„Ohne dezentrale Lösung für Syrien bleibt der IS ein dauerhaftes Problem“

Solange es für Syrien keine Lösung im Rahmen des Aufbaus eines demokratischen und dezentral organisierten Systems gibt, bleibt der IS ein langfristiges Problem, sagt Rojavas Außenbeauftragter Abdulkarim Omar – und findet drastische Worte für den Westen.

Solange es für Syrien in Anbetracht der realen Situation keine Lösung im Rahmen des Aufbaus eines demokratischen und dezentral organisierten Systems gibt, bleibt die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ein langfristiges Problem, sagt der Außenbeauftragte der Autonomieverwaltung, Abdulkarim Omar. Alle internationalen Akteure müssten bei diesen Bemühungen ihre Rolle spielen. Nur wenn eine vollständige Stabilität in dem kriegsgebeutelten Land erreicht ist, könne der IS beseitigt werden.

Wir haben mit Omar über den IS-Sturm auf das Gefängnis in Hesekê, den Umgang der Herkunftsstaaten mit IS-Gefangenen und die Verantwortung des Westens nach dem Kalifat gesprochen.

Herr Omar, was war das Ziel des Anschlags von Hesekê?

Dieser Angriff war Teil eines ausgeklügelten und umfassenden Plans. Der türkische Staat und seine Proxy-Truppen waren aktiv beteiligt – von der Planung, über die Logistik bis hin zu Truppennachschub und nachrichtendienstlicher Aufklärungsarbeit. Ziel war es, den IS wiederzubeleben und die Funktionsfähigkeit des Projekts der Selbstverwaltung zu zerstören. Dieser Plan wurde vereitelt.

Wo sehen Sie die Hintergründe für den Angriff?

Wir haben die vom IS besetzten Gebiete befreit und die Miliz militärisch besiegt. Wir haben aber nicht gesagt, dass es damit vorbei ist mit dem Terror. Der IS hat sich nicht in Luft aufgelöst. Tausende seiner Mitglieder werden in Haftzentren festgehalten, hinzu kommen die IS-Familien in Lagern wie etwa dem Camp Hol. Wir stehen der nicht zu leugnenden Realität gegenüber, dass der IS sich in Syrien, im Irak und in den von der Türkei besetzten Gebieten reorganisiert und versucht, in seinem ehemaligen Kerngebiet wieder Fuß zu fassen. Mittlerweile sind wieder geografische Ausdehnungen zu finden. Aus diesen Gebieten kommt es zu Infiltrierungen in unsere Regionen. Die globalen Mächte kommen ihrer Verantwortung nicht nach und lassen uns mit dieser Angelegenheit im Stich. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, dass solche Probleme auftreten.

Ein weiterer Aspekt ist, dass der Grenzübergang Til Koçer (ar. Al-Yarubiya, im Osten zum Irak) geschlossen ist und der Bedarf an humanitärer Hilfe in der Region nicht gedeckt werden kann. Die dadurch und durch das Embargo verursachte Armut bietet dem IS einen ideologischen Nährboden. Die wirtschaftliche Entwicklung Nord- und Ostsyriens muss gefördert werden, um dem Terror eine der wichtigsten Brutstätten zu entziehen. Solange das nicht geschieht, können keine ernsthaften Ergebnisse erbracht werden. Der IS wird mehr oder weniger weiter existieren.

Das dritte Problem ist die türkische Aggression. Luftangriffe, Attentate, Besatzungsdrohungen und ständiger Artilleriebeschuss aus den Besatzungszonen beeinträchtigen die politische, wirtschaftliche und militärische Stabilität in unserer Region. Diese Instabilität bietet dem IS ideale Bedingungen, wieder Fuß zu fassen.

Wie ist der Umgang der internationalen Kräfte beim Thema Strafverfolgung von IS-Mitgliedern in der Region?

Nach der Befreiung von Baghuz haben wir an die Staatengemeinschaft appelliert, für die Aburteilung der IS-Mitglieder und ihrer Familien hier in der Region ein Sondergericht einzurichten. Der Leitgedanke bei einem internationalen Tribunal im Autonomiegebiet ist, dass der IS dort zur Rechenschaft gezogen und abgeurteilt wird, wo er seine Verbrechen begangen hat. Dies hätte auch den Vorteil, dass Beweise und Zeugen vor Ort sind. Doch unser Anliegen ist auf großes Desinteresse gestoßen. Keine einzige Regierung hat dieses Vorhaben unterstützt. Ebenso herrscht Gleichgültigkeit angesichts unserer Forderung an die Herkunftsstaaten, ihre in Nord- und Ostsyrien inhaftierten Bürgerinnen und Bürger zurückzunehmen.

In diesem Zusammenhang sollte nochmals darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem angegriffenen Sina-Gefängnis um eine ehemalige Schule handelt. Es ist keine leichte Aufgabe, tausende IS-Gefangene in einem Gebäude wie diesem unterzubringen oder zu kontrollieren. Im Auffang- und Internierungslager Hol werden sogar zehntausende Menschen aus dem IS festgehalten. Auch hier entziehen sich die Länder ihrer Verantwortung, auch hinsichtlich der dort herrschenden Bedingungen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich Orte wie Lager oder Gefängnisse zu Brutstätten des IS entwickeln. Insbesondere in den Camps wächst eine neue IS-Generation heran, die Kinder werden indoktriniert. In Anbetracht der prekären und unmenschlichen Bedingungen, unter denen sie leben, ist es unvermeidlich, dass diese Kinder mit Hass und Wut aufwachsen und die IS-Attentäter von morgen sind.

Wir sagen es klar und deutlich: Der einzige Grund, warum diese Probleme nicht gelöst werden können, ist die Tatsache, dass sich die internationale Staatengemeinschaft ihrer Verantwortung entzieht. Bei jedem Treffen, jedem Gespräch und jeder abgegebenen Erklärung haben wir wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass alle Akteure ihre Rolle spielen und dazu beitragen müssen, damit der IS irgendwann ein für alle Mal der Vergangenheit angehört.

Gibt es denn keine Initiativen von internationalen Organisationen in Bezug auf die IS-Gefangenen und die Kinder im Lager Hol?

Nein. Die internationalen Organisationen sind genauso gleichgültig wie die globalen Mächte.

Was also muss getan werden?

Die UNO und die internationale Staatengemeinschaft sollten die notwendige Hilfe und Unterstützung bei der strafrechtlichen Verfolgung von IS-Mitgliedern leisten. Die Länder, deren Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Terrormiliz oder der IS-Unterstützung hier festgehalten werden – gerade im Fall der internierten Frauen und Kinder – müssen Wege finden, sie zurückzuholen und nach einem fairen Prozess und anschließender Rehabilitation in die Gesellschaft zu integrieren. Der türkische Staat sollte aufhören, den IS zu unterstützen; Angriffe und Drohungen müssen gestoppt werden. Um Nord- und Ostsyrien wirtschaftlich und politisch zu unterstützen und zu stärken, ist es notwendig, die Region vor Sanktionen zu bewahren und die Grenzübergänge wieder zu öffnen. Abgesehen von diesen Maßnahmen sollte vor allem eine Sache ernst genommen werden; das IS-Problem kann ohne vollständige Stabilität in Syrien nicht gelöst werden. Die internationalen Mächte und Institutionen sollten sich mit aller Kraft für eine demokratische Lösung in Syrien einsetzen. Nur in einem stabilisierten Syrien wird es möglich sein, den Terror zu beseitigen. Aber solange es für Syrien in Anbetracht der realen Situation keine Lösung im Rahmen des Aufbaus eines demokratischen und dezentral organisierten Systems gibt, wird der IS ein langfristiges Problem bleiben. Ein Wiedererstarken der Miliz wird nicht zu verhindern sein.