Die von al-Nusra geführte Dschihadistenallianz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat seit Beginn ihrer Angriffe auf Harakat Nour al-Din al-Zenki, und die ebenfalls dschihadistische Fraktion der von der Türkei gesteuerten Nationalen Befreiungsfront (NLF), 75 Prozent der Provinz Idlib besetzen können.
Wir sprechen mit dem stellvertretenden Kommandanten von Jaish al-Thuwar, Ahmet Sultan (Abu Arraj). Wir treffen ihn in Deir ez-Zor, wo Jaish al-Thuwar als Teil der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gegen den IS kämpft. Jaish al-Thuwar besteht vor allem aus Kämpfern aus Idlib und hat sich immer gegen die Besetzung der Region durch HTS und NLF-Milizen gestellt. Sultan erklärt: „Alle von der Türkei als moderate Opposition dargestellte Kräfte werden nach Efrîn, Dscharablus und Azaz abgezogen. Unseren Informationen zu Folge heißt es, dass mit diesen Gruppen eine Operation gegen Minbic und die Gebiete östlich des Euphrat gestartet werden soll.“
„Gemeinsamer Plan von Türkei und Russland“
Die Kämpfe in Idlib dauern nun schon zehn Tage an. Sultan berichtet von einem kontinuierlichen Vorrücken von HTS und sagt, Idlib werde vollständig unter die Kontrolle von HTS geraten. Insbesondere die Niederlage der NLF-Gruppen Harakat Nour al-Din al-Zenki, Suqour al-Sham, Ahrar al-Sham und ähnlichen Gruppierungen, ihre Flucht oder Kapitulation deuten darauf hin, dass bereits jetzt schon ein großer Teil von Idlib unter HTS-Kontrolle steht.
Sultan erklärt: „HTS hat Harakat Nour al-Din al-Zenki die Gebiete weggenommen. HTS hat seit Beginn des Syrienkrieges 2011 das erste Mal Atarib eingenommen. Bis dahin hatte es nie auch nur eine Stellung von HTS in Atarib gegeben. Sahl al-Ghab und Jabal Shashabo wurden von Ahrar al-Sham an HTS übergeben. Obwohl die Bevölkerung von Maarat Numan HTS nicht will, ist die Region ebenfalls eingekreist. Das wird so wird weitergehen und ich denke, HTS wird die Kontrolle über die ganze Provinz Idlib übernehmen. Man verschließt die Augen vor dem Vormarsch von HTS. Denn Russland und die Türkei haben einen Plan für Idlib. Damit das Regime und Russland eine Operation gegen Idlib, wo viele Zivilisten leben, durchführen können, müssen die Gebiete unter der Kontrolle der als moderate Opposition dargestellten türkeitreuen NLF an HTS übergehen.“
„HTS hat die Türkei nach Idlib gebracht“
Sultan weist darauf hin, dass HTS die Türkei nach Idlib gebracht hat und führt aus: „Der türkische Staat hat in Idlib und der Umgebung von Aleppo zwölf Beobachtungspunkte. Acht davon wurden von HTS verteidigt, vier weitere befanden sich auf NLF-kontrolliertem Gebiet. Alle diese Beobachtungspunkte wurden unter der Kontrolle von HTS errichtet. Man muss wissen, dass HTS dem türkischen Staat die Erlaubnis erteilt hat, nach Idlib zu kommen und dort Kontrollpunkte zu errichten. Die Kräfte des türkischen Staates sind eigentlich auch um das Regime zu schützen nach Idlib gekommen.“
„Es gibt Pläne, die Krise in Idlib zu verschärfen“
Sultan erklärt, er halte es im Moment nicht für möglich, dass HTS Efrîn, Şehba oder andere Gebiete angreift: „Aber es gibt einen Plan. Russland und die Türkei wollen die Krise in Idlib und Umgebung eskalieren. Die von der Türkei als ‚moderate‘ Opposition dargestellten Kräfte werden komplett nach Efrîn, Dscharablus und Azaz abgezogen. Unserer Kenntnis nach soll mit diesen Gruppen eine Operation gegen Minbic und die Gebiete östlich des Euphrat durchgeführt werden. Heute gab es Gefechte zwischen HTS und den unter direkter Kontrolle des türkischen Staats stehenden Sultan-Murad-Brigaden, Firqat al-Hamza und den Sultan-Suleyman-Shah-Brigaden an der Grenze zu Efrîn. Das ist nur Show. Die Türkei versucht damit den Eindruck zu erwecken, sie hätte nichts mit den Ereignissen zu tun.“
„Es kann Überraschungen geben“
Sultan weist auf das Telefongespräch am 9. Januar zwischen dem türkischen und dem russischen Verteidigungsminister hin und sagt: „In den nächsten Stunden und Tagen kann es in der Region Überraschungen geben.“
Niemand kann den wahren Hintergrund des Abkommens zwischen der Türkei und Russland wissen, es wurde streng geheim gehalten, sagt Sultan und berichtet:
„Weder die Bevölkerung Syriens und nicht einmal die Kommandanten der von der Türkei kontrollierten sogenannten ‚Oppositionellen‘ kennen den wahren Inhalt dieses Abkommens. Denn was veröffentlicht wird und was im Feld passiert, unterscheidet sich. Dennoch denke ich, dass der türkische Staat seine zwölf Beobachtungsposten, die für die Überwachung des Waffenstillstands in Idlib errichtet wurden, entlang der Grenze zwischen Idlib und Efrîn verteilen wird.“
„Wir werden den schmutzigen Plan des türkischen Staates nicht akzeptieren“
Die Offensive gegen den IS in Deir ez-Zor schreitet nach Ansicht von Ahmet Sultan schnell voran, dem IS bliebe nur noch ein sehr beschränktes Gebiet. Er schließt mit den Worten: „Die Türkei hat über das syrische Volk hinweg mit den internationalen Mächten alle möglichen Deals und geheime Abkommen getätigt und die syrische Revolution in der Vergangenheit auch von ihrem Weg abgebracht. All die Gruppen aus Syrien, die wirklich für Freiheit und Demokratie aufgebrochen waren, wurden durch Gruppen wie den IS und al-Nusra vernichtet.
Heute stellen sie sich wieder hin und sagen, sie werden in Syrien einmarschieren, um den IS zu vernichten. Wir haben den IS als QSD alle gemeinsam besiegt oder sind dabei ihn zu besiegen. Wir akzeptieren keinen der schmutzigen Pläne, die die Türkei für Idlib, den Norden und den Osten Syriens geschmiedet hat. Der türkische Staat wird der Bevölkerung von Idlib mit seinem jetzigen Plan noch mehr Schmerz zufügen.“