„IS und MIT planten das Massaker von Girê Spî gemeinsam“

Der von den QSD gefangengenommene IS-Emir Ilyas Aydin berichtet gegenüber ANF von der gemeinsamen Planung zwischen dem IS und dem türkischen Geheimdienst MIT für den Angriff auf Girê Spî.

Am 27. Februar 2016 begann die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) vom Süden her mit hunderten Söldnern, die zuvor befreite nordsyrische Stadt Girê Spî (Tall Abyad) anzugreifen und die Zivilbevölkerung systematisch zu ermorden. Der Angriff wurde vom Norden durch die türkische Armee, die Girê Spî und seine Verteidiger*innen unter Artilleriebeschuss nahm, unterstützt. Ankara ließ die IS-Dschihadisten mit allem nötigen ausstatten und versorgte sie mit Geheimdienstinformationen. Unterdessen massakrierte der IS Dutzende Zivilist*innen und mehrere Kämpfer*innen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Nach erbitterten Kämpfen wurde der IS bis zum 1. März erfolgreich zurückgeschlagen.

Der von den QSD gefangengenommene IS-Emir Ilyas Aydin berichtet gegenüber ANF von der gemeinsamen Planung zwischen dem IS und dem türkischen Geheimdienst MIT für den Angriff auf Girê Spî.

Auf türkischer Seite sollte hier eine Einheit der Armee namens „Einheit und Fortschritt“ eine zentrale Rolle übernehmen. Der Name lehnt sich an die berüchtigte jungtürkische Bewegung im Osmanischen Reich an, die zu den Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern zählt. Aydin berichtet von Treffen über Pläne für ein Massaker im Jahr 2016, die der MIT über diese Gruppe, die wir auch als neuen JITEM bezeichnen können, an den IS weiterleitete.

„Es war kurz vor dem Angriff auf Tall Abyad. Vom ersten Tag an bildeten Rashid Misri und Abu Bara Kurdi die Verbindung zum türkischen Geheimdienst. Dazu hatten sie ein eigenes Telefon bei sich. Sie kamen in meine Wohnung in Tabqa und sagten: ‚Die Türken haben uns geschrieben. Sie wollen sich treffen, wir gehen ins Internet.‘“, so der IS-Emir.

„Die jungtürkischen Offiziere der türkischen Armee“

Aydin behauptet, vom MIT von einer Gruppe des Geheimdienstes mit dem Namen „Einheit und Fortschritt“ innerhalb der türkischen Armee erfahren zu haben. Die Gruppe habe demnach mit Rashid Misri Kontakt aufgenommen und kurz vor dem Massaker am 27. Februar 2016 in Tall Abyad vom IS gefordert, mit ihnen zeitgleich von zwei Seiten die Stadt anzugreifen: „Rashid wurde am Telefon gesagt, ‚Wir greifen Tall Abyad von hier (Türkei) aus an, ihr kommt von unten.‘ Der IS-Sprecher Adnani wollte, dass ich an dem Treffen teilnehme. Er wollte verstehen, was passiert.“

„Kurze Zeit darauf griffen 200 Personen von Raqqa aus an“

Ilyas Aydin berichtet, gemeinsam mit den IS-Dschihadisten Rashid und Abu Bara Kurdi in ein Internet-Cafe gegangen zu sein, das Treffen habe jedoch nicht stattfinden können, da der Kommandant der Gruppe nicht bereit gewesen sei. Daraufhin sei Aydin erklärt worden, dass man sich wieder mit ihm in Verbindung setzen würde, sollte er gebraucht werden: „Sie kamen nicht nochmal. Aber kurze Zeit später griffen 200 IS-Leute Tall Abyad an. Savaş Yıldız war einer von ihnen.“ Der IS-Dschihadist Savaş Yıldız (Codename Ebu Cihad), war einer der Täter der Bombenanschläge auf die HDP in Adana und Mersin im Mai 2015. Er wurde nach dem Massaker im Februar 2016 in Girê Spî verletzt gefangengenommen und gestand anschließend, dass die Angriffe in Zusammenarbeit mit dem MIT stattgefunden haben.

„Verbrannter türkischer Soldat Fethi Şahin sprach ebenfalls von ‚Einheit und Fortschritt‘“

Am 22. Dezember 2016 verbrannte der IS zwei türkische Soldaten. Einer von ihnen war Fethi Şahin. Fethi Şahin hatte in seinem IS-Verhör erklärt, einer Gruppe des Jandarma-Geheimdienstes mit dem Namen „Einheit und Fortschritt“ anzugehören. Ilyas Aydin nennt weitere Details: „Fethi Şahin hat gegenüber dem Emir Abu Ahmet Azeri, einem Verantwortlichen des IS-Geheimdienst, den Namen ‚Einheit und Fortschritt‘ erwähnt. Genaugenommen erklärte er: ‚Für unsere Gruppe wurden 200 Personen ausgebildet, um den Islamischen Staat zu infiltrieren.‘“

Fethi Şahin gehörte zur Jugendabteilung der MHP

Ilyas Aydin gibt an, dass Fethi Şahin vom IS Ende 2014 in Girê Spî festgenommen wurde. Zu dessen Aussagen im IS-Verhör berichtet Aydin: „Fethi Şahin gab an, für eine dem Innenministerium unterstehende Geheimdiensteinheit zu arbeiten, deren Befehle allerdings vom Militär erteilt wurden. Damit meine ich den militärischen Geheimdienst [Geheimdienst-Organisation der Gendarmerie]. Er sei dieser Einheit nach Abschluss seiner Rekrutenausbildung in Tekirdağ zugeordnet worden. Daraufhin wurde er zu einer Militäreinheit in Konya geschickt. Er sagte, er habe dort einen Militärkommandanten namens Yener getroffen und mit ihm gearbeitet. Er war auch MHPler. Im Verhör gab er an, der Jugendabteilung der MHP [rechtsextreme Partei in der Türkei] anzugehören.“

„Wir hatten begriffen, dass es sich um Verantwortliche für Syrien handelte“

Zur Gruppe „Einheit und Fortschritt“ erklärt Ilyas Aydin: „Nach unseren Informationen gab es tatsächlich eine Gruppe mit diesem Namen. Ihre Aufgabe bestand darin, den IS zu Infiltrieren und das unter Kontrolle der YPG stehende Tall Abyad anzugreifen. Diese Information zeigt, dass diese Gruppe große Befugnisse in Bezug auf Syrien hat. Ich weiß allerdings nicht, was genau mit diesen Vollmachten zugebilligt wird und welches Ausmaß sie haben.“

Der neue JITEM: Damals „Einheit und Fortschritt“ heute „Kıyam-Miliz“

Nach unseren Recherchen zu den Aussagen Aydins steht fest, dass es eine Gruppe des Geheimdiensts der Jandarma mit dem Namen „Einheit und Fortschritt“ gibt. Sie wurde im Jahr 2014 gegründet, um gegen die kurdische Frage und andere für die Interessen des türkischen Staates als störend angesehene Faktoren Konteraktivitäten zu entfalten. Insofern stellt diese Gruppe eine aktualisierte Form der berüchtigten Todesschwadronen JITEM dar, einer informellen Einheit innerhalb der türkischen Gendarmerie. Die Einheit teilt sich in zwei Abteilungen: Die Abteilung „Fortschritt“ besteht aus technischen Spezialisten, während die Abteilung „Einheit“ dafür verantwortlich ist, praktische Aktivitäten zu entwickeln. Auch wenn die Gruppe in ihren Gründungsjahren nicht dem Innenministerium unterstand, arbeitete sie inoffiziell für dieses. 2016 wurde die Jandarma offiziell an das Innenministerium angebunden, diese Gruppe änderte daraufhin ihren Namen in „Kıyam-i Milli.“ Unsere Quelle berichtet, dass diese Gruppe jungtürkisch ausgerichtet sei und im türkischen Staat zur Richtung des MHP-Chefs Devlet Bahçeli gehört.

IS schwieg zu „Einheit und Fortschritt“

Die türkische Armee gab erst fast ein Jahr nach der Ermordung der beiden türkischen Soldaten durch den IS am 7. Oktober 2017 eine Erklärung ab, die allerdings nur Sefter Taş betraf. In einem vom IS verbreiteten Hinrichtungsvideo hatte Taş erklärt: „Ich bin 26 Jahre alt und stamme aus Konya. Ich arbeite für den Geheimdienst der Jandarma. Mein Dienstort ist Tekirdağ.“ Zu Fethi Şahin hat die türkische Armee bis heute kein Wort verloren. Während die Familie Şahins bisher ebenfalls keine Äußerung zu seiner Verbrennung abgegeben hat, behauptete die rechtsextreme Zeitung Aydınlık, eine der stärksten Unterstützerinnen der Regierung damals, dass Şahin kein Soldat gewesen sei, sondern drei Jahre zuvor zum IS desertiert wäre. Der IS hat nach der Verbrennung der Soldaten die Gruppe „Einheit und Fortschritt“ nicht dechiffriert. Ilyas Aydin bestätigt, dass so der Angriff auf Girê Spî auf gemeinsamen Treffen vorbereitet und noch durchgeführt werden konnte. So wird deutlich, dass die Profitbeziehung zwischen dem IS und der Türkei trotz der Verbrennungen weiterging.

„Auf dem Treffen mit dem MIT war von Fethi Şahin nicht die Rede“

Ilyas Aydin spricht von mindestens vier bis fünf Treffen zwischen dem IS und dem MIT. Auf dem ersten sei es um den Austausch des türkischen Offiziers Özgür Örs gegangen, beim zweiten Treffen um den Austausch der Konsulatsmitarbeiter in Mosul. Im Jahr 2014 wurde Özgür Örs tatsächlich gegen IS-Gefangene ausgetauscht, später kamen auch die Konsulatsmitarbeiter frei.

Aydın berichtet, dass er Ende 2015 an zwei dieser Zusammenkünfte teilgenommen hat. Er erzählt: „Das erste Treffen fand am Tag der Explosion in Ankara statt, das zweite etwa zwei Monate später. Auf diesen Treffen war von Fethi Şahin nicht die Rede. Wir haben von Sefter Taş gesprochen. Zu dieser Zeit wusste die MIT-Delegation nichts von Fethi Şahin. Möglicherweise tat sie es doch, hat sich uns gegenüber aber unwissend verhalten.“ Ilyas Aydin sagt, es habe in Bezug auf „Einheit und Fortschritt“ noch weitere geheime Absprachen zwischen dem IS und der türkischen Armee gegeben.

„Es ging ihnen nicht um die Rettung der Soldaten, sondern um Dscharablus und Bab“

Über die Treffen mit dem MIT in Kilis/Elbeyli erzählt Aydin: „Wir haben über verschiedene politische Themen gesprochen. Wir wollten, dass unsere internationalen Kämpfer freigelassen werden und ihr Grenzübertritt nicht behindert wird. Dafür hatten wir ihnen eine Liste übergeben. Sie wollten von uns, dass wir das Gebiet, dass wir Azele nennen, einen Streifen von 33 Kilometern von Dscharablus nach Bab räumen. Sie wollten, dass wir ihre Soldaten freilassen. Aber sie haben unsere Forderungen nicht erfüllt. Sie sagten, sie könnten sie erfüllten, wenn wir diesen Streifen räumen und zulassen, dass sich dort die FSA niederlässt. Es ging ihnen in allem, was sie verlangten, um dieses 33 Kilometer große Gebiet. Die Erfüllung aller anderen Forderungen und die Frage der Soldaten haben sie daran gebunden.“

Wer ist der Kontaktmann zum türkischen Geheimdienst „Rashid“?

Aydin hatte berichtet, dass es der Dschihadist mit dem Codenamen „Rashid Misri“ gewesen sei, der von Anfang an den Kontakt zum türkischen Geheimdienst herstellte und dazu eigens ein Telefon mit sich führte. Misri sei auch im Jahr 2014, als der IS Girê Spî kontrollierte, der IS-Verantwortliche für die Grenze gewesen. Der ebenfalls an den Treffen teilnehmende Abu Bara Kurdi sei zu dieser Zeit der IS-Geheimdienstverantwortliche der Stadt gewesen. Aydin gibt noch an: „Während zu der Zeit der Austausch der Konsulatsmitarbeiter aus Mosul stattfand, nahmen Rashid und Abu Bara von Tall Abyad aus Kontakt mit Abu Hakan auf, der uns gegenüber den MIT vertrat. Sie kennen sich also aus dieser Zeit. Der MIT-Agent „Abu Hakan“ war damals Geheimdienstverantwortlicher in der Region Urfa-Mardin.“