Ein Jahr armenisches Bataillon in Rojava

Vor einem Jahr, zum 104. Jahrestag von Aghet – dem Genozid an der armenischen Bevölkerung – wurde das Bataillon Nubar Ozanyan gegründet. Ein Signal an alle Armenier und Kurden, dass Befreiung in der Einheit liege, sagen die Kommandanten.

Das vor einem Jahr zum Völkermordgedenktag gegründete armenische Bataillon „Şehîd Nubar Ozanyan“ ist ein fester Bestandteil der Revolution von Rojava und ihrer Verteidigung. Es ist benannt nach dem Armenier Nubar Ozanyan (Nom de Guerre: Orhan Bakırcıyan), der am 14. August 2017 in Raqqa als Kommandant der türkisch-kommunistischen Organisation TKP/ML-TIKKO im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gefallen ist. Wir haben anlässlich 105 Jahren Genozid an den Armeniern mit Nubar Melkonian, einem der Kommandanten des armenischen Kampfverbands, über die Geschichte und Zukunft des Bataillons gesprochen. Zum geschwisterlichen Zusammenleben der kurdischen und armenischen Bevölkerung im Norden Syriens sagt er: „Es stellt ein Signal an die auf der Welt verstreuten Kurden und Armenier dar: unsere Befreiung liegt in der Einheit.“

Wie steht die armenische Bevölkerung zur Revolution in Rojava und wie nimmt das erste armenische Bataillon Syriens an dieser Revolution teil?

Die Revolution von Rojava ist nicht allein eine Revolution der Frauen, es handelt sich um eine Revolution der unterdrückten Völker, die hier leben. Außerdem ist diese Revolution nicht nur auf die Menschen, die hier leben beschränkt. Innerhalb der von der kurdischen Freiheitsbewegung angestoßenen Revolution haben sich die unterdrückten Araber, Suryoye und Armenier ebenfalls selbst wiedergefunden. Die Revolution von Rojava hat die verstreuten, gespaltenen Völker, die unter Trümmern auf der Suche nach ihrer Identität sind, aufgeweckt. Sie hat insbesondere bei der Bewusstwerdung der islamisierten armenischen Bevölkerung eine entscheidende Rolle.

Die armenische Identität, die in der Türkei erniedrigt, verletzt und als Schimpfwort benutzt wird, hat hier Würde und Willen gewonnen. Wir haben unsere Identität zurückgewonnen. Das haben wir vollständig der Revolution von Rojava zu verdanken. Deswegen sollten wir als allererste diese Revolution verteidigen. Wenn wir sie verteidigen, verteidigen wir unsere Wurzeln und unsere Identität.

So wie viele andere Unterdrückte, die an der Revolution teilnehmen, haben auch die Revolutionäre des armenischen Volks ihren Platz eingenommen und Opfer erbracht. Einer von ihnen war unser Genosse Nubar Ozanyan. Er stand hier bei allen Offensiven an der Spitze und hat viele Kämpfer ausgebildet. Er hat selbst am Widerstand teilgenommen und gegen die Dschihadisten gekämpft. Er war als Frontkommandant im Einsatz und leistete einen wichtigen Beitrag für die Teilnahme des armenischen Volkes an der Revolution.

Was haben Sie im vergangenen Jahr gemacht, wie haben Sie sich organisiert?

Im vergangenen Jahr haben wir uns mit unseren eigenen Wurzeln beschäftigt und daran gearbeitet, unsere historische Identität zurückzugewinnen. Das war nicht leicht. Jeder Armenier, der hierherkam, ist auf eine bestimmte Art assimiliert gewesen und hatte seine wahre Identität verloren. Die Freunde sagten immer wieder, wenn sie hierherkamen: ‚Wir dachten, wir wären die einzigen Armenier.‘ Sie haben gesehen, dass es hier eine armenische Kraft gibt. Das hat ihnen Stärke und Entschlossenheit gegeben. Während wir ihnen dabei halfen, ihre Identität zurückzugewinnen, haben wir ihnen auch gezeigt, dass wir uns verteidigen müssen, um nicht zu Opfern eines zweiten Genozids zu werden, und dass wir an dieser Front stehen müssen. Die Freunde sind in dieser Hinsicht wichtige Schritte gegangen. Wir haben ihnen gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn wir unsere Geschichte und unsere Sprache bewahren, sondern dass wir auch dieses Land verteidigen müssen. Das Bataillon wurde militärisch ausgebildet und war sowohl in Til Temir als auch in Serêkaniyê an der Front. Es kämpft weiterhin, um dieses freie Land zu verteidigen.

Aber wir haben auch eine verlorene Sprache und Kultur. In unserem Bataillon gibt es militärische Ausbildung, die armenische Sprache wird erlernt, es wird sich mit der Geschichte des Genozids beschäftigt und Sprache und Kultur gelebt. Das setzen wir immer weiter fort. Genauso, wie wir die Revolution auf internationaler Ebene unterstützen, treten wir auch für das armenische Volk ein. Die gelebte kurdisch-armenische Geschwisterlichkeit und Freundschaft ist ein wirklich wichtiger Schritt. Sie stellt ein Signal an die auf der Welt verstreuten Kurden und Armenier dar, unsere Befreiung liegt in der Einheit. Das hier ist ein Ausdruck dieser Realität. Wir wollen, dass es auf diese Weise weitergeht und die Einheit wächst.

Woher kommen die Mitglieder des Bataillons? Haben Sie auch Mitglieder aus anderen Ländern?

Es haben sich Menschen aus Hesekê, Serêkaniyê, Til Temir, Çiyaye Ebduleziz und der Umgebung dem Bataillon angeschlossen. Es kamen auch Menschen aus Armenien und es wollen noch mehr kommen. Die wachsende Teilnahme führte zu einem großen Echo in Aleppo, dem Libanon, Beirut, Armenien und Europa. Denn zum ersten Mal schließt sich das armenische Volk außerhalb Armeniens aus freien Willen zu seiner Befreiung zusammen. Das ist sehr wichtig und wertvoll. Wir können sagen, in keinem anderen Land gibt es ein so hohes Niveau an Demokratie. Daher haben wir die Revolution stärker als alle anderen unterstützt, sie verteidigt und werden das auch weiterhin tun. Mit dieser Inspiration begann sich das Bataillon noch stärker zu organisieren.

Es wollen sich insbesondere Menschen aus Aleppo, England, Frankreich und den USA anschließen. Wir mussten das wegen der Pandemie stoppen. Auch aus der armenischen Diaspora wollen etliche zu uns kommen. Sobald die Seuche besiegt ist, werden sich diese Menschen uns anschließen. Sie wollen kommen, wir warten darauf.

Während die ganze Welt versucht, sich vor der Pandemie zu schützen, gehen die Angriffe der türkischen Armee weiter. Ihr Bataillon steht an der Front. Was bedeuten diese Angriffe?

Die Vernichtung der Kurden und Armenier ist das Fundament des türkischen Staates. Dieses nationalstaatliche Gebilde hat bei seiner Entwicklung unvorstellbare Grausamkeiten verübt. Es hat während des Ersten Weltkriegs etwas geplant, mit dem niemand gerechnet hätte. Während alle ihre Aufmerksamkeit auf den Krieg gerichtet hatten, haben die Überreste des Osmanischen Reichs, die Jungtürken, die Partei für Einheit und Fortschritt eine Staatsbildung auf der Grundlage eines Genozids geplant. Diese Genozidmentalität dauert bis heute fort. Dieser Staat hat den Völkern bisher nichts anderes als Massenmord gebracht.

Heute, in einer Zeit, in der alle Länder der Welt Aufgaben der Seuchenbekämpfung zum Schutz der Bevölkerung wahrnehmen, nutzt der türkische Staat die Coronakrise für seine Zwecke. Wie bereits die Armenier während dem Ersten Weltkrieg vernichtet wurden, sollen auch die Kurden vernichtet werden. Auf niederträchtige und würdelose Weise wird einem Volk, das seine Hand zum Frieden ausstreckt, mit Vernichtung, Verleugnung und Gewalt geantwortet.

Wem würde in den Sinn kommen, dass ein Staat, der mit der Bekämpfung der Pandemie beschäftigt sein sollte, die mit dem freien Willen des Volkes gewählten Kommunalverwaltungen usurpiert und sie mit Treuhändern besetzt? Der Staat konzentriert seine gesamte Arbeit und Kraft auf einen kurdischen Genozid. Das müssen wir uns klar und deutlich vor Augen führen. Auch unter Talat Pascha (Innenminister des Osmanischen Reichs und einer der Verantwortlichen des armenischen Genozids, Anm. d. Red.) wurde versucht, ein unterdrücktes Volk zu vernichten und aus der Geschichte zu löschen, während die gesamte Welt im Krieg war. Die Geschichte wiederholt sich. Es ist eine andere Zeit, die Akteure sind nicht die gleichen, dennoch wiederholt sich das Geschehene aus der Vergangenheit. Es ist die gleiche Verleugnungs- und Vernichtungspolitik. Erdoğan ist ein zeitgenössischer Talat Pascha.

Die Besatzung von Serêkaniyê zog erneut einen Exodus der Armenier mit sich. Sehen Sie die gegenwärtigen Aktivitäten des türkischen Staates als eine Fortsetzung des Völkermords von 1915?

Dass die Türkei hier und heute wiederholen möchte, was sie vor über einem Jahrhundert unserem Volk angetan hat, ist eine Realität, die niemand ignorieren kann. Gestern waren die Armenier unorganisiert, verlassen, sie hatten keine Waffen und keinen freien Willen. Es gab für sie keine geschwisterlichen Völker, die mit ihnen gemeinsam hätten Widerstand leisten können. Doch heute ist die Situation eine andere. Heute ist nicht gestern. Die Vergangenheit war geprägt von Nachteilen und den Wirren des Ersten Weltkriegs, die Völker schlugen überall aufeinander ein. In dieser Situation nutzte der türkische Staat die fehlende Organisierung der Armenier, Suryoye, Eziden und Chaldäer, um in diesem Teil der Welt einen Völkermord zu verüben. Heute jedoch existieren Kräfte, die den freien Willen der Völker dieser Region verteidigen. Es ist das Verständnis eines freien Willens, für das gekämpft wird. Das fehlte uns 1915. Deshalb sind wir heute klar im Vorteil. Uns sind die Hände nicht mehr gebunden, wir sind nicht allein. Wir haben Freunde an unserer Seite – Völker, die am eigenen Leib erfahren mussten, was Genozide, Massaker und Vertreibungen sind. Nie wieder werden wir erlauben, dass uns das gleiche nochmal widerfährt. Heute existiert zumindest eine bewusste Befreiungsbewegung. Gleichzeitig wächst der Widerstand.

Seit dem Völkermord an den Armeniern sind 105 Jahre vergangen. Dennoch wurde dieser Genozid international bisher nicht als solcher definiert. Wie ist diese Haltung zu beurteilen? Was erwarten Sie?

Unsere Erwartungen richten sich hauptsächlich an die Kräfte der Demokratie und an die Völker der Welt, die auf der Suche nach Freiheit sind. Ob die USA den Völkermord an den Armeniern als solchen anerkennen oder nicht, ist für uns vollkommen uninteressant. Wo waren sie, als in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî Massaker verübt wurden? Sie haben unsere seit 105 Jahren blutende Wunde lediglich mit einem Lächeln auf den Lippen eines Blickes gewürdigt. Für uns ist wichtig, was die Völker der Welt, die sich auf der Suche nach Freiheit und Demokratie befinden, denken.

Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?

Wir wollen unser Bataillon zu einer Brigade erweitern. Es gibt Freiwillige in verschiedenen Orten Syriens, im Libanon, in Armenien, Kurdistan und den europäischen Ländern, die unseren Reihen beitreten möchten. Das Beteiligungspotenzial ist gewaltig. Darüber hinaus versucht das armenische Volk in Syrien, einen selbstverwalteten Rat zu schaffen. Ich glaube, dass diese Pläne dazu beitragen werden, den außerhalb ihrer Heimat organisierten Armeniern ein freies Land zu bieten. Unser Anliegen ist es, unserem verlorenen Volk seine Sprache und Kultur näher zu bringen.

Ob hier oder in anderen Regionen der Welt, aber im Besonderen hier, stehen wir den Völkern bei, die ihre Freiheit einfordern. Die Revolution von Rojava hat uns ihre Pforten geöffnet. Sie hat uns all die Möglichkeiten geboten, die wir nun wahrnehmen. Wir stehen in der Schuld von tausenden Gefallenen, durch deren Kämpfe wir an diesem Punkt angekommen sind. Hätte es sie nicht gegeben, würden wir heute noch unsere Namen verheimlichen, ganz zu schweigen von unserer Selbstorganisierung hier. Wir wären noch viel tiefer in den Sog der Verlorenheit hineingetrieben worden. Dem nächsten Gründungsjahrestag wollen wir noch größer begegnen. Wir wollen unseren Willen weiter stärken und die Verteidigung dieser Region ausbauen. Das sind unsere Ziele, die wir erreichen werden.