Die christlichen Bewohner*innen des Khabur-Tals können nach Einschätzung von Madeleine Khamis auf längere Sicht nicht in ihre Heimat zurückkehren. Solange ihre Siedlungsgebiete in Nordostsyrien von der türkischen Armee und ihren islamistischen Verbündeten bedroht werden, würden vermutlich auch die letzten Mitglieder des assyrischen Volkes ins Exil gedrängt, befürchtet die Kommandantin des assyrischen Kampfverbands „Khabur-Wächter“. Programme und Projekte zur Förderung der Rückkehr von Vertriebenen und ihre Reintegration mussten aufgrund des im vergangenen Oktober begonnenen Angriffskriegs des Nato-Mitgliedslands Türkei und seinem Proxy-Invasionskorps, der sogenannten „Syrischen Nationalarmee“ (SNA) – einem Verband aus extremistischen FSA-Milizen, Mitgliedern der „Al-Nusra-Front“, turkmenischen Gruppierungen und anderen Dschihadistenfraktionen aus der größtenteils unter türkischer Kontrolle stehenden Provinz Idlib – auf Eis gelegt werden. Den Khabur-Wächtern war es nach der Befreiung von Til Temir gemeinsam mit christlichen Organisationen gelungen, Exil-Assyrer wieder ins Land zu holen. Jetzt, da das Khabur-Tal im Visier der Türkei liegt, glaubt niemand mehr an eine baldige Wiederaufnahme der Rückkehrprojekte. Immer wieder rückt die Region ins Zentrum invasiver Angriffe, um sie in die illegale Besatzungszone einzugliedern.
20.000 Christen vor Kriegsbeginn in Til Temir
Entlang des Khabur-Tals im Nordosten Syriens erstreckt sich der Fluss Khabur. Hier, wo die Stadt Til Temir (kurdischer Name: Girê Xurma), ein Spiegelbild des Bevölkerungsmosaiks Syrien liegt, ließen sich 1933 die Nestorianer – Assyrer aus Colemêrg (türk. Hakkari) –, die während des Genozids an den Christen im Osmanischen Reich zwischen 1914 und 1918 in den Nordirak geflohen waren, nieder. Das Siedlungsgebiet bekamen sie vom Völkerbund in Genf zugesprochen. Ihrem zweiten Exodus ging das Massaker von Simele voraus: etwa 9000 Assyrer, vor allem Männer und Jugendliche, wurden in verschiedenen Dörfern in der Region Dihok ermordet. Das besonders betroffene Dorf Simele wurde Namensgeber dieses Genozids. Dort starben unter der Führung des irakischen Militärs etwa 350 Menschen.
Madeleine Khamis
Die Assyrer aus Colemêrg gründeten im flachen Tal des Khabur 33 Dörfer, chaldäische Christen ließen sich in weiteren drei Dörfern nieder. Vor Kriegsbeginn 2011 lebten hier noch etwa 20.000 assyrische Christen, in fast jeder Ortschaft gab es eine Kirche. Jetzt sind keine 1.000 Menschen mehr übrig. Wegen der Dschihadisten flohen fast alle Bewohner ins Ausland, die meisten gingen nach Kanada, Australien oder in die USA. Einige der Dörfer sind völlig leer, die Gebliebenen sind meist ältere Leute. Auch leben inzwischen einige hundert Binnenvertriebene aus anderen Regionen des Landes in Til Temir.
Ein Großteil der Einwohner von Til Temir flüchtete bereits gegen Ende 2012, als Söldner der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) ihre Angriffe auf die Christen im Westen und Osten Syriens in die nördlichen Regionen verlagerten und in die Stadt einzumarschieren drohten. Das ganze Jahr über war es bereits in Homs, Damaskus und Deir ez-Zor immer wieder zu Massakern, Anschlägen und Entführungen gekommen – mit der Zeit weitete sich der Täterkreis auf nahezu alle bewaffneten Dschihadistenmilizen aus, allen voran die „Al-Nusra-Front“. Kirchen wurden entweiht und bombardiert, christliche Dörfer systematisch überfallen und entvölkert, religiöse Würdenträger verschleppt und ermordet. Ab der zweiten Jahreshälfte 2013 fiel nun öfter der Name „Islamischer Staat“ (IS) im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Christen Syriens, besonders rund um das Khabur-Tal. Als der IS über immer mehr Straßen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Til Temir die Kontrolle übernahm, verstärkte sich auch hier wieder die Abwanderung.
Ivana Hoffmann fiel in Til Temir
2015 erreichte die Eskalation des Terrors im Khabur-Tal eine neue Stufe, als der IS am frühen Morgen des 23. Februar mit 40 Geländewagen das westliche Ufer überrannte, zwölf assyrische Dörfer auf der Westseite des Flusses einnahm und die Kirchen in Brand steckte. Rund 4.000 Menschen, die Schutz im Tur Abdin – dem „Berg der Gottesdiener“ und Kernland der Suryoye – suchen wollten, aber von der Türkei nicht durchgelassen wurden, gelang die Flucht nach Qamişlo und Hesekê. Andere gingen ins Ausland. Solche, die es nicht rechtzeitig schafften, fielen dem IS in die Hände. Die Zahl der Entführten lag unterschiedlichen Berichten zufolge zwischen 262 und 373. Für ihre Freilassung wurde Lösegeld in zweistelliger Millionenhöhe verlangt. Im Juni 2015 wurden Til Temir, der nahgelegene Berg Kizwan (Abdulaziz) und das weitere Umland von den YPG/YPJ und christlichen Kampfverbänden, die sich bereits nach Ausbruch des Syrien-Krieges gegründet hatten, befreit. Unter den Gefallenen der Stadt war auch die Duisburgerin Ivana Hoffmann. Sie starb am 7. März 2015 als „Avaşîn Têkoşin Güneş“ und gilt als erste Internationalistin, die im bewaffneten Kampf gegen den IS ums Leben kam.
Assyrische Kirche in Til Temir
Khamis: Türkei ist ein Kolonialstaat
„Es bestehen rein gar keine Unterschiede in der Mentalität der Islamisten und des türkischen Staates. Als die Dschihadisten vor einigen Jahren über das Khabur-Tal herfielen, waren unsere Kirchen und andere heilige Stätten das erste anvisierte Ziel. Dieses Szenario hat sich im Verlauf der jüngsten Invasion wiederholt. Bisher wurden sechs unserer Kirchen von türkischen Kampfdrohnen dem Erdboden gleichgemacht. Andere wurden zu einem großen Teil beschädigt“, sagt Madeleine Khamis. Die Kommandantin, die zugleich Mitglied des Militärrats der Khabur-Wächter ist, bezeichnet die Türkei als einen „Kolonialstaat“, der nach dem Prinzip Divide et impera, teile und herrsche, seine alte Strategie der Teilung von Territorien, Spaltung der Bevölkerung und Verwirrung der Sozialstruktur bis heute verfolge und ständig verfeinere. Das gleiche Szenario wie in Hatay 1938 soll im Rahmen der neo-osmanischen Expansionspläne im gesamten Grenzstreifen umgesetzt werden, sagt Khamis.
„Die Türkei will ihre Grenzen erweitern, indem sie Teile von Nordsyrien abtrennt und annektiert. Die Assyrer akzeptieren den türkischen Staat weder in ihrem Siedlungsgebiet noch in anderen Teilen Nordostsyriens. Denn die türkische Bedrohung ist eine existenzielle Bedrohung“, fährt Khamis fort. Die genozidale Gewalt gegen Assyrer und andere christliche und ethnische Volksgruppen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des türkischen Staates und die des Osmanischen Reiches, dessen Nachfolgerin die Türkei ist. Als über 1,5 Millionen Armenier im Verlauf des Ersten Weltkriegs Opfer eines Genozids unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung wurden, starben bei Pogromen, Deportationen und Massakern auch etwa 500.000 Suryoye, davon 300.000 Assyrer, und Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen, die nicht ins Nationsverständnis der „türkisch-islamischen Synthese“ passten. Der in Hesekê geborene Historiker Joseph Yacoub bezeichnet den Genozid an den Suryoye als „versteckten Völkermord“, da die Wissenschaft diesem Ereignis kaum Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ.
Bei Angriffen beschädigte Kirche
Wir sind die Nachkommen von Überlebenden
„Wir im Khabur-Tal sind die Nachkommen von Überlebenden dieser Geschehnisse. Die Türkei hingegen ist seit eh und je eine Aggressorin, die das zivilisatorische Erbe der christlichen Siedlungsgebiete vernichtet“, sagt Khamis. Außer an einem an der eigenen Ethnie orientierten Nationalismus und der daraus resultierenden Zerstörung habe der türkische Staat zu nichts beigetragen. „Auch heute greift er unsere Regionen an und exportiert den islamistischen Terror nach Nordostsyrien, um uns auszulöschen. Solange weiterhin Schweigen herrscht, das Treiben der türkischen Regierung von der internationalen Gemeinschaft gebilligt wird, der Aufschrei auch jetzt noch ausbleibt, wird auch der letzte Assyrer die Region verlassen. Niemand wird in seine Heimat zurückkehren können.“