EP-Abgeordnete fordern Ende der türkischen Aggression

Rund 40 Abgeordnete des EU-Parlaments fordern in einem Schreiben an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, sich für ein Ende der türkischen Aggression in Nordsyrien und der Repression gegen die Opposition in der Türkei einzusetzen.

Etwa 40 Abgeordnete des Europaparlaments haben sich in einem Brief an Josep Borrell, EU-Außenbeauftragter und Vizepräsident der EU-Kommission, für ein sofortiges Ende der türkischen Aggression in Nord- und Ostsyrien ausgesprochen. In dem Schreiben wird die Kommission aufgefordert, unverzüglich konkrete Schritte zu unternehmen, um den Völkerrechtsbruch und die Invasion durch den Nato-Partner in den selbstverwalteten Gebieten in Rojava zu beenden. Zudem machen die Parlamentarier*innen auf die antidemokratischen Zustände in der Türkei und die Repression gegen die Opposition, allen voran die Demokratische Partei der Völker (HDP) aufmerksam. Dazu heißt es: „In den letzten vier Jahren hat die regierende AKP von Staatspräsident Erdoğan mit Hilfe ihrer ultranationalistischen Verbündeten MHP unter Notstandsbedingungen schrittweise ein äußerst autoritäres politisches System aufgebaut. Im Verlauf dieses Prozesses wurden mehr als 80.000 Menschen wegen Terrorismusvorwürfen angeklagt, darunter politische Parteivorsitzende, Abgeordnete, gewählte kurdische Bürgermeister, Hunderte von Journalisten, Akademiker, Ärzte, Vertreter der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivisten und viele weitere. Die Regierung bezichtigt nahezu alle Personen, die ihre Politik kritisieren, insbesondere Kurdinnen und Kurden, Terroristen, Verräter oder Staatsfeinde zu sein. Obwohl der Ausnahmezustand im Juli 2018 offiziell aufgehoben wurde, wird das Land de facto unter Notstandsregelung regiert.”

Die türkische Regierung versuche, die HDP als zweitgrößte Oppositionspartei des Landes, die sowohl bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 als auch bei den Kommunalwahlen im vergangenen März eine zentrale Rolle bei der Niederlage der Regierungspartei AKP gespielt habe, vollständig zu zerschlagen, kritisieren die EP-Abgeordneten und machen auf die Festnahmen von mehr als 15.000 HDP-Mitgliedern und Aktivisten aufmerksam. „Mehr als 5.000 von ihnen wurden unter fadenscheinigen Vorwürfen inhaftiert, darunter auch die ehemaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Sieben weitere ehemalige Abgeordnete, über fünfzig gewählte kurdische Bürgermeister sowie unzählige Parteifunktionäre und -mitglieder sitzen gleichermaßen im Gefängniss.”

In den von der HDP geführten Kommunalverwaltungen in den kurdischen Gebieten ist die türkische Regierung besonders aggressiv, stellen die Unterzeichner*innen des Briefes fest. Die Politik der Zwangsverwaltung, in deren Verlauf im Jahr 2016 bereits 101 gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt und durch regierungsnahe Beamte ersetzt wurden, wiederhole sich. Seit dem 19. August 2019 wurden 31 ehemals HDP-geführte Rathäuser durch das AKP-Regime unter Zwangsverwaltung gestellt. 21 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden verhaftet. Sechs gewählte Bürgermeister*innen konnten ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden trotz Wahlniederlage die AKP-Kandidaten zu Bürgermeistern.

„Diese Rathäuser wurden somit von der türkischen Regierung rechtswidrig beschlagnahmt”, unterstreichen die Verfasser*innen des Schreibens. „Selbst einige europäische Bürger wurden Opfer politischer Repressionen, und die Türkei nutzt formelle und informelle Strukturen in Europa, um ihre Unterdrückungspolitik gegen die demokratische und kurdische Opposition innerhalb der türkischen und kurdischen Gemeinschaft in Europa auszubauen.

Ein weiteres wichtiges Thema, das Ihre sofortige Aufmerksamkeit erfordert, ist die Situation von kranken Gefangenen in der Türkei. Laut dem Menschenrechtsverein IHD saßen 2018 insgesamt 1025 kranke Häftlinge in türkischen Gefängnissen. Bei einem Großteil handelt es sich um politische Gefangene. 357 dieser Gefangenen sind schwer krank und müssen freigelassen oder in gut ausgestatteten Krankenhäusern behandelt werden. Am 26. November 2019 hat Selahattin Demirtaş in seiner Gefängniszelle einen Schwächeanfall erlitten und über Schmerzen in der Brust und Atemnot geklagt. Trotz ärztlicher Empfehlung wurde er sieben Tage lang nicht ins Krankenhaus überstellt.“

Parallel zur Repression gegen die HDP und die Kurden im eigenen Land greift die Türkei auch in Nordsyrien Kurden an, „die den IS mit Hilfe der internationalen Koalition besiegt haben”, heißt es weiter. In dem Brief wird darauf aufmerksam gemacht, „dass die Türkei und ihre extremistischen Stellvertreter, darunter viele ehemalige Mitglieder von al-Qaida und dem IS, Anfang 2018 in die kurdische Region Afrin eindrangen und den rund 150.000 Binnenvertriebenen, die vor der türkischen Invasion fliehen mussten, die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wird.” Anstelle der angestammten Bevölkerung habe die Türkei arabische Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens in Efrîn angesiedelt. „Die Demografie der Region wird systematisch verändert. Dies stellt einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Die verbliebene kurdische Bevölkerung und vor allem die religiösen Minderheiten wie die Eziden, Christen und Aleviten leiden unter der Gewalt und Unterdrückung durch die türkischen Stimmrechtsvertreter, zu denen extremistische Islamisten und Dschihadisten gehören. Während Kurdisch aus den Ämtern und Schulen verbannt wurde, werden Arabisch und Türkisch als Amtssprachen verwendet. Desweiteren wurden konkrete Schritte in Richtung einer Annexion gesetzt; zu beachten hierbei ist die Beschäftigung von türkischen Polizisten oder die Einrichtung eines türkischen Postamtes in Afrin.”

Auch die am 9. Oktober 2019 eingeleitete und mittlerweile dritte Invasion der Türkei in den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten in Nordsyrien stelle einen Völkerrechtsbruch dar. „Wir erinnern eindringlich an die unzähligen Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der Zivilbevölkerung. Trotz Waffenstillstandsabkommen halten die Angriffe der türkischen Armee und ihrer Stellvertreter auf die Region und insbesondere die christlich-assyrisch besiedelten Gebiete bei Til Temir an. Und auch die Binnenvertriebenen aus Afrin, die bei Tel Rifat Schutz suchten, werden angegriffen. An dieser Stelle ist der Artilleriebeschuss vom 2. Dezember 2019 in unmittelbare Nähe einer Schule in Tel Rifat zu nennen, bei dem mindestens zehn Menschen getötet wurden, darunter acht Kinder im Alter zwischen drei und 15 Jahren.”

Abschließend heißt es: „Während die Türkei versucht, diese nicht provozierte Aggression gegenüber den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und den kurdischen, christlichen und arabischen Zivilisten in Nordsyrien als ‚Kampf gegen den Terrorismus’ zu rechtfertigen, ist uns klar, dass das eigentliche Ziel der Türkei darin besteht, das Projekt der autonomen Selbstverwaltung der lokalen Bevölkerung in Syrien zu zerstören, die Vertreibung der Kurden, Assyrer, Aramäer und Armenier entlang der türkisch-syrischen Grenze voranzutreiben und die Ansiedlung der arabischen und türkischen Bevölkerung sowie der Familien ihrer dschihadistischen Stellvertreter in kurdische Gebiete umzusetzen. Im Zuge der Invasionen in den Jahren 2018 und 2019 wurden fast 350.000 Kurden und Christen (Assyrer, Aramäer und Armenier), die jetzt unter schrecklichen Bedingungen in Lagern leben, aus ihren Heimatorten vertrieben,

Die Vertreibung von Kurden und Christen sowie die Ansiedlung arabischer Bevölkerungsgruppen ist eine ganz offensichtliche Politik der demografischen Veränderung und ethnischen Säuberung - beides Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Türkei begeht diese Verbrechen vor den Augen der internationalen Gemeinschaft als Mitglied der NATO, Mitglied des Europarates und EU-Beitrittskandidat.

Wir bitten Sie, sich gegen die ethnische Säuberung der kurdischen und christlichen Bevölkerung in Nordsyrien und die türkische Besetzung dieser Region einzusetzen! Mit einem einheitlichen Standpunkt der Europäischen Union, der ein vollständiges Waffenembargo gegen die Türkei, Wirtschaftssanktionen und gezielte Sanktionen gegen mehrere türkische Regierungsmitglieder umfassen muss, könnte die Türkei gezwungen sein, Syrien zu verlassen. Wir bitten Sie auch, die humanitären Bemühungen des Europäisches Amts für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz für die Vertriebenen in Nordostsyrien und in der Region Tel Rifat zu unterstützen und Versuche zu unterbinden, Syrer aus anderen Teilen Syriens oder Nicht-Syrer in den türkisch besetzten Gebieten Syriens anzusiedeln.

Wir bekräftigen unseren Standpunkt, die kurdische Selbstverwaltung in die Gespräche für die Zukunft Syriens miteinbezogen werden müssen, um Frieden und Stabilität in diesem Teil der Welt wiederherzustellen und insbesondere den Wiederaufbau eines demokratischen Syrien zu ermöglichen.”

Unterzeichnende: 

ARENA Maria | BIEDROŃ Robert | BRGLEZ Milan | FAJON Tanja | GRAPINI Maria | HEIDE Hannes | INCIR Evin | KAILI Eva| KÖSTER Dietmar| MAVRIDES Costas | PAPADAKIS Demetris | PISAPIA Giuliano | SCHIEDER Andreas | SMERIGLIO Massimiliano| VOLLATH Bettina| WARD Julie von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament,

BARRENA Pernando| BJORK Malin| CHAIBI Leila| DEMIREL Oezlem | GUSMÃO José | KONEČNÁ Kateřina | KOULOGLOU Stelios| MATIAS Marisa| PAPADIMOULIS Dimitrios|URBAN CRESPO Miguel | VILLUMSEN Nikolaj von der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken,

ALFONSI François | AUKEN Margrete| BITEAU Benoit| KUHNKE Alice| LANGENSIEPEN Katrin| METZ Tilly  RIBA I GINER Diana | STRIK Tineke | ŽDANOKA Tatjana von den Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament,

sowie BILBAO BARANDICA Izaskun von der Renew Europe, VINCZE Lorant von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) und BOURGEOIS Geert von den Europäischen Konservativen und Reformern.