Türkischer IS-Emir: Anschlag von Ankara auf Anweisung des Kalifen

Im zweiten Teil des Interviews mit dem türkischen IS-Emir Ilyas Aydin erklärt dieser, dass die Anweisung für den Anschlag von Ankara, bei dem im Oktober 2015 mehr als hundert Menschen starben, direkt von Abu Bakr al-Baghdadi kam.

Im Interview mit dem Journalisten Nazım Daştan hat der IS-Emir Ilyas Aydin brisante Informationen zu den Beziehungen zwischen der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) und dem türkischen Geheimdienst MIT preisgegeben. Der Islamist, der zu den Hauptverantwortlichen des IS in der Türkei gehört, befindet sich seit einiger Zeit in Nordsyrien in Haft. Er wurde von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) bei ihrer Offensive gegen den IS in Deir ez-Zor gefangengenommen. Aydin, der sich beim IS Abu Ubeyde nannte, hatte sich im ersten Teil des Interviews bereits zur Rolle des MIT bei den IS-Anschlägen von Pirsûs (Suruç) und Ankara geäußert. Nun sprach der IS-Emir über weitere Details zu den Anschlägen und äußerte sich zum IS-Rückzug aus Cerablus sowie zum Tod von zwei türkischen Soldaten, die vom IS bei lebendigem Leib verbrannt wurden.

Aydin erklärt zunächst, bei der Führungsriege des IS äußerst beliebt gewesen zu sein. Zweimal habe er in der Türkei am Verhandlungstisch mit dem MIT gesessen. Das erste Treffen habe am 10. Oktober 2015 stattgefunden, dem Tag, an dem sich in Ankara zwei IS-Attentäter inmitten einer Friedensdemonstration in die Luft sprengten und mehr als hundert Menschen mit in den Tod rissen. Als Reaktion darauf, dass auch das zweite Gespräch nicht die erhofften Ergebnisse brachte, sei entschieden worden, die am 1. September 2015 vom IS entführten türkischen Soldaten Fethi Şahin und Sefer Taş zu töten, sagt Aydin.

Treffen mit MIT zu entführten Soldaten

Zum Verhandlungstisch mit dem MIT seien Aydin und zwei weitere IS-Mitglieder von Abu Mohammad al-Adnani, dem damaligen Chef des IS-Geheimdienstes, geschickt worden. Das Treffen mit einer Delegation aus Regionalverantwortlichen des türkischen Geheimdienstes habe in der nordsyrischen Grenzgemeinde ar-Rai (Çobanbey) stattgefunden. Weiter heißt es: „Mit dem MIT war schon nach der Konsulatsgeschichte (Verschleppung türkischer Konsulatsmitarbeiter in der nordirakischen Stadt Mosul im Juni 2014) und der Entführung des Unteroffiziers Özgür Örs verhandelt worden. Beide Male wurde ein Gefangenenaustausch ausgehandelt, um so jeweils rund 60 bis 70 Glaubensbrüder (‚Muhacır’, türkisch für islamischer Zuwanderer) freizubekommen. Auch dieses Mal setzten sie (MIT) sich mit uns an den Tisch. Eine von uns, ein Ägypter namens Rashid, hatte bereits an früheren Gesprächen mit dem MIT teilgenommen. Sie wussten nicht, dass ich Türke bin. Schon nach kurzer Zeit fragten sie uns, warum wir die türkischen Soldaten entführt haben - die Soldaten waren unseren Leuten an der Grenze bei einem Hinterhalt ins Netz gegangen. Wir antworteten, dass die Soldaten unsere Grenze verletzt hätten. ‚Schließlich werden unsere Glaubensbrüder auf dem Weg zu uns von euch festgenommen‘, sagten wir und wollten wissen, warum Touristen gefangen genommen werden.“

Forderungen des MIT

Das Gespräch habe sehr lange gedauert, meint Aydin sich zu erinnern. Den MIT-Verantwortlichen sei es einzig um die Freilassung der Soldaten gegangen. „Sie sagten ‚Lasst sie frei, über den Rest können wir später reden‘. Daraufhin forderten wir, dass unseren Glaubensbrüdern an der Grenze freies Geleit gewährt wird. Nach der Explosion in Suruç war es schwieriger für Zuwanderer geworden, in den Islamischen Staat zu kommen. Die MIT-Verantwortlichen erklärten uns, dass die Türkei international unter Druck gesetzt werde, damit die Grenzen geschlossen werden. Deshalb müssten sie nun etwas gegen uns unternehmen.

Wir entgegneten, dass wir nicht nur gegen sie kämpften. ‚Von Aleppo über Iran bis nach Diyala kämpfen wir gegen jeden‘, sagten wir. Uns ging es darum, die Verhandlungsmacht nicht zu verlieren, aber zu effektiven Ergebnissen ist es bei dem Treffen nicht gekommen. Die MIT-Verantwortlichen signalisierten, für unser nächstes Treffen einen Plan auszuarbeiten, mit dem zukünftig die Grenzübertritte aus der Türkei einfacher würden und wie unsere Zusammenarbeit aussehen könnte, ohne sich gegenseitig Schaden zuzufügen“, berichtet Aydin.

Anschlag von Ankara während MIT-Treffen

Noch während der IS mit dem MIT verhandelte, sei es zu dem Anschlag von Ankara gekommen. Aydin erklärt dazu: „Mitten im Gespräch klopfte es an der Tür und die Person, die mit uns sprach, wurde nach draußen gerufen. Als er wieder reinkam, sagte er: ‚Auf einer Demonstration von Kurden und Linken ist eine Bombe explodiert. Wart ihr das?‘ Wir hatten keine Ahnung. Ich fragte einen unserer Leute, er sagte, dass es gut sein könne, dass der Anschlag auf unser Konto geht. Normalerweise war das Gespräch mit dem MIT für den Vortag geplant. Zuerst wollten wir verhandeln, einen Tag später sollte die Bombe hochgehen. Das sollte als eine Botschaft empfunden werden. Die Einheit (die den Angriff durchführte) wusste aber nicht, dass das Treffen um einen Tag verschoben worden war. Jede Einheit arbeitet unabhängig. Diese hatte für eben genau diesen Tag den Auftrag erhalten, die Bombe zu sprengen. Wir riefen sofort bei unseren Leuten an, damit sie uns abholten.“

Zweites Treffen

Nach diesem für den IS „ergebnislosen“ Gespräch mit Verantwortlichen des türkischen Geheimdienstes habe etwa drei Monate später – ebenfalls in ar-Rai – ein zweites Treffen mit dem MIT stattgefunden, erzählt Aydin. Doch zunächst gibt der IS-Emir Details zu den Anschlägen von Ankara und Pirsûs preis: „Als wir bei unseren Leuten waren, fragten wir, warum es zu der Sache gekommen ist, während das Treffen noch lief. Sie entgegneten, dass sie sich im Datum geirrt hätten. Für das nächste Gespräch mit dem MIT wurde uns aufgetragen, wir sollten sagen, dass der Anschlag von Ankara auf Anweisung des Kalifen geschah, der Anschlag von Suruç jedoch nach dem Idschtihad angewandt wurde. Er sei nicht vom Kalifen befohlen worden, die Community hätte auch nichts darüber gewusst. Aber alles, was nach Suruç geschah, passierte mit der Erlaubnis der Community. Natürlich haben wir das Erdoğan bei unserem zweiten Treffen ausrichten lassen. Wir sagten den MIT-Leuten, dass wir bereit für Angriffe sind, sollten sie unsere Glaubensbrüder auf ihrem Weg in den Islamischen Staat weiter belästigen, und deuteten auf bereits auserwählte Ziele und unsere Pläne hin. Ihnen wurde zu verstehen gegeben, dass wir bereit sind, Bagdad und Damaskus aufzugeben, um Kostantiniyye (Istanbul) zu erobern, sollten sie an dieser neuen Politik festhalten. Dies war die Botschaft von Abu Bakr al-Baghdadi.

Gegenseitige Drohungen

Die vom MIT waren perplex, so etwas hatten sie nicht erwartet. Deshalb reagierten sie auf diese Botschaft mit Drohungen. Wir erinnerten sie daran, dass unsere Organisation bekannt dafür ist, vor laufenden Kameras zu töten. John (Mohammed Emwazi aka „Jihadi John“, war in verschiedenen im Internet verbreiteten Videos an der Hinrichtung von Geiseln des IS beteiligt) hat US-Amerikaner, Japaner und Jordanier enthauptet. ‚Wenn Ihr wollt, können türkische Soldaten auch in so eine Situation geraten‘, sagten wir. Sie antworteten: ‚Unsere Kinder sterben tagtäglich für ihr Vaterland. Zwei mehr oder weniger machen nichts aus‘. Das gesamte Gespräch handelte von Drohungen und Machtproben“, bemerkt Ilyas Aydin.

Forderung zum Rückzug aus Cerablus

Ein anderes Thema, das bei diesem Treffen Gegenstand der Verhandlungen zwischen dem IS und dem MIT gewesen sei, war nach Angaben Aydins die Forderung der türkischen Seite, dass sich die Terrormiliz aus der nordsyrischen Stadt Cerablus zurückziehen solle. „Wir sollten uns um 33 Kilometer zurückziehen. Der IS hat das nicht akzeptiert. 33 Kilometer weg von Cerablus hätte bedeutet, bis auf die Autobahn von Aleppo zu ziehen. ‚Der Handel bleibt weiterhin aufrecht, Autos haben freie Fahrt, aber die Region muss uns überlassen werden‘, lautete die Forderung. Als Abu Adnani, Abu Furkan und Abu Osama al-Iraki, der Schwiegersohn von Baghdadi, bei einem Luftangriff getötet wurden, hat sich die Organisation aus Cerablus zurückgezogen. Cerablus ist der einzige Ort, aus dem sich der IS nach einer Übereinkunft zurückgezogen hat. In allen anderen Städten wurde gekämpft. Insbesondere in al-Bab haben wir gegen sie (türkische Armee) gekämpft. Sie sagten uns, die USA und Russland verfolgten gewisse Pläne in der Region, außerdem hätten sie Informationen darüber, dass die USA über Minbic und Russland über Aleppo zuschlagen würden, um die Region zu erobern. Wir erwiderten, dass wir bereit zur Verteidigung sind. In Tell Abyad zogen wir uns zurück, dies kam uns teuer zu stehen, hier werden wir nicht denselben Fehler machen, sagten wir. Später kam es dann zum Agreement für Cerablus. Nach dem Rückzug wollten wir von unseren Verantwortlichen wissen, wieso es dazu kam. Sie erklärten: ‚Sollen die Türken doch gegen die Kurden vorgehen. Wenn die Kurden gestoppt werden, hören die Luftangriffe auch auf, da die Türken dann hier sind‘.“

Ölgeschäfte

Dass die Terrormiliz IS beachtliche Einnahmen mit Ölverkäufen hat, ist bekannt. Aydin berichtet von Forderungen an den MIT, die Ölgeschäfte mit der Türkei nicht über den Schwarzmarkt abzuwickeln und stattdessen den Ölhandel zu legalisieren. Die Parteien seien sich bei diesem Thema nicht einig geworden, ohnehin hätte der Islamische Staat zu dem Zeitpunkt ganz unbehelligt Öl an das syrische Regime verkauft.

Liste mit IS-Mitgliedern

Dem IS-Emir fällt im Laufe des Gesprächs ein weiteres Detail zum ersten Treffen mit dem türkischen Geheimdienst ein. Demnach habe die Terrormiliz eine Liste mit den Namen von 250 IS-Mitgliedern, deren Übergabe gefordert wurde, an den MIT übergeben. Eine ganze Reihe dieser Personen, unter denen sich auch mehrere „Glaubensbrüder“ befunden hätten, sollen Sprengstoff in die Türkei transportiert haben. „Keine der Personen auf der Liste wurde uns übergeben. Stattdessen hat man uns andere Leute ausgehändigt.“

Türkische Soldaten verbrannt

Ilyas Aydin erklärt, an weiteren Treffen mit türkischen MIT-Verantwortlichen nicht teilgenommen zu haben, da seine Identität aufgeflogen war. „Ganze fünf aufeinanderfolgende Tage liefen in den Nachrichten Meldungen zu meiner Person. Daraufhin entschloss ich mich, an keinen weiteren Gesprächen teilzunehmen. Ich unterhielt mich aber mit den Personen, die beim dritten MIT-Treffen anwesend waren. Es war wieder zu keiner Einigung gekommen. Daraufhin wurde die Audiobotschaft von al-Baghdadi veröffentlicht, in der zu Angriffen auf die Türkei aufgerufen wurde. Im Grunde war es die Ansage, dass sich die Türkei-Politik der Organisation geändert hatte. Kurz darauf wurden die Soldaten verbrannt. Ich kannte die Leute, die das Video dazu gedreht haben. Ich war im Vorfeld gefragt worden, wer dafür in Frage käme, die Soldaten zu töten. Zwar wusste ich nicht, dass sie verbrannt werden sollten, aber ich schlug Personen vor, denen ich vertraute. Bei demjenigen, der die Soldaten in Brand setzte, handelt es sich um Hasan Aydin. Ich kannte ihn, er gehörte zur Adana-Gruppe meiner Gemeinde. In der Türkei hatten wir zusammengearbeitet. Später wurde er in Hajin getötet.“