Aleppo, Efrîn und Idlib: Türkei installiert „Regime des Raubes“

Die Türkei hat in Syrien ein „Regime des Raubes“ installiert, sagt der kurdische Politiker Bedran Çiya Kurd. Allein in Aleppo wurden rund 1000 Fabriken geplündert, Efrîns Oliven lassen jährlich 80 Millionen US-Dollar in die Staatskassen fließen.

Der türkische Staat begeht in den besetzten Gebieten von Syrien unter den Augen der Weltöffentlichkeit systematisch Kriegsverbrechen. Im ANF-Gespräch hat sich der stellvertretende Ko-Vorsitzende des Selbstverwaltungsrats von Nord- und Ostsyrien, Bedran Çiya Kurd, über die Beteiligung der Türkei am Syrienkonflikt und ihre Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten geäußert.

Die Proxymilizen des türkischen Staates

Çiya Kurd fasst die Entwicklung der Krise in Syrien 2011 mit folgenden Worten zusammen: „Die Syrienkrise von 2011 entstand aufgrund des politischen Systems des Baath-Regimes. Die syrische Gesellschaft rebellierte gegen diese Politik und kämpfte für ihre legitimen Forderungen. Die Türkei hat von Anbeginn der Krise sehr berechnend gehandelt. Sie griff direkt in die Innenpolitik Syriens ein und versuchte, den Kurs des Landes in ihrem eigenen Interesse zu lenken und eine Machtbasis dort aufzubauen. Das Mittel der Türkei dafür waren die islamistischen Gruppierungen, die von ihr versorgt wurden.

Gleichzeitig öffnete die Türkei ihre Grenzen und Flughäfen für diejenigen, die sich islamistischen Gruppen anschließen wollten. Diese Gruppen wurden von der Türkei organisiert. Auf diese Weise wurden radikale Organisationen wie Al-Qaida, die Al-Nusra-Front (jetzt Dschabhat Fath asch-Scham), der IS usw. organisiert und Mitglieder über die Türkei nach Syrien geschickt.

Bedran Çiya Kurd

Türkei hat eine demokratische Entwicklung verhindert

Die Türkei wollte einen ihren Ideen, ihrer Ideologie und Mentalität entsprechenden Islam gegen das Baath-Regime wirkmächtig machen. Interessanterweise bestand bis 2011 ein freundschaftliches Verhältnis zwischen der Türkei und dem Baath-Regime. Aber sobald die Syrienkrise begann, wurde das Baath-Regime zum grausamsten Feind erklärt. So wurde Syriens einstiger Freund von einem Tag auf den anderen zum erbitterten Feind. Die Türkei blockierte mit Hilfe der islamistischen Gruppen jegliche demokratische Entwicklung. Sie versuchte, die Kurd:innen daran zu hindern, von den Entwicklungen in Syrien zu profitieren. Gleichzeitig wollte sie die wirtschaftlichen Möglichkeiten Syriens für sich selbst nutzen.“

Regime des Raubs und der Plünderungen

Bedran Çiya Kurd spricht von einem „Regime des Raubs und der Plünderungen“, das vom türkischen Staat installiert wurde. Als ein „fundamentalistisches und rassistisches Regime“ habe die Türkei Syrien zu einem Ort machen wollen, an dem sie ihre eigenen Projekte umsetzen könne. „Die Führung in Ankara versuchte hier politisch wirkmächtig zu werden und sich gleichzeitig ökonomisch zu stärken. Denn das Land befand sich in einer großen Wirtschaftskrise und hatte große ökonomische Probleme. Aus diesem Grund wollte der türkische Staat die Ressourcen Syriens nutzen, um die eigene Herrschaft zu stabilisieren.“

Das sei der Charakter des AKP/MHP-Regimes, führt Çiya Kurd aus. Die Politik der Türkei in den Regionen im Mittelmeerraum zeige sich in Form der Plünderung des gesamten Reichtums. „Sie bedroht Zypern und Griechenland wegen dem Erdgas und schickt Truppen nach Libyen, um Zugriff auf das Öl dort zu erhalten. Im Irak und in Syrien besteht das Hauptziel der Türkei darin, Kontrolle über die Ressourcen zu erhalten. Hier hat das AKP/MHP-Regime bereits alles gestohlen und verkauft, was es in die Finger bekommen konnte. Alles wurde auf dieses Ziel hin organisiert. Die Interessen der Türkei wurden durch al-Nusra, den IS und die Islamische Turkestan-Partei umgesetzt. Diese Gruppen errichteten ein Regime der Plünderung und des Raubs in den von ihnen mit türkischer Unterstützung besetzten Regionen.“

1.000 Fabriken in Aleppo geplündert

Bekanntlich hat die Türkei vor der Krise einige wichtige Schritte in Syrien im industriellen und kommerziellen Bereich unternommen, insbesondere in Aleppo. Die Stadt galt als Wirtschaftsmetropole und war als Industrie- und Handelszentrum besonders wichtig. „Mit dem Ausbruch des Krieges hat die Türkei daher insbesondere Aleppo ins Visier genommen. Sie versuchte hier die gesamte Industrie zu stehlen. Nach unseren Daten wurden 1000 Fabriken in Aleppo geplündert und vollständig in die Türkei gebracht. Die mit Ankara verbundenen Söldnergruppen richteten zwischen 2012 und 2016 einen Schaden von etwa 100 Milliarden Dollar in der Region an. Zudem zerstörte die Türkei etwa 80 Prozent der Orte, die sie nicht direkt erreichen konnte“, erklärt Çiya Kurd.

Schienen bei Idlib herausgerissen und verkauft

In Idlib rissen die Invasionstruppen die Bahngleise heraus und verkauften sie in der Türkei. Faktisch alle Gebiete, in die der türkische Staat vordrang, wurden von Diebstahl beherrscht. Nach Berechnungen der Selbstverwaltung brachten diese Plünderungen in Syrien dem türkischen Haushalt Einnahmen von jährlich zehn Milliarden Dollar ein.

Lösegelderpressung

„Nachdem die türkischen Truppen und ihre Söldner die Fabriken in Aleppo geplündert hatten und nichts mehr zu holen war, begannen sie gutsituierte oder reiche Menschen zu entführen und Lösegelder zu erpressen. Diese vom türkischen Staat regelrecht geförderte Praxis wurde zur Haupteinnahmequelle der Söldnergruppen. Die vier Jahre, in denen sich der türkische Staat in Aleppo aufhielt, wurden zu einer Zeit größter Zerstörung und Plünderung“, fasst Çiya Kurd zusammen.

Kultureller Genozid

Im März 2018 besetzte die Armee des NATO-Partners unter Zuhilfenahme eines dschihadistischen Invasionskorps den bis dahin selbstverwalteten, vorwiegend von Kurd:innen bewohnten Kanton Efrîn. Efrîn war besonders für seine landwirtschaftlichen Produkte und speziell für Oliven berühmt. Çiya Kurd schildert die Folgen: „Von der Besetzung Efrîns bis heute hat das Plünderungsregime dort kein Ende gefunden. Es ist jedem bekannt, dass Raub und Plünderung, Zerstörung, kultureller Genozid und gezielte demografische Veränderung in Efrîn stattfinden. Der türkische Staat begeht hier das Verbrechen des Völkermords.

Raub von Olivenprodukten in achtstelligem Bereich

Bekanntlich wurden Hunderttausende Olivenbäume gefällt. Der türkische Staat beschlagnahmte sowohl Efrîns Oliven als auch das Öl. Beides wird in die Türkei gebracht und von dort in europäische Länder verkauft. Allein aus diesem Raub fließen jährlich 80 Millionen Dollar in die türkische Staatskasse.

Historische Güter geraubt und verkauft

Etwa 25 historische Stätten wurden geplündert. Dieser Kulturraub wird vom türkischen Militär, dem Geheimdienst und den Söldnergruppierungen permanent fortgesetzt. In Efrîn findet eine Vernichtung von Geschichte statt. Die Türkei hat Syrien und den Irak zu einer sprudelnden Quelle für den Raub historischer Objekte gemacht. Überall wo die Türkei hinkommt, ob in Efrîn, Serêkaniyê, Girê Spî oder Idlib, werden Verbrechen an der Geschichte begangen. Diese Verbrechen werden durch den IS oder al-Nusra durchgeführt. Auf diese Weise werden die historischen Objekte in die Türkei gebracht. Der Markt von Dîlok [tr. Antep] ist als Ort bekannt, an dem die historischen Objekte aus Syrien und dem Irak verkauft werden. Hinter diesem Handel steht der türkische Staat und er findet unter Erdoğans Leitung und Kontrolle statt. In diesem Zusammenhang werden Millionen verdient.“

„Türkei hat mit syrischem Öl gehandelt“

Çiya Kurd erinnert auch an den Handel der Türkei mit dem vom IS aus Syrien und dem Irak geraubten Öl: „Als Raqqa und Deir ez-Zor unter der Herrschaft des IS standen, wurde das Öl der Region über Idlib mit Tankern in die Türkei gebracht. Mit diesem Ölhandel konnte die Türkei viel Geld einsparen.“

Die Türkei deckt etwa 70 Prozent ihres Ölbedarfs von außen. Aus diesem Grund hat sie intensiv die Wege zu Nutzung geraubten Öls aus Syrien erweitert. Ankara versuchte dies offiziell unter verschiedenen Deckmänteln zu machen, sagt Çiya Kurd. „Bekanntlich erklärte Erdoğan 2019 bei einem zwischenstaatlichen Treffen, dass in Nordsyrien eine Sicherheitszone errichtet werden soll, in der drei Millionen syrische Flüchtlinge angesiedelt würden. Er forderte die Kontrolle der syrischen Ölquellen ein, damit die Einnahmen ‚für syrische Flüchtlinge‘ ausgegeben werden könnten. Erdogan stiehlt ganz unverhohlen und offiziell syrisches Öl. Die Türkei profitiert auch von europäischen Ländern, indem sie syrische Flüchtlinge als politische Druckmittel missbraucht. In diesem Zusammenhang hat das Regime im Laufe der Jahre viel Geld aus Europa bekommen und damit seine Macht zementiert. Dies ist ein ernstes Problem, denn die AKP/MHP ist in der Türkei zu einem ernsten Problem geworden.“

„Erst Besatzung, dann Plünderung“ 

Ziel und Plan der türkischen Regierung seien klar: „Es geht um Besatzung“, meint Çiya Kurd. Allein mit Syrien werde sich die Türkei nicht zufriedengeben, sondern auch in weitere Regionen und Staaten einmarschieren. „Die türkische Führung will in den von ihr besetzten Gebieten ein System des Diebstahls und der Plünderung aufbauen. Die Plünderung der Geschichte findet ebenfalls in diesem Rahmen statt. Das Regime gewinnt mit verschiedenen Mitteln und Methoden jeden, insbesondere die Gesellschaft in der Türkei. Es heißt dann immer, das Land sei in Syrien und im Irak einmarschiert ‚um die nationale Sicherheit zu gewährleisten‘. Gleichzeitig wolle man ‚die syrische Opposition unterstützen‘. Dabei fördert der türkische Staat Söldnertruppen, und das auch noch auf betrügerische Weise. Hinter all dieser Rhetorik steht ein Regime des Diebstahls und der Plünderung. Dahinter stecken Erdoğan, seine Familie und ihr Umfeld. Wir können von einer offiziellen Mafiaorganisierung der Türkei sprechen.“

„Einsatz verbotener Waffen“

Çiya Kurd bestätigt Berichte über den Einsatz verbotener Waffen durch den türkischen Staat und seine Söldnertruppen: „Die Türkei hat diese Banden bewaffnet und unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe für sie Lastwagen mit Waffen nach Syrien geschickt. In den Händen dieser Söldner wurden chemische und andere verbotene Waffen gesehen. Diese Waffen wurden gegen die Menschen in Aleppo und Efrîn eingesetzt. In Şêxmeqsûd in Aleppo wurde Sarin-Gas eingesetzt. Das ist gesichert. Bis heute leiden manche Menschen unter den Folgen dieser Chemiewaffeneinsätze. Viele Journalisten haben erklärt, die Waffen und die militärische Ausrüstung seien nach Syrien gebracht worden, um Chaos zu schaffen. Neue Aufnahmen zu SADAT [Söldnerfirma des türkischen Staates] zeigen, dass sie persönlich involviert war. Das ist eine Tatsache. Das, was das AKP/MHP-Regime in Syrien anrichtet, ist nichts weniger als eine Fortsetzung der Praxis des IS. Die Türkei hat dem IS, al-Nusra und ihren aktuellen Nachfolgern Waffen gegeben und damit einen Völkermord in der Region begangen. Diejenigen, die für diese Gruppen verantwortlich sind, und diejenigen, die diese Verbrechen verübt haben, sollten vor internationale Gerichte gestellt werden. Die Verbrechen reichen von Diebstahl bis Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

„Wir haben die Beweise weitergegeben“

Was Erdoğans Diebstahl und Plünderung in Aleppo, den Völkermord und die aktive Veränderung der demografischen Struktur von Efrîn betrifft, so haben wir als Autonomieverwaltung viele Akten und Dokumente an internationale Institutionen und die betreffenden Staaten weitergeleitet. Wir wollten, dass die Verantwortlichen, vor allem Erdoğan und seine Söldner, strafrechtlich verfolgt werden. Gleichzeitig befinden sich die besetzten Gebiete Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê auf unserer Agenda. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Mit dem, was hier geschehen ist und weiterhin geschieht, muss umfassend abgerechnet werden.

Nicht nur die Menschen in der Region, die unter der türkischen Politik leiden, sollten sich dagegenstellen. Alle sollten es. Die mächtigen Staaten, die internationale Mächte und die Vereinten Nationen müssen sich gegen dieser türkischen Besatzungspolitik positionieren. Mit ihr bedroht die Türkei den Frieden, die Sicherheit und die Existenz der Menschen in der gesamten Region. Ankara verhindert, dass die Probleme der Region im Dialog gelöst werden. Deswegen muss die Türkei zur Rechenschaft gezogen werden.“