„Das Baath-Regime will einen kurdisch-arabischen Konflikt“

Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Autonomieverwaltung von Nordostsyrien, Emine Osê, äußert sich zu den Auseinandersetzungen in Minbic und Şêxmeqsûd und warnt, dass Damaskus einen kurdisch-arabischen Konflikt zu provozieren versuche.

Bereits im Vorfeld der syrischen Präsidentschaftswahlen versuchten mit dem Regime in Damaskus verbundene Gruppierungen, Proteste in Nordostsyrien gegen Brennstoffverteuerung oder die Selbstverteidigungspflicht für Provokationen und Angriffe zu nutzen und eine Eskalation herbeizuführen. Die Selbstverwaltung reagierte umgehend auf die Proteste, untersuchte die Forderungen und nahm Regelungen wie die Spritpreiserhöhung zurück bzw. setzte die Selbstverteidigungspflicht aus. Im ANF-Gespräch äußert sich die stellvertretenden Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nordostsyrien, Emine Osê, zu den Auseinandersetzungen und Protesten und warnt vor Provokationen des Regimes und Russlands.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen den Wahlen in Syrien und den Eskalationen in Minbic und an anderen Orten?

Die Wahlen in Syrien haben keine Legitimität. Zehn Millionen Syrer:innen befinden sich im Ausland, Zehntausende sind Flüchtlinge und täglich unmenschlicher Behandlung ausgesetzt. Teile des Landes sind besetzt. Es ist falsch, in einer solchen Situation Wahlen durchzuführen und diese als legitim darzustellen. Trotz alledem hat das Baath-Regime wählen lassen, und das einzig und allein mit dem Ziel, seine Herrschaft um sieben weitere Jahre zu verlängern. Das Baath-Regime ist auch durch das Schweigen der internationalen Mächte ermutigt worden. Nach dem „Erfolg“ bei den Wahlen hat es sich jetzt Nordostsyrien als nächstes Ziel vorgenommen. Dabei geht es auf sehr hässliche Weise vor. Es will einen Bürgerkrieg in der Region zu provozieren, indem es vor allem das kurdische und das arabische Volk gegeneinander auszuspielen versucht. Das konnten wir auch in Minbic beobachten.

Eigentlich haben wir das vorhergesehen. Nach der Wahl musste das Regime einige praktische Schritte unternehmen. Auf seine Weise wollte es der Welt zeigen, dass alle Krisen und die Instabilitäten in der Region erst behoben werden können, wenn es wieder an der Macht ist. Natürlich ist dies keine Situation, die sich ohne die Unterstützung Russlands entwickeln kann. Es ist auch bezeichnend, dass diese Provokation durch von ihnen ausgebildete Zellen am Vortag des Jahrestag der Befreiung von Minbic begannen.

Es geht um Kriegstreiberei“

Sie haben die Unterstützung Russlands erwähnt. Welche Rolle spielt Russland?

Der Kommandant der Region will vor dem Ende seiner Amtszeit Erfolge vorweisen. Nichts von dem, was das Baath-Regime und Russland hier tun wollen, liegt im öffentlichen Interesse. Sie wollen die Region destabilisieren und den Status quo der Zeit vor der Revolution wiederherstellen. Unser Volk darf sich auf dieses Spiel nicht einlassen.

Verfügt die Selbstverwaltung über ausreichende Möglichkeiten und Projekte, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen?

Als Selbstverwaltung sind wir in manchen Bereichen unzulänglich. Die Möglichkeiten, die wir haben, reichen nicht aus, um alle Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Wir sind auch Teil dieser Realität. Aber wenn wir uns als Selbstverwaltung mit den Regionen vergleichen, die unter Kontrolle des Regimes stehen, dann liegen die Möglichkeiten, die wir hier der Bevölkerung bieten, weit über denen in den Regimegebieten. Das betrifft den Sicherheitsbereich, die Dienstleistungen und viele andere lebenswichtige Sektoren. Im Vergleich zu anderen Ländern, die seit Jahren in Sicherheit, mit funktionierender Wirtschaft und sozialer Stabilität leben, ist die Situation jedoch ungenügend.

Wir befinden uns immer noch im Krieg, es gibt immer noch Bedrohungen, die gegen unsere tägliche Sicherheit und unsere Region gerichtet sind. Der Krieg gegen uns dauert sowohl auf ökonomischer als auch auf militärischer Ebene an. Bei jeder Gelegenheit finden Angriffe statt und es wird versucht, unser Land zu besetzen. Trotz alledem setzt die Selbstverwaltung Projekte als demokratische Alternative zum Baath-Regime um. Es gibt Mängel sowohl im Bereich der Dienstleistungen wie auch in einigen legislativen Fragen. Die Auseinandersetzung damit ist jedoch in der Jahresplanung der Selbstverwaltung enthalten. Jeder Bereich verfügt über ein Dienstleistungsprojekt und ist bestrebt, es umzusetzen.

Die Selbstverwaltung hat nicht weniger als eine Billion syrische Lira ausgegeben. Gleichzeitig entwickelt sie neue Projekte, um das Leben der Menschen zu verbessern. Das ist ein wichtiger Punkt. Unser Volk sollte sich nicht auf die Spiele des Regimes und Russlands einlassen. Wir müssen an die Bevölkerung denken, die in den besetzten Gebieten weiterhin unter der Herrschaft der Terrorgruppen lebt. Natürlich hat unser Volk Wünsche und die Menschen stellen Forderungen.

Internationales Schweigen

Bisher schweigen die internationalen Mächte. Wie wirkt sich dieses Schweigen auf das Vorgehen der türkischen Regierung und des Regimes aus?

Bei diesen Vorfällen gab es Opfer. Menschen aus unserem Volk haben ihr Leben verloren. Es gab Verletzte. Es handelt sich um eine sehr traurige Situation. Mein Beileid gilt den Familien derer, die ihr Leben verloren haben, und meine Wünsche der schnellen Heilung der Verletzten. Das Regime und Russland wollen das Schweigen der internationalen Mächte ausnutzen. Wenn also unser Volk nicht vorsichtig ist, wenn sich die Menschen nicht gegenseitig helfen, dann können sie ihre eigene Sicherheit nicht gewährleisten. Dies gilt für ganz Nord- und Ostsyrien.

Die Geschehnisse können nicht auf Minbic reduziert werden. Das Schweigen der internationalen Mächte nach diesen Auseinandersetzungen war für den türkischen Staat eine Ermutigung und er hat einen Angriff auf die Medya-Verteidigungsgebiete gestartet. Diese Angriffe dauern an.

Seit Beginn der Syrien-Krise gibt es ständige Versuche, einen kurdisch-arabischen Konflikt zu schaffen. Dahinter stehen die Söldnertruppen, verschiedene Institutionen internationaler Mächte und insbesondere der türkische Staat. In diesem Sinne sollten alle Völker der Region, insbesondere das kurdische und das arabische Volk, wachsam sein.

Bisher haben wir aus eigener Kraft unsere Gebiete befreit und uns selbst verwaltet. Von nun an werden wir unsere Regionen auch vor solchen Kampagnen schützen. Es ist die grundlegende Pflicht eines jeden, der in diesem Land lebt. Wenn man selbst nicht die eigenen Kinder und das Land schützen kann, wer soll es stattdessen tun? Wer, wenn nicht wir selbst, soll denn Stabilität und Sicherheit garantieren? Dazu brauchen wir Sicherheitskräfte und Verteidigungskräfte. Keine Kraft von außen schützt uns. Wir haben es durch unsere eigene Erfahrung gesehen. Während der Herrschaft des Baath-Regimes wurde die Bevölkerung gegen den IS alleingelassen. Das Regime beschützte die Menschen nicht. Weder das Baath-Regime noch Russland haben sich gegen die türkischen Angriffe und die Invasionen gestellt. Dies darf nicht vergessen werden, denn es gibt immer noch besetzte Gebiete.

Als Selbstverwaltung haben wir immer Stellung bezogen, um die Probleme in Syrien zu lösen, und Maßnahmen gegen eine Teilung Syriens ergriffen. Niemand hat ein Projekt wie wir für eine Lösung entwickelt. Wir haben dieses Projekt immer als strategisches und nie als taktisches Projekt betrachtet. Lasst uns unsere Probleme selbst lösen, anstelle irgendwelchen Kräften von außen zu vertrauen.

Das Regime hat sich bisher geweigert, seine eigene Niederlage zu akzeptieren. Millionen von Menschen sind im Ausland, ganze Regionen sind besetzt und in diesen besetzten Gebieten erleben die Menschen täglich Misshandlungen und Übergriffe. Wo ist denn die Legitimität dieses Regimes? Das Baath-Regime versucht, all dies vergessen zu machen, einen kurdisch-arabischen Konflikt zu schaffen und so die Sicherheit in den selbstverwalteten Gebieten zu demontieren. Das ist kein Erfolg, sondern ein Verbrechen an der Bevölkerung. Sie wollen die Errungenschaften der Menschen zerstören und ihre Sicherheit gefährden. Auf die gleiche Weise ebnen sie neuen Invasionsangriffen des türkischen Staates den Weg.

Natürlich haben wir die Pflicht der Versorgung der Menschen, des Aufbaus der Ökonomie, der Sicherheit und der Verteidigung übernommen. Diese Verantwortung werden wir gemeinsam erfüllen. Unser Appell an die Bevölkerung lautet: Schließt euch um unsere Errungenschaften zusammen. 15.000 Kinder dieses Landes haben dafür ihr Leben gegeben. Tretet für eure Mühe und für die eurer Kinder ein. Es handelt dabei um eine historische Verantwortung.

Bisher haben wir mit unserer Einigkeit allen Angriffe und Taktiken Russlands, des Regimes, des türkischen Staates und seiner Söldner widerstanden, und wir haben unsere Errungenschaften verteidigt. Dies ist heute notwendiger denn je. Wir haben volles Vertrauen in die Bevölkerung.

Das Regime versucht, uns zu erpressen“

Kurz vor den Ereignissen in Minbic war es zu Auseinandersetzung in Şêxmeqsûd gekommen. Hier waren manche Personen aus dem Begara-Stamm verwickelt. 2013/2014 hatte es mit diesem Stamm ähnliche Probleme gegeben. Ist dies Ihrer Meinung nach ein Zufall?

In Şehba und Şêxmeqsûd gibt es eine besondere Lage. Das Regime betrachtet diese Gebiete als unsere Schwachstelle und versucht, diese Karte immer wieder zu spielen. Anstatt in Bezug auf Efrîn festzustellen, dass eine Stadt Syriens besetzt und der Boden der Bevölkerung geraubt wurde, benutzt es Şehba und Şêxmeqsûd immer wieder als Mittel der Erpressung.

Das Regime und Russland sind mit dem, was sie in Minbic machen wollten, gescheitert. Sie fühlen sich durch die Situation gestört. Sie wollten sich auf alle Gebiete im Nordosten Syriens ausbreiten und haben uns sogar während der Auseinandersetzungen immer wieder entsprechende Botschaften geschickt. Sie drohten, zu kommen und Flugzeuge aufsteigen zu lassen. Aber als es ihnen nicht gelang, die gewünschte Krise so herbeizuführen, wandten sie sich gegen Şêxmeqsûd. Das Regime wollte die Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung von Şêxmeqsûd und dem Begara-Stamm neu aufleben lassen. Es glaubte, es könnte diese Gebiete aufgrund ihrer Lage einfacher unter seine Kontrolle bringen und einen Konflikt dort auslösen.

Das Regime versuchte dort zu tun, was es hier nicht geschafft hatte. Lassen Sie mich aber Folgendes feststellen: Nicht alle Mitglieder des Begara-Stamms sind Anhänger:innen des Regimes. Es gibt ein paar Leute, die die Krise eskalieren lassen wollen. Und sie tun das im Namen des Begara-Stamms. Sowohl der Begera-Stamm als auch unser Volk müssen aufmerksam sein. Die Initiative liegt bei den Menschen und der Verwaltung von Şêxmeqsûd. Sie werden dieses Problem wie in Minbic lösen.