Der türkische Staat verändert aktiv die demografische Struktur in Nordsyrien. Dabei setzt er auf Vertreibungs- und Siedlungspolitik. Perspektivisch will die Türkei einen bis weit in den Süden reichenden Streifen Syriens besetzen und annektieren. In der Türkei findet seit geraumer Zeit eine hetzerische Debatte über die aus Syrien geflüchteten Menschen statt. Staatschef Erdogan hat angekündigt, eine Million Flüchtlinge zurück nach Syrien zu schicken. Diese Menschen sollen in der türkischen Besatzungszone im Norden des Landes angesiedelt werden.
Mihemed Şahin ist Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Autonomieverwaltung in der Euphrat-Region und hat sich im ANF-Interview zu dem Thema geäußert. Seiner Meinung nach hat Erdogan mit seiner Erklärung über die Rückkehr von einer Million Flüchtlingen lediglich offiziell gemacht, was ohnehin geschieht: Die Türkei annektiert Gebiete in Syrien.
Der türkische Staat greift Nordostsyrien immer massiver an. Im Oktober 2019 wurden zwei Waffenstillstandsabkommen getroffen. Was ist seitdem geschehen?
Der türkische Staat hat mit seinen Partnern Besatzungsoperationen in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî durchgeführt. Die Waffenstillstandsabkommen wurden zwischen der Türkei und Russland sowie zwischen der Türkei und den USA geschlossen. Die türkischen Angriffe auf die Region haben jedoch nie aufgehört. Der türkische Staat und seine Söldner greifen täglich an. Bekanntlich haben sich die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) dreißig Kilometer zurückgezogen, um das angebliche Argument der Türkei hinsichtlich ihrer Grenzsicherheit zu entkräften. In diesem dreißig Kilometer tiefen Streifen befinden sich keine militärischen Kräfte mehr und es finden auch keine militärischen Aktivitäten statt. Trotzdem werden die Angriffe auf unsere Gebiete kontinuierlich fortgesetzt.
Dem türkischen Staat geht es nicht um die Sicherheit seiner Grenze. Seit Beginn der Syrien-Krise und insbesondere seit unserer Revolution hat es keine von uns verursachte Grenzgefährdung gegeben. Der AKP-Regierung unter Erdogan geht es um einen neo-osmanischen Expansionismus im Nahen Osten. Sie will ihr Herrschaftsgebiet ausweiten. Zu diesem Zweck soll die Stabilität in unseren selbstverwalteten Gebiete zerstört und unser demokratischen System zerschlagen werden. Die türkische Regierung will anstelle der Demokratischen Autonomieverwaltung ein eigenes System etablieren, für das sie radikale Banden benutzt. Die täglichen Angriffe auf Nordostsyrien sind Teil dieses politischen Plans.
Halten Sie eine umfassende Invasion momentan für wahrscheinlich?
Der türkische Staat wollte seine Macht in Syrien seit Beginn der Krise über radikale Gruppen ausbauen. Weil ihm das nicht vollständig gelang, trat er mit seiner eigenen Armee auf den Plan. Er intervenierte in Idlib, Efrîn, Azaz, Serêkaniyê und Girê Spî. Die Besatzung von Serêkaniyê und Girê Spî hat im Herbst 2019 internationale Reaktionen ausgelöst. Aus diesem Grund finden keine offenen Großoperationen statt, vielmehr agiert der türkische Staat mit speziellen Methoden. Einrichtungen und Verantwortliche der Autonomieverwaltung sowie zivile Siedlungsgebiete werden ständig angegriffen. Damit soll Chaos ausgelöst und eine Fluchtwelle in Gang gesetzt werden. Mit diesen Operationen soll die Besatzung von Serêkaniyê und Girê Spî vervollständigt werden. Das ist der Zweck der Luft- und Bodenangriffe. Der türkische Staat sucht ständig nach einer Gelegenheit, um eine weitere großangelegte Invasion zu rechtfertigen. Sobald er auf internationaler Ebene den Boden dafür bereiten kann und genug Selbstvertrauen hat, wird er eine neue Großoperation starten.
Früher hat sich der türkische Staat nicht zu seinen Drohnenangriffen bekannt. Inzwischen lobt er sich offen dafür. Sagt Russland als Garantiemacht in der Region irgendetwas dazu?
Wir haben uns Dutzende Male an die russischen Kräfte gewandt. Gemäß der Allianz mit unseren militärischen Kräften ist Russland für die Sicherheit der Region verantwortlich. Die russische Haltung hat uns jedoch nie überzeugt. Es gibt keine politische oder militärische Reaktion auf die türkischen Angriffe. Auch hinsichtlich der Drohnenangriffe der Türkei haben wir eine Reaktion Russlands eingefordert. Uns wurde jedes Mal geantwortet, dass die Herkunft der Drohnen nicht feststehe. Anfangs hat der türkische Staat sich nicht dazu bekannt, das passiert erst in jüngerer Zeit und verweist auf die hinter dem Vorhang geschlossenen Abkommen zwischen dem türkischen Staat und den Garantiemächten in der Region. Die Türkei kann sich zu diesen Anschlägen bekennen, weil sie auf Absprachen basieren.
Nach der Ankündigung Erdogans, eine Million Flüchtlinge anzusiedeln, sind die Augen auf die Region gerichtet. Dass die Bevölkerungsstruktur gezielt verändert wird, ist eine ohnehin bekannte Tatsache. Wieweit soll die demografische Veränderung gehen?
Der türkische Staat führt seit dem ersten Tag der Besatzung von Idlib, Dscharablus, Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî eine demografische Veränderung herbei. Das ist also keine neue Entwicklung. In den besetzten Gebieten werden Personen angesiedelt, die nicht von dort stammen. Es sind ortsfremde Dschihadisten und ihre Angehörigen. Einige stammen nicht einmal aus Syrien. Das türkische Regime erklärt völlig offen, dass Flüchtlinge angesiedelt werden sollen. Anstelle der Kurden sollen dort Menschen anderer Herkunft leben. Bevor das deklariert wurde, hat in der Praxis ohnehin schon ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden.
Was unternehmen Sie dagegen? Und was ist die Aufgabe der Gesellschaft?
Als Autonomieverwaltung ist es unsere Aufgabe und auch unsere Strategie, dagegen zu kämpfen. Das haben wir entschieden. Wir werden in diplomatischer und politischer Hinsicht alles für unsere legitimen Rechte tun. Es geht auch nicht nur um den demografischen Wandel, wir kämpfen gegen die Besatzung insgesamt. Der türkische Staat will mit seinen Angriffen den Willen der Bevölkerung brechen, unsere erkämpften Werte sollen eliminiert werden. Dazu gehören auch die ideellen Werte, die zwischen den Bevölkerungsgruppen entstanden sind. Wir appellieren an die Bevölkerung, sich dagegen zu wehren und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben einzustehen.