Ehme: Mitschuldig am Genozid durch Gleichgültigkeit und Schweigen

Die Aggression gegen Rojava hält unvermindert an. Dennoch bleibt der Völkerrechtsbruch der Türkei weiterhin ungeahndet. „Wer aber schweigt, macht sich durch seine Gleichgültigkeit mitschuldig“, erklärt Luqman Ehme, Sprecher der Autonomieverwaltung.

Die türkische Aggression gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien hält trotz Waffenstillstandsabkommen unvermindert an. Nach der durch die USA und Russland abgesegneten Okkupation der Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) versucht die Türkei mit allen Mitteln, ihre Besatzungszone in Rojava auszuweiten. Zuletzt drangen türkische Kampfflugzeuge in der Nacht zu Samstag in den nordsyrischen Luftraum ein und bombardierten Ain Issa. Bei dem Luftangriff auf das Dorf Seyda, das sich in der Nähe eines Geflüchteten-Camps befindet, wurden mindestens drei Zivilist*innen schwer verletzt.

Die erste Auswirkung der mittlerweile dritten Invasion der Türkei in Syrien ist eine massive humanitäre Krise in den betroffenen Gebieten. Seit das Nato-Land unter Präsident Erdoğan am 9. Oktober den Angriffskrieg auf Nord- und Ostsyrien startete, wurden bereits Hunderttausende Zivilist*innen aus ihren Wohngebieten vertrieben. Die durch die invasiven Angriffe ausgelöste Massenflucht der Bevölkerung war eines der zentralen Themen, die vergangene Woche in Rimelan im Rahmen eines Forums mit dem Titel „Ethnische Säuberungen und demografischer Wandel in Nord- und Ostsyrien“ von mehr als hundert Delegierten beleuchtet wurden. Der klare Völkerrechtsbruch der Türkei und die Kriegsverbrechen der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Proxy-Soldaten bleiben aber nach wie vor ungeahndet. Obwohl ein Völkermord als Mittel zur ethnischen Säuberung droht, halten die internationale Staatengemeinschaft, die Europäische Union und Organisationen wie die NATO und UNO an ihrem Schweigen fest. Wir haben am Rande des Forums mit Luqman Ehme, dem Sprecher der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, gesprochen. Er sagt: „Wer schweigt, macht sich durch seine Gleichgültigkeit mitschuldig an den Verbrechen der Türkei.“

Andauernder Genozid in Efrîn

Die internationale Zurückhaltung sei allerdings nicht neu. Die Staatengemeinschaft habe sich schon bei der Besatzung Efrîns nicht für völkerrechtliche Konsequenzen für die Invasion eingesetzt. Und auch der jetzige Angriff stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Gewaltverbot der Vereinten Nationen dar, erklärt Ehme. Die Türkei eifere ihren altbekannten neo-osmanischen Träumen nach, ihr Staatsgebiet auszuweiten, und treibe dafür systematisch den demografischen Wandel der Region voran. „Und wie es aussieht, leistet die Staatengemeinschaft offenbar eine Beistandspflicht. Man hält sich konsequent zurück und lässt den türkischen Staat gewähren.“

Als Efrîn Anfang 2018 von der Türkei angegriffen und im März desselben Jahres besetzt wurde, sind Hunderte Zivilist*innen ums Leben gekommen. Etwa 500.000 Menschen, darunter fast 200.000 Binnenvertriebene, die aus anderen Teilen Syriens in Efrîn Schutz suchten, mussten den Kanton ebenfalls verlassen. An ihrer Stelle hat der türkische Staat seine islamistischen Milizen und ihre Angehörigen angesiedelt. Der Genozid an der in Efrîn verbliebenen Bevölkerung dauert allerdings an. Mit dem Credo „damit auch der letzte Kurde aus Efrîn verschwindet“, herrschen heute in der einst sichersten und friedlichsten Region Syriens unter den Fahnen der Türkei Regeln der Scharia.

Hunderttausende Opfer des Krieges

„Mit dem jüngsten Angriff gegen Nord- und Ostsyrien – es handelt sich hierbei um einen terroristischen Akt, sind wieder viele Zivilisten ums Leben gekommen. Aus Serêkaniyê und Girê Spî wurden etwa 300.000 Menschen in die Flucht getrieben, bei 80.000 von ihnen handelt es sich um Kinder. Unzählige Schülerinnen und Schüler können ihr Recht auf Bildung nicht wahrnehmen. Die Geflohenen mussten in Schulen untergebracht werden, die Invasion der Türkei führt also auch zu Problemen im Bildungssystem. In insgesamt 148 Schulen ist der Unterricht mittlerweile eingefroren worden. Die Schutzsuchenden führen in den Gebäuden einen Überlebenskampf“, erklärt Ehme.

Die dschihadistischen Verbündeten Ankaras schickten zudem immer wieder Videoaufnahmen der von ihnen geplünderten Häuser an ihre rechtmäßigen Besitzer. Einige Zivilist*innen, die trotz der Gefahr, die in den besetzten Gebieten von den Invasionstruppen ausgeht, in ihre Häuser zurückkehrten, wurden von islamistischen Gruppierungen hingerichtet. Aufnahmen davon würden ebenfalls an die Familien der Opfer geschickt. „Mit diesen Gräueltaten will der türkische Staat Nachfahren von Menschen vernichten, die schon die Verfolgung des Osmanischen Recihs überlebt haben“, stellt Ehme fest.

Rückkehrrecht für Zivilisten

Ehme weist darauf hin, dass die genozidalen Angriffe auf Rojava und der in den türkischen Besatzungszonen betriebene demografische Wandel nach internationalem Recht Kriegsverbrechen darstellen. „Diejenigen, die zu diesen Verbrechen schweigen, sind mitverantwortlich. Als Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens wollen wir, dass die Vertriebenen an ihre angestammten Wohngebiete zurückkehren. Selbstverständlich gilt das auch für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Sie sollen allerdings zurück in ihre Heimat, und nicht in Orte, aus denen andere Menschen gewaltsam vertrieben wurden.“