Muslim: Wir müssen eine Lösung gegen die Drohnen finden
Der PYD-Politiker Salih Muslim spricht von einem gewaltigen Krieg der Türkei gegen Kurdistan und Rojava. Der türkische Staat versuche, die Demografie durch Siedlungspolitik zu verändern.
Der PYD-Politiker Salih Muslim spricht von einem gewaltigen Krieg der Türkei gegen Kurdistan und Rojava. Der türkische Staat versuche, die Demografie durch Siedlungspolitik zu verändern.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs eskalieren die Angriffe auf Rojava. Neben Tausenden Artillerieangriffen werden Dutzende Drohnenangriffe geflogen. Gleichzeitig plant das Erdoğan-Regime, Schutzsuchende aus Syrien in der Region anzusiedeln. Der PYD-Politiker Salih Muslim analysiert im Interview die Invasionsangriffe des türkischen Staates auf Südkurdistan sowie Nord- und Ostsyrien.
„Totaler Krieg gegen Kurd:innen“
Warum wurde das südkurdische Zap-Gebiet ins Visier genommen und was hat das mit Rojava zu tun?
Wir können die Invasionsangriffe des türkischen Staates auf die Guerillagebiete in Zap oder Südkurdistan nicht unabhängig von uns betrachten. Diese Invasionsangriffe sind Teil des „Niederwerfungsplans“, der seit 2014 in Kraft ist. Der türkische Staat führt einen totalen Vernichtungskrieg gegen die Kurdinnen und Kurden. Im Jahr 2014 wurde dieser Plan mit dem Versuch begonnen, die kurdische Bevölkerung in Rojava vollständig auszulöschen, dann wollte man sich den Kurden in Nordkurdistan zuwenden und danach Südkurdistan angreifen.
Als Etappe dieses Plans sollte der Volkswiderstand in Nordkurdistan und Rojava durch Besatzung und Angriffe unterdrückt und so die kurdische Freiheitsbewegung in den Bergen isoliert werden. In Südkurdistan wird gerade das Sri-Lanka-Modell umgesetzt, in dem alles gegen die Berge gerichtet wird, um die PKK-Guerilla zu vernichten. Dieser Plan wird seit 2014 verfolgt.
Die Türkei ließ den „Islamischen Staat“ (IS) Rojava angreifen, aber die IS-Angriffe stießen auf Widerstand und wurden zerschlagen. Der Plan war nicht erfolgreich. Aus diesem Grund musste der türkische Staat selbst in Syrien einmarschieren. Am 24. August 2016 besetzten türkische Truppen, ausgehend von Cerablus erst Şehba, später folgten Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî. Die Regionen wurden mit einem massiven Angriff besetzt. Die Angriffe haben damit aber nicht aufgehört, täglich wird Rojava von Drohnen und Artillerie angegriffen.
In den Jahren 2015 bis 2016 griff der türkische Staat auch nordkurdische Städte wie Nîsebîn, Şirnex und Amed an. Die Weltöffentlichkeit sah, dass die türkischen Truppen noch schlimmere Massaker verübten und Zerstörung hinterließen als der IS. Jetzt versucht der türkische Staat allen zu erklären: „Wir haben Bakur und Rojava leergemacht, sie sind nur noch auf dem Berg in Südkurdistan, wir werden sie vernichten, und wir werden damit den Kurden ein Ende setzen.“
Aber nicht alles geht so, wie es der türkische Staat plant. Wir sind die andere Partei des Krieges. Unsere Hände sind nicht gebunden. In Rojava leisten wir und unser Volk Widerstand. Zehntausende Menschen sind in Nordkurdistan in Gefangenschaft, der Faschismus ist massiv, aber der Widerstand geht auch dort weiter. Hunderttausende Menschen füllten an Newroz die Plätze und setzten den Widerstand fort. Aus diesem Grund verstärkt der türkische Staat seine Angriffe auf Rojava gleichzeitig zu den Angriffen auf Zap. Es geht um die Vernichtung der Kurdinnen und Kurden. Aber der Kampf geht weiter.
„Das Volk steht hinter der Guerilla“
Inwiefern unterstützen die Menschen hier den Guerilla-Widerstand?
Die PKK hat eine Geschichte und eine Basis. Sie hat sich in Kurdistan entwickelt und das Volk und die PKK sind eins geworden. Die Guerilla in Südkurdistan und im Zap besteht nicht nur aus Menschen aus dem Norden. Die Guerilla hat eine Basis. Die Kämpferinnen und Kämpfer, die heute in Zap und Südkurdistan Widerstand leisten, haben sich der Guerilla aus allen vier Teilen Kurdistans angeschlossen. Diese Berge sind die Berge Kurdistans. Die Guerilla ist seit 1982 dort, sie hat dort ihren Platz eingenommen. Die Bewegung ist zu einer Volksbewegung geworden. Das Volk steht hinter dieser Bewegung und der Guerilla.
Auch besteht die Guerilla der PKK nicht nur aus Kurdinnen und Kurden; es gibt auch arabische und assyrische Kämpferinnen und Kämpfer und Menschen aus anderen Nationen. Im Laufe dieses Krieges sind Dutzende Kämpferinnen und Kämpfer aus Rojava und der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien gefallen. Darunter sind kurdische, arabische und andere Gefallene. In diesem Kontext ist dieser Krieg kein Krieg, der auf die Berge beschränkt bleiben wird. Der Krieg des türkischen Staates ist darauf angelegt, die Völker zu vernichten. Es ist ein Krieg gegen das Paradigma des freien Zusammenlebens der Völker. Und die Völker von Rojava und Nordostsyrien haben dieses Paradigma angenommen.
„Südkurdistan soll besetzt und der Status der Region aufgehoben werden“
Wir sehen aber auch, dass die PDK mit dem türkischen Staat bei diesen Angriffen zusammenarbeitet. Was bedeutet das für den Status von Südkurdistan?
Leider unterstützen manche regionalen Kräfte in Südkurdistan bisher den türkischen Staat und gehen mit ihm gemeinsam vor. Die Pläne der Türkei sind offensichtlich. Man will nicht, dass die Kurden einen Status erreichen. Der bisherige Plan des türkischen Staats im Irak besteht darin, den Status von Südkurdistan und den Föderalismus zu zerstören. Vertreter des faschistischen türkischen Staats verkünden täglich im Fernsehen, man werde Kerkûk zur 82. Provinz der Türkei machen. Ich weiß nicht, zur wievielten Provinz sie dann Mosul machen wollen. Das ist natürlich nicht nur Geschwätz. Die Türkei steckt hinter all dem Chaos im Irak.
Der Türkei geht es nicht nur darum, gegen die Guerilla zu kämpfen. Warum hat sie sonst etwa 40 permanente Stützpunkte in Südkurdistan? Warum hat sie eine Basis in Başika errichtet? Ziel des türkischen Staates ist es, Südkurdistan zu besetzen und den bestehenden Status aufzuheben. Für die Türkei spielt es keine Rolle, wer Freund oder Feind ist; Kurde ist Kurde und soll keinen Status haben. Ich weiß nicht, warum die PDK das ignorieren und verbergen will.
Die Kurdinnen und Kurden haben noch nie ihre Augen auf den Besitz von jemandem anderen gerichtet, sie befanden sich immer in einer Position legitimer Selbstverteidigung. Aber der türkische Staat hat alle Türen des Dialogs verschlossen. Die Existenz kurdischer Politik, Diplomatie und der Institutionen soll beendet werden. Die Guerilla schützt sich und das Volk, indem sie auf dieser Grundlage kämpft. Dies ist auch in Rojava der Fall. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) befinden sich in legitimer Selbstverteidigung.
Bisher hat die Türkei Südkurdistans Föderalstatus nicht akzeptiert. Sie erwähnt nicht einmal den Namen der Region oder den Begriff „Kurdistan“. Wir betrachten das Kommens und Gehen der südkurdischen Vertreter in Ankara als ein Armutszeugnis. Der türkische Staat hat immer mit Verachtung auf sie herabgesehen. Tatsächlich will er sie sogar vernichten. Er spielt damit, wie er die Kurden demütigen kann, wie er sie gegeneinander aufbringen und für seine Interessen einsetzen kann.
„Die Guerilla antwortet in der Sprache, die der türkische Staat versteht“
Es finden immer mehr tödliche Angriffe durch türkische Drohnen statt. Steht der Luftraum über Nord- und Ostsyrien nicht eigentlich unter der Kontrolle der Koalition, der USA und Russlands?
Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Die Gräueltaten der Türkei in Rojava werden nicht gesehen. Das widerspricht jeder Menschlichkeit. In ihrem Krieg gegen die Kurden kennt die Türkei keine moralischen, rechtlichen oder internationalen Standards, sie greift grausam an. Das hat sie in ihrer gesamten Geschichte getan. Diese Angriffe dauern an und nehmen zu.
Die USA, Russland und die anderen gaben nur gelegentlich Erklärungen ab, äußern Bedenken oder verurteilen die Angriffe verbal. Der türkische Staat versteht diese Hinweise nicht, er versteht nur den Krieg. Weder die USA noch Russland werden die Türkei für uns bekämpfen. Sie denken nur an ihre eigenen Interessen. Es ist nur die Guerilla, die in der Sprache antwortet, die der türkische Staat versteht. Die Guerilla kämpft nicht wegen Feindseligkeit oder in Zerstörungsabsicht gegen die Türkei, sondern allein auf der Grundlage legitimer Selbstverteidigung. Denn der türkische Staat will verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden einen Status bekommen, er will sie vernichten. Wir sehen auch, was die Türkei der Bevölkerung in Nordkurdistan, den Gefangenen und kurdischen Politikerinnen und Politikern antut.
Obwohl die internationalen Mächte einige Erklärungen gegen die Angriffe der Türkei abgegeben haben, legen sie diesem brutalen und maßlosen Staat die Waffen in die Hand. Das gilt auch für die Drohnen. Wir müssen Abwehrmaßnahmen ergreifen. Zum Beispiel starten diese Drohnen und greifen russische Soldaten in der Ukraine an. Aber Russland sagt dazu gar nichts. Die Beziehungen beruhen auf Interessen, es heißt: „Wenn es auf der einen Seite einen Verlust gibt, gibt es auf der anderen einen Gewinn.“ Aber bei diesen Drohnenangriffen wird unser Volk getötet. In dieser Hinsicht müssen wir unsere eigenen Maßnahmen ergreifen, uns verteidigen und eine Lösung für die Drohnenangriffe finden.
„Schutzsuchende sollen als Mittel zur Demografieveränderung eingesetzt werden“
Erdoğan hat angekündigt, eine Million syrische Flüchtlinge in den besetzten Gebieten in Rojava ansiedeln zu wollen. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Diese Idee von Erdoğan ist Teil seines antikurdischen Vernichtungsplans. Um die kurdische Identität zu eliminieren, ist es zunächst notwendig, sie sich selbst vergessen zu lassen, mit anderen Worten, sie zu assimilieren. Wenn man sie nicht damit ausschalten kann, dann vertreibt man sie, wenn das nicht geht, ermordet man sie. Die Türkei verfolgt alle drei Ansätze gleichzeitig. Sie betreibt Assimilationspolitik in Nord-, Süd- und Westkurdistan. Wir sehen, dass der türkische Staat jeden Tag neue türkische Schulen in den besetzten Gebieten in Rojava eröffnet. Hunderttausende Kurdinnen und Kurden mussten aufgrund der Angriffe und der Besatzung aus al-Bab, Cerablus, Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî fliehen. Der türkische Plan ist es, die Kurdinnen und Kurden durch Krieg zu vernichten, sie zu vertreiben und die Demografie an den von ihnen besetzten Orten zu verändern. Und das tut der türkische Staat bereits.
Wir wollen, dass die Menschen, die fliehen mussten, in ihre Heimatorte zurückkehren können. Aber sie können nicht zurückkehren, solange die Orte besetzt sind. Diejenigen, die zurückkehren, werden vom türkischen Staat und seinen Söldnern gefoltert und ermordet.
Die Türkei hat Efrîn mit arabischen und turkmenischen Dschihadisten und ihren Familien besiedelt. Diese Söldner kommen aus Ghouta, Damaskus und Idlib. Jetzt baut der türkische Staat für sie große Lager und Dörfer aus Fertighäusern. Bisher kommt das Geld von der Muslimbruderschaft. Mit anderen Worten, aus den Einrichtungen der Muslimbruderschaft in Kuwait, Katar und in den Golfstaaten. Mit diesem Geld wird daran gearbeitet, die Demografie von Efrîn und den anderen besetzten Gebiete zu verändern.
„Der türkische Staat arbeitet systematisch nach Plan“
Erdoğan und der türkische Faschismus arbeiten sehr systematisch. Sie steckten Syrien in Brand und vertrieben die Menschen. Sie nutzen die Geflüchteten in der Türkei für ihre Interessen. Während Menschen aus Syrien, die das Geld aufbringen konnten, für fünf- bis zehntausend Euro durch vom türkischen Geheimdienst kontrollierte Schmuggler nach Europa gebracht wurden, hat die Türkei durch die Drohung mit den Schutzsuchenden von Europa 40 Milliarden Euro erhalten. Das Geld wird nicht wie vorgesehen für Flüchtlinge eingesetzt. Es fließt vor allem in den Krieg in Kurdistan. Jetzt werden mit dem Geld der Muslimbruderschaft Häuser in den besetzten Gebieten für die Flüchtlinge gebaut, um die Demografie der Region zu verändern.
Etwa 300.000 Syrerinnen und Syrer haben die türkische Staatsbürgerschaft und türkische Personalausweise bekommen. Um wen handelt es sich dabei? Es handelt sich um die Reichen, um Ärzte und ähnliche Personen. Also Menschen, von denen sich die Türkei einen Nutzen verspricht und die bei den Wahlen eingesetzt werden. Was bleibt, sind diejenigen, die als nutzlos betrachtet werden, diejenigen, die nicht nach Europa gehen können. Sie werden in die von der Türkei besetzten Regionen geschickt und gegen die Kurden eingesetzt. Es wurden bereits 120.000 von ihnen rekrutiert und in eine Reservebesatzungsarmee verwandelt. Der türkische Staat schickte sie sogar nach Libyen und Aserbaidschan. Nun sollen welche in die Ukraine geschickt worden sein. Mit anderen Worten, die Türkei setzt syrische Geflüchtete sehr systematisch für ihre eigenen Interessen ein.
So etwas wie Frieden, Ruhe und Stabilität gibt es in den besetzten Gebieten nicht. Es gibt nur Unterdrückung, Folter und Krieg. Sogar die Söldner bekämpfen sich gegenseitig. Menschen fliehen aus den Besatzungszonen und kommen in unsere Gebiete. Nicht nur Kurdinnen und Kurden, sondern auch Araberinnen und Araber sind auf der Flucht hierher.
„Kein anderer Weg als der des Widerstands“
Was schlagen Sie den politischen Kräften in Rojava vor, gegen diese Pläne zu unternehmen?
Wir müssen sowohl gegen den türkischen Plan, die Kurdinnen und Kurden zu vernichten, als auch gegen die Benutzung der „Rückkehr“ von syrischen Geflüchteten Widerstand leisten. Die vertriebenen Menschen aus Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê geben ihre Heimat nicht auf. Sie warten von morgens bis abends auf die Rückkehr und arbeiten daran zurückzukehren. Wir müssen der Welt mitteilen, was der türkische Staat in den besetzten Gebieten tut und dass es dort nicht, wie behauptet, Frieden gibt. Es ist legitim, dass wir uns diesem Plan mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln widersetzen. Das werden wir auch tun.
Abschließend möchte ich Folgendes sagen. Wir haben keine andere Wahl, als Widerstand zu leisten. Wir sollten keine Erwartungen nach außen haben, also an die internationalen Mächte oder Staaten. Denn niemand außer wir selbst wird etwas für uns tun. Wenn wir uns stärker organisieren und verteidigen und den türkischen Vernichtungsplan vereiteln, wird jeder uns anerkennen. Aber ohne uns wird niemand etwas unternehmen. Der Feind ist grausam und kennt kein Maß. Niemand sollte sich in dies Hinsicht selbst täuschen.
„Einem solchen Krieg kann kein Staat standhalten, aber das kurdische Volk leistet Widerstand“
Es gibt auch eine andere Tatsache: Die Türkei greift uns seit so vielen Jahren an. Für diese Angriffe erhält sie von überall her Geld. Aber dennoch steht sie vor dem Zusammenbruch. Warum? Weil wir Widerstand leisten, geht der Plan nicht auf. Aber der türkische Staat hört nicht auf, seine Angriffe fortzusetzen. Der Krieg, den er seit 2015 gegen die Kurdinnen und Kurden führt, ist ein gewaltiger Krieg. Selbst zwischen zwei Staaten gibt es keinen so großen Krieg. Selbst Staaten könnten diesem Krieg, den die Türkei gegen das kurdische Volk führt, nicht standhalten. Aber die Türkei verliert, weil das kurdische Volk Widerstand leistet. Dieser Widerstand wird anhalten und erfolgreich sein.