Bedran Çiya Kurd: Russland wollte, dass wir kapitulieren

Politisch war 2019 ein besonders bewegtes Jahr für Nordsyrien. Bedran Çiya Kurd aus dem Exekutivrat der Autonomieverwaltung blickt auf die wichtigsten Ereignisse zurück und gibt eine Vorschau auf 2020: „Die Befreiung aller besetzten Gebiete.“

Im nordsyrischen Qamişlo hat am Vortag die Jahresversammlung der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (Tevgera Civaka Demokratîk, TEV-DEM) stattgefunden. Ein zentrales Anliegen auf der Agenda der Zusammenkunft war es, die politischen Themen des vergangenen Jahres zu reflektieren und einzuordnen. Der militärische Sieg über die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS), die Ausweitung der türkischen Besatzung in Rojava, der Abzug der Koalitionstruppen und die Rückkehr des Regimes an die Grenzen Nordsyriens; für Syrien und den Mittleren Osten war 2019 ein besonders ereignisreiches Jahr. Einen Rückblick auf die politisch entscheidenden Momente gab Bedran Çiya Kurd, stellvertretender Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens.

Am 21. März 2019, dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, holten YPJ-Kämpferinnen in der letzten IS-Enklave al-Bagouz das letzte schwarze Stück Stoff von einem Dach und hissten ihre eigene Fahne. Die Territorialherrschaft des sogenannten „Islamischen Staats“ war zerschlagen, die finale Etappe der Befreiungsoffensive „Gewittersturm Cizîrê“ der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) beendet. Bedran Çiya Kurd hielt fest: „Der militärische Sieg über den IS markierte den Beginn unserer Beziehungen mit dem Rest der Welt. Einige Staaten, die von der Krise in Syrien profitieren, allen voran die Türkei, frustrierte die Niederlage des IS allerdings. Um seine eigenen Interessen durchzusetzen hat der türkische Staat Druck auf alle Seiten ausgeübt und verbissen dagegen angekämpft, dass wir Errungenschaften erreichen. Dass wir von den Gesprächen zur politischen Lösung der Syrien-Krise und dem Verfassungskomitee ausgeschlossen wurden, ist der Verdienst von Ankara.“

Internationale Koalition hielt sich nicht an Abmachungen

Gut sechs Monate nach der Zerschlagung des IS in Syrien hat die Türkei als Mitgliedsland der Nato am 9. Oktober 2019 gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten ihren zweiten Angriffskrieg gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien begonnen. Zwei Wochen später segneten die USA und Russland die Besetzung der Grenzstädte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) ab.

Bedran Çiya Kurd erklärte, der türkische Staat versuche, sowohl Russland als auch die USA für seine Zwecke zu nutzen. „Beide Länder konkurrieren um Einfluss im Mittleren Osten. Sie streben danach, ihre Hegemonie in der Region tiefer zu verankern. Dementsprechend sind Abkommen mit der Türkei geschlossen worden, die zur Besetzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî führten.“ Der kurdische Politiker erwähnte, dass die Selbstverwaltung seit nunmehr fünf Jahren mit der internationalen Anti-IS-Koalition zusammenarbeitet. „Trotz Abmachungen zwischen uns, wonach Nord- und Ostsyrien von den Ländern, die Teil der internationalen Koalition sind, verteidigt wird und Angriffe auf die Region abgewehrt bzw. verhindert werden, haben diese Staaten ihre Verpflichtungen nicht erfüllt. Sie zogen sich aus ihren Stützpunkten zurück und ebneten der Türkei damit den Weg für den völkerrechtswidrigen Angriff auf uns. Dort, wo vor dem Krieg Koalitionstruppen stationiert waren, sind mittlerweile die Truppen Russlands und des Regimes. Der Widerstand der QSD hat aber international viel Solidarität erfahren und eine zentrale Rolle dabei gespielt, die Türkei politisch unter Druck zu setzen. Eine Unterstützung in solch einem Ausmaß übertraf allerdings unsere Vorstellungen.“

Befreiung der besetzten Regionen strategisches Ziel

Bedran Çiya Kurd betonte, dass die Befreiung der Städte Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî ein Fixpunkt im bevorstehenden Jahr ist. „Solange unser Land besetzt ist, werden wir kämpfen und Widerstand leisten. Bei dem Abkommen mit dem syrischen Regime handelt es sich um eine rein militärische Vereinbarung. Sie sieht vor, dass die Regierungstruppen Stellungen entlang der Nordgrenze von Dêrik bis Minbic beziehen. Die Streitkräfte des syrischen Staates sind nicht ins Kampfgebiet vorgerückt, sondern lediglich bis zum internationalen Verkehrsweg M4. Nur die Demokratischen Kräfte Syriens kämpfen ausnahmslos an allen Fronten. Aufgrund dessen gab es massiven Druck.  Russland hat uns damals aufgefordert, die gesamte Region an das Regime zu übergeben. Moskau wollte mit Drohungen unsere Kapitulation erreichen. Wir haben allerdings nicht nachgegeben.“

Der Widerstand der QSD gegen die türkische Invasion habe neue Horizonte zur Vertiefung internationaler Beziehungen eröffnet und biete Möglichkeiten, den politischen Dialog zu intensivieren, so Bedran Çiya Kurd. Viele Länder hätten kein Interesse an einer Schwächung der militärischen Kräfte Nord- und Ostsyriens, da dies ein Wiedererstarken des Terrors verursachen wird, der nicht nur für die Region, sondern für die gesamte Welt eine Bedrohung darstellt.

Wir sind um Dialog und politische Lösung bemüht

Çiya Kurd äußerte sich auf dem Jahrestreffen der TEV-DEM auch zum Dialog mit der syrischen Regierung: „Die Autonomieverwaltung ist um einen echten Dialog und eine politische Lösung für Syrien bemüht, es gibt aber rote Linien. Zum einen fordern wir die Anerkennung der Selbstverwaltung und der QSD. Eine weitere Bedingung ist, dass jeder Dialog mit dem Regime unter Beteiligung aller Komponenten Nord- und Ostsyriens – also Kurden, Araber und Suryoye – stattfindet. Das Regime ist jedoch nicht wirklich an einem Dialog interessiert.”

Regime nutzt Sprache der Gewalt

Es habe bisher keinen einzigen konkreten Schritt der Regierung in Damaskus in Richtung Dialog gegeben, so Çiya Kurd. Moskau versuche zwar mittlerweile zu vermitteln, aber die Vorstellungen Assads und der Autonomieverwaltung von einem zukünftigen Syrien stünden sehr weit auseinander. „Unsere Bedingungen finden noch nicht mal ansatzweise Akzeptanz beim Regime. Von einem Willen zum Dialog kann also keine Rede sein. Damaskus setzt nach wie vor auf eine Sprache der Gewalt. Es scheint so, als hätten wir einen langen Weg vor uns, bis ein echter Dialog mit dem Regime zustande kommt.“