In den Gefängnissen Nordsyriens warten tausende Mitglieder der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf ihren Prozess – darunter rund ein Fünftel aus dem Ausland. Seit Jahren fordert die Autonomieverwaltung ihre Heimatländer auf, sie zurückzunehmen und sie vor Gericht zu stellen. Doch viele Länder weigern sich, Verantwortung für ihre Staatsangehörigen zu übernehmen. Auch ein internationales Sondergericht, wie von den nordostsyrischen Autonomiebehörden vorgeschlagen, scheint in weiter Ferne zu liegen. Und so bleiben die IS-Gefangenen vorerst in Gefängnissen in Nordsyrien – und warten.
Die Lage in den Gefängnissen für IS-Mitglieder ist durch die jahrelange Unklarheit über die juristische Auseinandersetzung mit ihnen angespannt. Diese Situation schafft neue Probleme. Hinzu kommt, dass die Ressourcen der Selbstverwaltung knapp sind und die Gefangenen nur ausreichend versorgt werden können. Außerdem fehlen die Möglichkeiten, weitere Gefängnisse zu bauen. Wegen der Überbelegung der Internierungslager drohen zudem Aufstände.
Wir haben in Nordsyrien die zwei am stärksten von Überbelegung betroffenen Gefängnisse besucht und uns ein Bild von der Lage gemacht. Alle Haftanstalten im Autonomiegebiet werden von der Selbstverwaltung betrieben und von der Inneren Sicherheit sowie den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) bewacht. Die Zahl der Insassen geht in die Tausende. Wir konnten auch mit einigen der Gefangenen sprechen.
Zentralgefängnis von Hesekê
Das erste Gefängnis, das wir besuchten, war das Zentralgefängnis von Hesekê. Es wurde von der internationalen Anti-IS-Koalition errichtet, als sich Probleme mit der Unterbringung der IS-Gefangenen zuspitzten. Rund 4.000 Gefangene sitzen hier ein – viele als ehemalige FSA-Söldner oder Mitglieder des Al-Qaida-Ablegers Jabhat al-Nusra. Die Mehrheit stellen allerdings IS-Dschihadisten. Sie kommen vor allem aus dem Irak und Syrien.
Ein Teil von ihnen wurde von den 2014 in Rojava eingerichteten „Volksverteidigungsgerichten“ (kurd. Dadgeha Parastina Gel) verurteilt. Neben Einzelzellen gibt es mehrere Großraumzellen für bis zu 50 Gefangene. Fast alle inhaftierten Dschihadisten, mit denen wir sprachen, erklärten, dass sie mit dem System und den Haftbedingungen zufrieden seien und menschlich behandelt würden. Besuche von Angehörigen sind ebenfalls möglich. Jeden Tag kochen drei Gefangene gemeinsam mit drei Köchen das Essen für die Haftanstalt und verteilen es unter der Kontrolle von Sicherheitskräften.
Gefangene geben ihre Verbrechen nicht zu
Außer den bereits verurteilten Dschihadisten, deren Verbrechen unzweifelhaft bewiesen worden sind, behaupten nahezu alle, nur unter IS-Herrschaft gelebt und keinerlei Verbrechen begangen zu haben. Deswegen wird intensiv daran gearbeitet, Hinweisen und Belegen von Verbrechen, an denen diese Personen beteiligt gewesen sein könnten, nachzugehen. Zu der Gruppe, die ihre Verbrechen leugnet, gehören unter anderem die irakischen IS-Mitglieder Ahmad Taleb Mansour und dessen Vater Mansour al-Huwaidi al-Shammari. Beide sind in derselben Zelle inhaftiert. Der Sohn ist angeklagt, einer der Henker des IS gewesen zu sein. Er leugnet dies und behauptet, beim IS in der Nahrungsmittelverteilung gearbeitet zu haben. Die Anklage gegen ihn ist allerdings mit aussagekräftigen Beweisen unterfüttert. Es liegen sogar Videos vor, die ihn bei der Durchführung von Hinrichtungen zeigen. Vor Gericht behauptete er, „nur“ eine Person hingerichtet zu haben. Das Dadgeha Parastina Gel verurteilte Mansour wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu einer lebenslangen Haftstrafe.
Viele verteidigen weiterhin ihre Verbrechen
Auch wenn einige der Gefangenen angeben, ihren Anschluss an den IS inzwischen zu bereuen, bringt doch die überwältigende Mehrheit zum Ausdruck, weiterhin an der IS-Ideologie festzuhalten. Viele sind überzeugt, diese Ideologie werde sie befreien. Ein Gefangener, mit dem wir sprechen, ist Hadir Shaid al-Uthman aus dem Irak. Eigenen Angaben nach schloss er sich 2015 dem IS an und kämpfte aktiv für die Organisation. Mit den Haftbedingungen hier sei er zufrieden. In Gefängnissen des Irak gäbe es hingegen massive Repression. Uthman droht: „Wenn ich an den Irak ausgeliefert werden sollte, bringe ich mich vorher um.“ Auf die Frage, ob er es bereue, Teil einer Organisation wie dem IS gewesen zu sein, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere Grausamkeiten beging, antwortet er zunächst: „Wir haben keine Grausamkeiten begangen.“ Als wir ihn auf die Beweise und den Şengal-Genozid hinweisen, sagt er: „Die Scharia verlangt es so für die Ungläubigen.“
Einen anderen Gefangenen, Ashraf Ahmed Vahad aus Deir ez-Zor, treffen wir beim Hofgang an. Er ging 2013 zunächst zur FSA. Bei einem Gefecht mit IS-Mitgliedern geriet er in Gefangenschaft der Miliz. Acht Monate später fasste er den Entschluss, sich dem IS anzuschließen. 2017 ergab er sich den QSD. Vahad gibt an: „Ich habe meinen Beitritt zum IS sehr bereut. Den QSD ergab ich mich, weil ich erfahren hatte, dass sie gefangene IS-Mitglieder in keiner Weise unmenschlich behandeln. Ich will meine Strafe absitzen und wieder ein ganz normaler Mensch werden. Die Behandlung im Gefängnis ist human. Es gibt keinerlei Unterdrückung.“
Ernsthafte Gefahren
Wir fahren vom Gefängnis Hesekê zu einer anderen Haftanstalt, in der vor allem IS-Dschihadisten aus der letzten IS-Enklave al-Bagouz einsitzen. Als die ostsyrische Ortschaft im März 2019 fiel, ergaben sich massenhaft IS-Dschihadisten. Sie wurden in einem zu einem Gefängnis umgewandelten Teil der Universität von Hesekê inhaftiert. Inzwischen handelt es sich mit den rund 5000 Gefangenen um die überbelegteste Haftanstalt im gesamten Autonomiegebiet Nord- und Ostsyriens. Die Haftbedingungen sind extrem.
Das Gebäude ist alt und marode, besonders sicher sieht es nicht aus. In manchen Zellen befinden sich hundert, in anderen sogar 150 Gefangene. Auch die Krankenstation platzt aus allen Nähten. Die Überbelegung bringt verschiedene gesundheitliche und sicherheitsrelevante Risiken mit sich. An der Spitze dieser Probleme steht die Reorganisierung des IS unter den Gefangenen und die schnelle Ausbreitung von Krankheiten. Gerade in Gefängnissen finden Krankheitserreger ideale Ausbreitungsbedingungen vor. Sollte die Kapazität des Gefängnisses nicht erhöht werden oder die Verlegung von Gefangenen in andere Haftanstalten erfolgen, sind auch Risiken wie Massenflüchte und Aufstände unumgänglich.
In der Vergangenheit hat es bereits in einigen Zellen hier und auf der Krankenstation organisierte Aufstandsversuche gegeben. Es kam auch zu Angriffen auf das Gefängnispersonal und Journalist*innen. Deswegen verweigern uns die Verantwortlichen den Zutritt zur Krankenstation oder in die Zellen. Wir machen Aufnahmen durch die kleinen Fenster in den Zellentüren. Die Treffen mit den Gefangenen führen wir in einem extra von der Gefängnisleitung zur Verfügung gestellten Raum durch.
Für den IS – bis zum letzten Augenblick
Die Mehrheit derer, die wir getroffen haben, bestreitet beim IS gewesen zu sein. Man sei lediglich in die Gebiete unter IS-Kontrolle „ausgewandert“. Zwar hätten sie die Ideen der Terrororganisation für sich übernommen, die Schuld weisen sie allerdings den Funktionären zu. Sie beklagen, unter den Bomben alleingelassen worden zu sein, während ihre Anführer in die Türkei oder nach Europa geflohen wären. Die Verantwortlichen der QSD geben jedoch an, dass die hier inhaftierten Dschihadisten bis zum Moment ihrer Aufgabe aktiv gekämpft haben.
Wir sprechen mit dem IS-Mitglied Rıdvan Genç aus der türkischen Stadt Afyon. Er gibt an, sich in Ankara einer salafistischen Gemeinde angeschlossen und dann in das IS-Gebiet gereist zu sein, damit seine Kinder Arabisch lernen könnten. Genç behauptet, nur als Fahrzeugmechaniker gearbeitet zu haben. Auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und insbesondere gegen Frauen hingewiesen, zeigt sich sehr deutlich das mörderische IS-Gedankengut. Er antwortet: „Wenn das religiös legitim ist, dann wird es gemacht. Der Glaube steht über dem Gewissen.“
Warum übernimmt niemand Verantwortung?
Abdullah Numan ist belgischer Staatsbürger mit marokkanischen Wurzeln. Er ist einer der Wenigen, die zumindest einige der verübten Verbrechen eingestehen. Gefragt nach Drohvideos gegen Belgien, in denen er auftrat, relativiert er: „Zu dieser Zeit nahm ich Betäubungsmittel, ich war nicht bei Sinnen.“ Die Wege aus allen Teilen der Welt hätten offen gestanden, um sich dem IS in Syrien anzuschließen, erklärt Numan. „Der türkische Geheimdienst wusste, dass ich mich für solche Gemeinden interessierte. Obwohl mein Name bekannt war, wurde ich beim Grenzübertritt nicht gestoppt. Ich fuhr nach Deutschland und reiste von dort mit dem Flugzeug weiter in die Türkei. Bei Antep überquerte ich die Grenze. Auf beiden Seiten befanden sich Soldaten, aber niemand hat irgendwas gemacht.“ Numan fordert ein Verfahren vor einem belgischen Gericht: „Man hat uns quasi den Weg für unseren Beitritt freigemacht und ihn sogar gefördert. Nun wird keine Verantwortung für uns übernommen. Wie haben Verbrechen begangen. Sie sollen uns unsere Strafe geben und wir werden sie akzeptieren.“
Junge Menschen werden weiter radikalisiert
Der 55-jährige IS-Dschihadist Fatih Çiftçi stammt aus Istanbul. Dort lebte er im Stadtbezirk Bağcılar, wo er ebenfalls aktives Mitglied einer Gemeinde gewesen sei. Zum IS wanderte er mit seiner gesamten Familie aus. Der Grenzübertritt nach Syrien verlief unproblematisch, erinnert er sich. Den QSD ergab er sich „guten Gewissens“, wie er sagt. „Hier gibt es keine Folter oder Probleme mit der Versorgung. Im Vordergrund steht ein humaner Umgang. Aber das Gefängnis ist einfach überbelegt. Wir haben Platzmangel und Probleme bei der medizinischen Versorgung. Unser größtes Problem ist, dass wir nicht wissen, was kommt. Wir haben nicht die leiseste Ahnung davon, was in der Welt vor sich geht. Diese Situation wirkt sich sehr drastisch aus. Nicht alle sind so alt wie ich. Unter uns gibt es junge Menschen, die nicht wissen, wie man zusammenlebt. Sie wissen nicht zu gehorchen. Neulich haben sie in unserer Zelle einen Aufstand angezettelt.
Wir sollten verurteilt werden. Jeder sollte für sein Verbrechen die entsprechende Strafe erhalten und verlegt werden. Wir haben in diesem Land gelebt und wenn ein Verbrechen begangen wurde, geschah dies hier. Die Beweise befinden sich hier vor Ort, also sollten wir auch hier vor Gericht stehen. Die Welt muss sich mit diesem Problem auseinandersetzen und der autonomen Selbstverwaltung helfen, dieses Problem zu lösen.“
Kraft der autonomen Selbstverwaltung ist erschöpft
Sowohl die Verantwortlichen wie auch die Gefangenen, mit denen wir sprachen, betonen einhellig, dass die Verfahren sofort beginnen müssen. Die Gefängnisleitung hebt hervor, dass die seit mittlerweile einem Jahr anhaltende Isolation, fehlende Möglichkeiten der Selbstverwaltung, die ausbleibenden Verfahren und die damit zusammenhängende Unsicherheit die Gefangenen weiter radikalisiert.
Die Forderungen der nordostsyrischen Autonomieverwaltung klingen genauso. Die Verfahren gegen IS-Dschihadisten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, liegen in der Verantwortung der ganzen Menschheit. Die Verantwortlichen sagen aber auch, dass sie keine ausreichenden Möglichkeiten haben, den Alltagsbedarf und die Bewachung der Gefangenen zu garantieren. Und sie warnen, dass eine ausbleibende Beschäftigung mit diesem Problem eine noch stärkere Radikalisierung befördern wird.