Die Taktik der Türkei in Idlib

Während sich die Milizen in Idlib weiterhin Gefechte liefern, schweigt der türkische Staat. Ankara scheint in der Provinz im Nordwesten Syriens eine neue Taktik umzusetzen.

Die am Dienstag im Nordwesten Syriens ausgebrochenen Kämpfe zwischen den unter türkischer Garantie stehenden Milizen halten unvermindert an. Der türkische Staat und seine Medien hüllen sich zur dortigen Situation dennoch in Schweigen. Die heftigsten Auseinandersetzungen finden zwischen dem von der Al-Nusra-Front angeführten Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Miliz Harakat Nour al-Din al-Zenki aus der türkeigesteuerten „Nationalen Befreiungsfront“ (NLF) statt.

Die Dschihadistenallianz HTS liegt in der Provinz Idlib seit Jahren im Konflikt mit rivalisierenden Milizen, weshalb es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt. Die neusten Kämpfe begannen, nachdem HTS der im Nordosten von Idlib dominierenden Harakat Nour al-Din al-Zenki vorwarf, ihre Stellungen in Aleppo attackiert und fünf ihrer Mitglieder getötet zu haben. Mittlerweile hat HTS die zuvor von Harakat Nour al-Din al-Zenki kontrollierten Gebiete besetzt. Letztere verließ nach schweren Verlusten die Kleinstadt Darat Izza und floh nach Efrîn. Darat Izza liegt etwa 30 Kilometer nordwestlich von Aleppo und wird mittlerweile von HTS kontrolliert.

Das von Ankara organisierte Milizbündnis NLF hatte nach dem Angriff der HTS verkündet, Harakat Nour al-Din al-Zenki zu unterstützen und mit einer Mobilisierung zu beginnen. Allerdings folgten der Ankündigung bisher keine Taten.

Mit Wissen der Türkei

Außerdem griffen am Donnerstagabend russische Kampfflugzeuge Stellungen der HTS in der Provinz Aleppo an, unter anderem auch in Darat Izza. Die angegriffenen Gebiete gehören zu der demilitarisierten Pufferzone, die im Rahmen der Astana-Gespräche zwischen dem Iran, der Türkei und Russland vereinbart worden waren. Es handelte sich um die ersten Luftangriffe auf diese Gebiete seit Beginn des Abkommens. Es heißt, die Luftschläge seien mit Wissen der Türkei erfolgt.

Lawrow signalisierte es bereits

Am 29. Dezember waren der türkische Außenminister, der Verteidigungsminister, der Chef des Geheimdienstes und der Erdoğan-Sprecher nach Moskau gereist, um die Besetzung von Minbic (Manbidsch) vorzubereiten. Es ist bezeichnend, dass direkt danach die Kämpfe in Idlib begannen. Nach dem Treffen hatte Russlands Außenminister Sergei Lawrow erklärt, es sei eine Einigung gefunden worden, wie die Terrorbedrohung in Syrien koordiniert beenden werde.

Ein neuer Plan

Vertrauenswürdige Quellen von ANF berichteten, dass vor dem Beginn der Auseinandersetzungen Treffen zwischen dem MIT und den Milizen in Idlib stattgefunden hätten.

Vor dem Abkommen von Idlib fanden Treffen mit dem MIT statt

Die Quellen bestätigen, dass der MIT auch vor den Gesprächen zwischen dem türkischen Staatschef Erdoğan und seinem russischen Amtskollegen Waldimir Putin in Sotschi ein Treffen mit allen Gruppen in Idlib organisiert habe und dort der Plan einer 15 Kilometer breiten demilitarisierten Zone besprochen worden sei. Nach dem Plan sollten die schweren Waffen bereits bis zum 15. Oktober aus dieser Zone abgezogen werden.

Waffenerkauf an HTS unter Aufsicht des MIT

Eine hochrangige Quelle, deren Namen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen, erklärte: „Der türkische Staat hatte den Vorbehalt eingebracht, dass die genannten Gruppen einen russischen oder syrischen Angriff sofort erwidern würden, und gewünscht, dass die Waffen aus einem 15 Kilometer breiten Streifen abgezogen werden. Ein Teil der schweren Waffen von HTS ging demnach nach Efrîn und die Islamische Partei Turkestans verlegte ihre schweren Waffen nach Cisr esh-Shughur. Manche kleine Gruppen haben ihre schweren Waffen an HTS verkauft. Dabei handelte es sich um Waffen wie Katjuschas, Haubitzen, Panzer und Mörser. Dem MIT war dies bekannt, doch drückte er beide Augen zu. Die Türkei wusste, dass eine Schwächung oder gar das Ende von HTS eine Schwächung seiner Macht in Idlib bedeutet und war sich nicht sicher, wie stark der Widerstand der anderen Gruppen sein könnte. HTS musste als Druckmittel stark gehalten werden.“

Zwei Möglichkeiten

Eine andere Quelle berichtet, die Türkei wolle, dass sich die Dschihadistenallianz HTS der NLF anschließt. Harakat Nour al-Din al-Zenki und Suqour al-Sham hätten sich aber zuvor bereits zweimal mit dem Regime und Russland getroffen, deshalb wolle die Türkei diese Gruppen durch die Hände von HTS vernichten. Die beiden Gruppen wurden immer wieder als „gute Kinder von Damaskus“ bezeichnet, sagt die Quelle und führt zwei mögliche Gründe für die Vernichtungsentscheidung der Türkei an.

Das Abkommen zwischen der Türkei und Russland

Erste Möglichkeit: „Wenn sich die Türkei und Russland in Moskau verständigen, dann ist für eine Intervention Russlands und des Regimes in Idlib eine Provokation notwendig. Dafür wurden dann sowohl HTS als auch Harakat Nour al-Din al-Zenki benutzt. Oder HTS hat das Spiel verstanden und ist ihm mit einer Offensive zuvorgekommen. Wenn HTS ganz Idlib unter Kontrolle bekommt, dann können Russland und das Regime das Argument des Kampfes gegen den Terror viel einfacher benutzen. Demgegenüber könnte Russland einer Operation der Türkei gegen Minbic (Manbidsch) oder gegen ein anderes Ziel zugestimmt haben.“

Ein Plan HTS unter Kontrolle zu bringen

Die zweite Möglichkeit: „Die Türkei baut tatsächlich auf HTS und will sie nicht schwächen. Eine gestärkte HTS in Idlib bedeutet gleichzeitig eine gestärkte Verhandlungsposition der Türkei gegenüber Russland. Eine Radikalisierung von HTS bringt gleichzeitig eine Verschiebung mit sich, so dass die von der Türkei in Efrîn, Bab, Dscharablus und Azaz versammelten Milizen in ‚positivem‘ Licht erscheinen. Mit der Vernichtung von Harakat Nour al-Din al-Zenki und Suqour al-Sham, die sich mit dem Regime und Russland getroffen hatten, sollte dem Regime und Russland vermittelt werden, dass diese Gruppen unter ihrer eigenen Kontrolle stehen.“

Eine Kurzchronologie:

* 28. März 2015: Die von der Al-Nusra-Front angeführte Koalition „Jaish al-Fatah“ erobert mit Unterstützung der Türkei, von Saudi-Arabien, Katar und den USA Idlib.

* 28. Juli 2016: Die Al-Nusra-Front gründet die Allianz „Jabhat Fatah al-Sham“, um von der UN-Terrorliste herunterzukommen.

* 17. Januar 2017: Al-Nusra bringt dutzende Gruppen zusammen und gründet Hayat Tahrir al-Sham (HTS).

* 18. Februar 2018: Harakat Nour al-Din al-Zenki und Ahrar al-Sham trennen sich von HTS und gründen die „Syrische Befreiungsfront“.

* 27. Februar 2018: Einige besonders radikale Gruppen innerhalb von HTS sammeln sich und gründen die Gruppe „Hurras al-Din“ (Wächter des Glaubens).

* 28. Mai 2018: Faylaq al-Sham, Jaish al-Idlib und Jaish al-Nasr gründen mit weiteren Gruppen, die den Muslimbrüdern nahestehenden Gruppen die „Nationale Befreiungsfront“ (NLF).

* 1. August 2018: Gefördert von der Türkei vereint sich die „Syrische Befreiungsfront" mit der von den Muslimbrüdern geführten NLF.

* 17. Oktober 2018. Erdoğan und Putin kommen in Sotschi zusammen und verkünden, dass sie sich über eine 15 Kilometer breite demilitarisierte Pufferzone geeinigt haben.

Das Abkommen über Idlib

* Um Idlib wird eine 15-20 Kilometer breite Pufferzone errichtet, welche die Dschihadisten und das syrische Militär trennen soll.

* Bis zum 10. Oktober 2018 werden alle schweren Waffen, wie Panzer, Raketenwerfer und Mörser abgegeben.

* „Radikale terroristische Gruppen“ werden entwaffnet und ziehen bis zum 15. Oktober aus der Region ab.

* Bis zum Ende 2018 wird die M4 (Straße von Aleppo nach Latakia) und die M5 (von Aleppo nach Hama) gesichert und für den Verkehr geöffnet.

* Die Kontrolle der demilitarisierten Zonen übernehmen türkische und russische Soldaten.

* Die Türkei verstärkt ihre Beobachtungsposten in Idlib.

Gruppen, aus denen HTS besteht

Das Bündnis HTS ist eine Allianz aus al-Nusra, Jaish al-Sunna, Jund al-Aqsa, Liwa al-Haqq, Jaish al-Ahrar, Hurras al-Din, Ansar al-Din, Saraya Sahil, Ansar al-Haqq, Seraya al-Guraba, Jaish al-Malahim, Jaysh al-Badiyah, Jaysh al-Sahil, Siriyatan Kabil, Jund al-Sharia, Abna al-Sharia, Abu Ubeyd und Ansar al-Tawhid, um nur einige der fast hundert Gruppen zu nennen. Einige dieser Gruppen bilden die besonders radikale Fraktion Hurras al-Din. Außerdem stehen die uigurische „Islamische Partei Turkestans“, das von Tschetschenien dominierte Jaish al-Muhajireen, Jaish al-Ansar, Ajnad al-Kavkaz (Gruppe aus dem Kaukasus), und die Imam-Buhari-Brigade aus Kirgisien, wie auch die Tawhid- und die Dschihad-Brigade HTS nahe.

Gruppen aus der NLF

Die NLF besteht unter anderem aus Ahrar al-Sham, Harakat Nour al-Din al-Zenki, Faylaq al-Sham, Jaish al-Idlib, Jaish al-Nukhba, Jaish al-Nasr, Ahrar al-Sharqiya, Suqour al-Sham, Liwa al-Haqq, Jaish al-Mujahidin, Jabhat al-Shamiya, Festaqim kemâ umirt, Siwar al-Sham, Fevc al-Evvel, Jaish al-Sani, Shuheda al-Islam Deraya, die erste Küstendivision, die zweite Küstendivision, Furqat al-Hurriya und 23. Division.