Seit mehr als sieben Wochen greift die Türkei völkerrechtswidrig die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens an. Mit der durch die USA und Russland abgesegneten Besetzung der Städte Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) und umliegender Dörfer durch den NATO-Partner und seine dschihadistischen Hilfstrupps mussten bisher rund 300.000 Menschen ihre Wohnorte verlassen. Dennoch ist Ankara noch immer nicht zufrieden. Insbesondere die Dörfer rund um Til Temir und die an der strategisch wichtigen Verkehrsstraße M4 gelegene Kleinstadt Ain Issa stehen im Fokus der Invasionstruppen. Die Region liegt außerhalb der angestrebten sogenannten „Sicherheitszone”, einem dreißig Kilometer tiefen Streifen an der türkischen Grenze, und wird unvermindert angegriffen. Ankara will sein Besatzungsregime auch auf die anderen Städte an der Grenzlinie ausdehnen, um das eigentliche Ziel hinter dem geforderten Rückzug der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) umzusetzen: die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei und ihrer Proxy-Armee SNA („Syrische Nationalarmee”) im Grenzstreifen. Von einer Waffenruhe, wie sie Ende Oktober in Sotschi zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin vereinbart wurde, kann daher keine Rede sein.
Bereits 70 Dörfer in Til Temir von der Türkei besetzt
Til Temir befindet sich bereits seit Wochen unter dem pausenlosen Feuer der Invasionstruppen. Die Stadt und der Landkreis sind auch als Klein-Syrien bekannt, denn viele der ethnischen und religiösen Komponenten Syriens finden sich in der Kleinstadt und ihren Dörfern wieder. In Til Temir leben Suryoye, Armenier, Kurden und Araber zusammen. Die Stadt wurde von Suryoye, die das Semile-Massaker zwischen 1933‒1935 überlebten, und von Kurden gegründet. Sie liegt etwa 40 Kilometer nördlich von Hesekê. Kampfverbände wie die „Khabur-Wächter“ oder der Militärrat der Suryoye (MFS) spielten schon im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) im Jahr 2015 eine wichtige Rolle bei der Rückeroberung und Selbstverwaltung christlich bewohnter Gebiete in Til Temir. Damals hatte sich auch eine christliche Fraueneinheit der Khabur-Wächter gebildet, um dem IS die Stirn zu bieten. Heute leisten die Kämpferinnen und Kämpfer des Verbands Widerstand gegen die Türkei.
Madeleine Khamis gehört zu den Mitgliedern der Khabur-Wächter. In einem Interview äußerte sich die erfahrene Kommandantin zur aktuellen Lage in der Region. Ihren Angaben nach wurden in Til Temir bereits 70 Dörfer durch die türkisch-dschihadistischen Invasionstruppen besetzt. Hunderte christliche Familien mussten ihre Häuser verlassen.
Existenz der christlichen Bevölkerung Syriens akut bedroht
„Seit Beginn der Invasion leisten wir auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung Widerstand gegen die Besatzer. Hätte man zuvor eine Flugverbotszone im nordsyrischen Luftraum eingerichtet, wäre es der Türkei kaum möglich gewesen, unsere Regionen zu besetzen. Wir haben mehrfach die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, die sofortige Schließung des Luftraums durchzusetzen. Aber wir stießen immerzu auf taube Ohren. Die internationalen Kräfte verweisen nach wie vor auf den angeblichen Waffenstillstand. Der wird allerdings von der Türkei und ihrer islamistischen Proxy-Armee nicht eingehalten“, betont Khamis.
Zwischen Serêkaniyê und Til Temir betreiben die Khabur-Wächter fünf Verteidigunspositionen. Auch Regimesoldaten und Angehörige des MFS haben Stellungen in der Region. Khamis erwähnt, dass starke Truppenkonzentrationen in den bereits besetzten Dörfern beobachtet werden. „Die Proxys der Türkei bereiten sich auf einen großen Angriff vor. In Til Temir gibt es eine Reihe strategisch wichtiger Ortschaften wie beispielsweise Til Tewil und Til Werd. In beiden Dörfern dominieren zwei Hügel die Region. Andererseits ist Til Tewil - ein assyrisches Dorf – die erste bewohnte Gegend auf der Strecke zwischen Serêkaniyê und Til Temir. Deshalb soll es in jedem Fall besetzt werden. Das Dorf Til Werd ist ebenfalls von Belang, da es an einer Transitstraße zwischen Zirgan und Til Temir liegt. Wir halten nach wie vor unsere Stellungen und werden bis zuletzt Widerstand leisten, um unsere Wohnorte zu verteidigen. Durch die Angriffe ist das Leben der Zivilbevölkerung allerdings akut bedroht,” unterstreicht Khamis.
Fortsetzung der Vertreibung von Christen im Sinne des armenischen Genozids
Die Türkei habe eine blutdurchtränkte und dunkle Vergangenheit, erklärt Madeleine Khamis. Sie könne auf eine lange Geschichte voller Massaker und Völkermorde zurückblicken und trete heute noch für das Erbe des Osmanischen Reiches ein. Mit den Angriffen auf die aramäische, assyrische und armenische Bevölkerung Nordostsyriens wolle das NATO-Land die gewaltsame Vertreibung der Christen im Sinne des Völkermords von 1915 fortsetzen. „Unser Widerstand gegen die neo-osmanischen Pläne wird jedoch weitergehen“, bekräftigt Khamis.