Nach dem Sieg der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) über den IS zählt nun die Frage nach der „Lage nach dem IS“ zu den am meisten diskutierten Punkten. ANF sprach in Qamişlo mit dem Exekutivratsmitglied der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), Bedran Çiya Kurd, über die Perspektiven für die Region.
11.000 IS-Dschihadisten in Haft
Nach inoffiziellen Angaben befinden sich nach der Befreiung der Region östlich von Deir ez-Zor 11.000 IS-Dschihadisten in Gefängnissen Nord- und Ostsyriens. Weiterhin befinden sich Familien von IS-Dschihadisten aus 54 Ländern in Flüchtlingslagern. Es handelt sich um über 70.000 Angehörige von IS-Dschihadisten. Çiya Kurd erklärt, die juristischen, politischen und diplomatischen Arbeiten an der Errichtung eines internationalen Gerichtshofs in der Region dauerten an.
Bedran Çiya Kurd kritisiert, dass Russland, die Türkei und der Iran den Entwicklungsprozess einer neuen Verfassung behindern. Er sagt: „Wir werden niemals eine Verfassung akzeptieren, in deren Entwicklung wir nicht einbezogen waren.“ Die Selbstverwaltung habe einen Entwurf mit zehn Paragrafen nach Russland geschickt, dieser sei aber von Russland „eingefroren“ worden.
Der gemeinsame Kampf muss weitergehen
Er erklärt: „Der IS ist noch nicht vernichtet. Es gibt immer noch Schläferzellen und daher ist ein umfassender Kampf notwendig. Gleichzeitig stellt es unsere wichtigste Aufgabe dar, Lebensbedingungen für die Bevölkerung in den befreiten Gebieten zu schaffen und für Stabilität zu sorgen. Da der IS aber andererseits nicht nur unser Problem ist, liegt die Verantwortung für die Situation nach dem IS ebenfalls nicht nur in unseren Händen. Die Last der Organisierung des Lebens nach dem IS unterliegt auch der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Wir müssen den gemeinsamen Kampf, den wir bis heute geführt haben, auch nach dem Ende des IS weiterführen, damit nicht wieder ähnliche Strukturen entstehen.“
Es muss ein internationaler Gerichtshof eingerichtet werden
Zu den inhaftierten IS-Dschihadisten erklärt das Exekutivratsmitglied. „Im Moment befinden sich etwa 11.000 IS-Mitglieder und 70.000 ihrer Angehörigen bei uns. Die Mehrheit von ihnen kommt aus aller Welt. Wir hatten zuvor schon mehrfach aufgerufen, jedes Land solle kommen und seine Staatsbürger mitnehmen. Aber kein einziger dieser Staaten hat darauf positiv geantwortet. Wir sagen, wenn das so ist, dann muss hier ein internationaler Gerichtshof eingerichtet werden, damit sie in der Region ihr Verfahren erhalten, wo sie ihre Verbrechen begangen haben. Das Richtigste wäre hier, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft einen Gerichtshof einzurichten und hier die Verfahren zu führen.
Es müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden
Unsere diplomatischen, juristischen und politischen Arbeiten zur Einrichtung eines solchen Gerichtshofs gehen weiter. Wir treffen uns mit den Herkunftsländern dieser Personen. Es sind Gefängnisse nötig, in denen diese Personen festgehalten werden können, es sind Sicherheitsvorkehrungen nötig. Die Selbstverwaltung kümmert sich im Moment um mehrere zehntausend Personen, es gibt tausende Frauen und Kinder. Für sie muss irgendwie eine Zukunft geschaffen werden. Daher muss die internationale Gemeinschaft mit anpacken. Damit eine Struktur wie der IS nicht wieder entstehen kann, müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden.
„Die Verfassungskommission nimmt ihre Aufgabe nicht ernst“
Nach einem Treffen zwischen Putin und Erdoğan war auf einer Pressekonferenz die Rede von der Einrichtung einer Verfassungskommission. Çiya Kurd erklärt, die Kommission sei kein ernsthaftes Projekt: „Wir sehen nicht, dass sich Russland, die Türkei und der Iran sich ernsthaft mit dem Verfassungsproblem in Syrien beschäftigen. Wir denken, es handelt sich dabei eher um ein Werkzeug, um die Gruppen, die im Namen der Opposition agieren, aufzulösen. Wir betrachten es als eine Verzögerungstaktik.
„Wir sehen keine Zeichen für einen Wandel in Damaskus“
Wenn wir auf das achten, was Damaskus sagt, dann gibt es da kein Signal, das auf eine neue Verfassung oder einen Wandel hindeuten würde. Das Regime akzeptiert ja die einfachsten, grundlegendsten Punkte nicht. Wir sehen in dieser Hinsicht nicht einen Schritt vom Regime oder von Russland. Auch die USA und die westlichen Mächte akzeptieren dies nicht. Sie sagen, eine Verfassung ohne Zustimmung der Vereinten Nationen sei illegitim.“
„Ohne Einbeziehung unserer Perspektiven werden wir keine Verfassung akzeptieren“
Çiya Kurd berichtet, dass die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien aus dieser Verfassungskommission herausgehalten worden sei und man keine Verfassung akzeptieren werde, welche nicht die Perspektiven der Selbstverwaltung miteinbeziehe: „Die Tatsache, dass wir kein Teil der Verfassungskommission sind, kann entweder als Versuch Syrien zu teilen oder als ein Versuch auf Zeit zu spielen und den Status quo ante widerherzustellen, interpretiert werden. Eine solche Verfassung kann nicht zu einer Lösung der Syrienkrise beitragen. Alle müssen als Teil eines solchen Prozess einbezogen werden. Wir sagen, die Syrienkrise muss durch die Entscheidungen der Menschen aus Syrien gelöst werden. Russland, die Türkei und der Iran versuchen mit Kommissionen in denen keine Syrer sitzen, ja nicht einmal das syrische Regime vertreten ist, eine Verfassung zu schreiben. Wie soll so eine Verfassung die Probleme lösen? Wir sagen es ganz offen, wir werden niemals eine Verfassung, die nicht unsere Perspektiven einbezieht, akzeptieren. Das bedeutet nichts weiter als eine Fortsetzung der Krise.“
Russland will Gespräche zwischen Regime und Selbstverwaltung auf Eis legen
Auf die Frage nach dem Zehn-Punkte Lösungsvorschlag, den die Selbstverwaltung Russland vorgelegt hat, antwortet der TEV-DEM-Vertreter: „Nach dem Entwurf der autonomen Selbstverwaltung wäre es nötig gewesen, dass Russland Gespräche zwischen der autonomen Selbstverwaltung und dem syrischen Regime arrangiert. Beide Seiten hätten über die Paragrafen diskutieren sollen. Aber diese Gespräche kamen nicht zustande. Bisher hat es kein einziges Treffen gegeben. Es gab zwar Treffen mit Russland, aber keine mit dem Regime. Es ist klar geworden, dass Russland entschieden, hat diese Gespräche auf Eis zu legen.“
„Russland betrachtet Gespräche zwischen Damaskus und Selbstverwaltung nur taktisch“
Unsere Frage danach, warum Russland die Gespräche auf Eis gelegt hat, beantwortet er: „Das liegt daran, dass es eine Annäherung zwischen Russland und der Türkei gab und die Türkei Druck auf Russland ausgeübt hat, solche Treffen nicht stattfinden zu lassen. Daher hat Russland diese Entscheidung getroffen. In dieser Hinsicht gibt es immer noch nichts neues. Das zeigt, dass Russland unsere Gespräche mit Damaskus nicht strategisch, sondern nur taktisch betrachtet. Russland benutzt sie als Druckmittel, um von der Türkei Zugeständnisse zu erhalten.
„Russland verliert sowohl uns als auch Syrien“
Wir halten Russlands Politik diesbezüglich für falsch. Russland sollte nicht nur an die eigenen Interessen, sondern auch die von Damaskus und uns denken. Wir denken, wenn sich Russland nicht auf sinnvolle Weise mit dieser Situation beschäftigt, wird Syrien noch größerer Schaden zugefügt. Wenn Russland uns an die Seite schiebt und als Verhandlungsmasse mit der Türkei benutzt, wird es uns ebenso verlieren wie Syrien.“
„Keine Veränderung der Haltung in Damaskus“
Zur Haltung des Regimes fährt er fort: „Wenn wir uns Damaskus ansehen, dann können wir keine Veränderung der Politik oder der Mentalität wahrnehmen. Das Regime träumt immer noch davon, die Zeit auf vor 2011 zurückzustellen. Seiner Meinung nach ist nichts passiert, man könne so tun, als habe es den Krieg nicht gegeben und einfach so weiterregieren. Es hat nichts Neues anzubieten. Aber wir glauben, dass das Land mit dieser Mentalität nicht regieren werden kann und dem Land damit großer Schaden zugefügt wird. Wenn das Regime so weitermacht, wird Syrien gespalten. Es gibt dringenden Bedarf nach einer politischen, militärischen, gesellschaftlichen und juristischen Erneuerung. Aber das will das Regime nicht sehen.“