat. Es ist notwendig, diesen Prozess erneut in Erinnerung zu rufen. Die Realität der Zerstörung und des Traumas, das die Menschen durch die Plünderungen, Erpressungen, Verfolgungen und Massaker in der Region erlitten haben, muss verdeutlicht werden. Und diejenigen, die es vergessen haben, müssen daran erinnert werden, welche Bedrohung Daesh noch heute für die Menschheit darstellt.

Daesh wurde vor zehn Jahren zum Albtraum der gesamten Menschheit. Er rückte immer weiter vor, nahm weite Gebiete ein und vernichtete das Leben. Mit Hunderttausenden technisch gut ausgerüsteten Bewaffneten erschien er wie eine unbesiegbare Macht und verbreitete überall Angst. So sah ihn die ganze Welt. Es sollte jedoch auch gesehen werden, wie Daesh gestoppt wurde. Die bloße Feststellung, dass sich eine militärische Streitmacht organisiert und Daesh aus Raqqa vertrieben hat, wird der Realität nicht gerecht. Dieser Prozess war das Ergebnis eines großen Kampfes und der Entscheidung eines Volkes, sich trotz aller Unmöglichkeiten zu organisieren und sich auf seine eigene Kraft zu verlassen.

Im Angesicht einer Macht, der alle hilflos gegenüberstanden, manifestierte sich in Kobanê ein von den YPJ und YPG getragener Geist des Widerstands, der von großer Opferbereitschaft und Hingabe an das eigene Land und seine Menschen geprägt war. Das versetzte Daesh trotz aller Unmöglichkeiten einen heftigen Schlag. Die ganze Welt war überrascht von dem Widerstandsgeist in Kobanê. Die Menschen erkannten, dass es eine Kraft und einen Willen gibt, die Daesh widerstehen und ihn aufhalten können. Das war der Beginn der großen Verluste und der Niederlage von Daesh. Vor Kobanê hat er jeden von ihm angegriffenen Ort eingenommen, ohne Widerstand, ohne jede Opposition und sogar ohne einen einzigen Reflex. Er hat nicht geglaubt, dass es einen solchen Widerstand gegen ihn geben könnte.

Dieser Erfolg wurde nicht mit technischer und materieller Macht errungen. Wenn er mit technischen Mitteln hätte erreicht werden können, hätte die irakische Armee Daesh bereits beim Einmarsch in Mosul gestoppt. Die Armee verfügte über Flugzeuge, Panzer und schweren Waffen. Sie hatte auch Hunderttausende Soldaten, aber sie konnten keinen Widerstand leisten. Viele Gebiete im Irak sind auf diese Weise gefallen. Auch in Şengal zeigten weder die Peschmerga noch die irakische Armee den Willen, gegen Daesh zu kämpfen; sie waren nur darauf aus, ihr eigenes Leben zu retten. In diesem Sinne muss der Widerstand und der Sieg von Kobanê richtig behandelt und bewertet werden. Kobanê ist heute dank des unermüdlichen Kampfes von Hunderten Gefallenen frei und weltweit bekannt. Danach entwickelte sich die Hoffnung auf Befreiung in anderen Regionen und die Menschen begannen, sich zu organisieren. Sie öffneten ihre Türen für die Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG und junge Menschen von überall her schlossen sich den Verteidigungseinheiten an. In allen von Daesh besetzten Gebieten begannen die Menschen, ihre eigene Befreiung zu fordern. Das war auch die Grundlage für die Offensive auf Raqqa.

Inzwischen sind sieben Jahre vergangen. Heute können wir entspannt darüber sprechen, aber vor sieben Jahren gab es kein Leben in Raqqa, die Menschen waren aller ihrer Rechte beraubt. Denn Daesh war das Gegenteil des bestehenden Gesellschaftssystems. Raqqa wurde von Daesh nicht zufällig als seine Hauptstadt gewählt. Die Stadt hat eine strategisch wichtige Lage und bietet wirtschaftlich viele Möglichkeiten. Sie ist ein Verkehrsknotenpunkt in Syrien, und die Region ist reich an Wasser und günstig für die Landwirtschaft.

Für uns war der Kampf gegen Daesh in einer großen Stadt wie Raqqa eine wichtige Erfahrung. Vorher waren bereits Minbic und Tabqa befreit worden. Die Offensive in Raqqa, dem Zentrum und der Hauptstadt von Daesh, war die richtige Entscheidung, aber sie war auch mühsam. Wir hatten im vorausgesehen, dass es ein schwieriger Prozess sein würde. Aber ich sage es noch einmal: Wenn sich eine Gesellschaft für Freiheit und Widerstand entscheidet, sind die Möglichkeiten und Bedingungen nicht so wichtig. Sie kann mit allen möglichen Schwierigkeiten fertig werden und die schwierigsten Bedingungen überwinden. Die Entschlossenheit der QSD, der YPG und der YPJ, die moralischen Verpflichtungen, die sie übernommen haben, und der große Wunsch der Bevölkerung haben die Raqqa-Offensive ermöglicht, obwohl von außen versucht wurde, sie zu verhindern.

Können Sie uns ein wenig über die Atmosphäre und den Widerstand in dieser Zeit erzählen?

Es wäre eine unangemessene Einschätzung, Daesh nur als bewaffnete Gruppe zu sehen. In der Organisation waren viele Personen aus verschiedenen Orten, die über eine große militärische Erfahrung verfügten und früher in verschiedenen Armeen gedient haben. Es gab zum Beispiel Tschetschenen, ehemalige Mitglieder von Al-Qaida, Soldaten, die in der syrischen und irakischen Armee gedient und sich nach dem Sturz Saddams abgesetzt hatten. Darüber hinaus war ein Teil dem türkischen Staat gegenüber loyal. Daesh war nicht nur eine Struktur, die von ein paar Leuten oder einer Gruppe organisiert wurde, um den Islam zu verbreiten. Hinter Daesh steckten enorme Möglichkeiten und Unterstützung. Es gab nachrichtendienstliche und staatliche Unterstützung, geheim oder ganz offen. Das ist hinreichend durch Medienberichte und Dokumentationen belegt worden.

Daesh setzte eine breite Palette von Taktiken ein, von der Verminung von Städten und Straßen über den Einsatz moderner Waffen bis hin zum Beschuss unserer Fahrzeuge mit Lenkraketen. Das von ihm selbst geschaffene Militärsystem funktionierte gut. Im Vergleich zu einigen Staaten der Region war er militärisch sogar fortschrittlicher. Es handelte sich nicht um eine Gruppe, die sich nach ein oder zwei Rückschlägen ergibt. Denn Daesh war ein Projekt; ein Projekt, das gegen die Freiheit und Einheit der Völker, die Demokratie und alle heiligen Werte der Menschheit gerichtet war. Er setzte sich aus Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, die keine Chance auf Rückkehr hatten und denen nichts anderes übrig blieb, als zu kämpfen. Sie gaben sich den Anschein eines Imperiums, profitierten von einigen Staaten und stellten Tausende Bewaffnete auf. Deshalb glaubten sie, dass sie jeden Ort, den sie angriffen, einnehmen und jeden Angriff auf sie brechen konnten.

Obwohl seit der Befreiung von Raqqa sieben Jahre vergangen sind, kommt es immer noch gelegentlich zu Angriffen von Daesh-Gruppen. Als QSD führen Sie Operationen gegen die verbliebenen Zellenstrukturen durch und nehmen Daesh-Mitglieder gefangen. Wie ist die aktuelle Sicherheitslage in Raqqa?

Daesh hat seine bewaffneten Kräfte auf der Grundlage eines Glaubens ausgebildet. Letztendlich stand eine Ideologie dahinter. Natürlich glaubten nicht alle Menschen an diese Ideologie und akzeptierten sie. Denn Daesh vertrat nicht den echten und wahren Islam. Der Islam bedeutet Frieden, Moral und Verständnis. Menschen, die an den wahren Islam glaubten, glaubten nicht an Daesh. Andere, die von Daesh überzeugt waren, halten an dieser Mentalität fest. Nach der Niederlage in Raqqa und zuletzt in al-Bagouz befahl Daesh seinen Mitgliedern, sich in Zellen zu organisieren und ihre Aktivitäten auf diese Weise durchzuführen. Er hatte die Hoffnung insgesamt verloren. Die Unterstützung, die Daesh von außen erhält, gibt seinen verdeckten Zellen oder seinen unbekannten Mitgliedern wieder Hoffnung. Sie organisieren sich als Schläferzellen in unserer Region und versuchen, Instabilität und Sicherheitsbedrohungen zu schaffen, indem sie Menschen aus den Institutionen der Selbstverwaltung ins Visier nehmen, Menschen, die in der Gesellschaft bekannt und geachtet sind.

Diese Situation hält bis zum heutigen Tag an. Wir wissen jedoch, dass Daesh keine Gebiete zurückgewinnen oder die Kontrolle übernehmen kann. Die Arbeit der inneren Sicherheitskräfte dagegen geht weiter. Die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Sicherheits- und Verteidigungskräfte erleichtert den Kampf gegen diese Zellen.

Wir sollten jedoch folgende Tatsache nicht außer Acht lassen: Die Regionen im Norden und Osten Syriens werden nicht von einer einzigen Kraft oder Partei angegriffen. Das ist bis heute so geblieben. Auch die Regierung in Damaskus spielt in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Sie will kein Bündnis mit der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien eingehen und ihre Armee ist schwach und kann ihre eigenen Gebiete nicht gut schützen. Dadurch kann Daesh leichter agieren. Die täglichen Aktionen von Daesh-Banden gegen die Armee der Regierung in Damaskus in den Wüsten Syriens sind die besten Indikatoren dafür. Diese militärische Schwäche stellt eine ernste Gefahr dar.

Ein weiterer gefährlicher Punkt ist die international verbreitete Annahme, Daesh sei geschwächt und nicht mehr die gleiche Bedrohung wie früher. Das ist ein großer Irrtum und bedeutet auch international große Gefahr. Heute werden Daesh-Zellen unterstützt und es werden Möglichkeiten geschaffen. Diese werden auch von externen Mächten bereitgestellt. Der türkische Staat hat Daesh schon bei der Schlacht in Kobanê unterstützt und an ihn geglaubt. Das wurde offen zugegeben, ohne rot zu werden; der türkische Präsident selbst hat es getan. Diese Politik wurde auch nach der Niederlage von Daesh in Raqqa und al-Bagouz fortgesetzt. Mit der Niederlage von Daesh wurde auch der türkische Staat besiegt; all seine Pläne, Wünsche und Projekte wurden zunichte gemacht.

Angesichts dieser Situation will sich der türkische Staat an den Menschen rächen, die Daesh besiegt haben. Seine Rachegelüste sind der Versuch, Daesh heute weiter zu stärken. Das Schweigen der internationalen Mächte dazu verschafft ihm natürlich noch mehr Macht. Wenn die notwendige politische und militärische Unterstützung im Kampf gegen Daesh ausbleibt, werden sowohl Daesh als auch die anderen vom türkischen Staat unterstützten Banden ermutigt, sich neu zu gruppieren und anzugreifen.