Türkei: Journalistin Ayşegül Doğan als „Terroristin“ verurteilt

Die Journalistin Ayşegül Doğan ist wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt worden. Der Kurdin wird ihre Tätigkeit als Medienschaffende im Zusammenhang mit dem kriminalisierten KCD zur Last gelegt.

Die 9. Schwurgerichtskammer in Amed (türk. Diyarbakir) hat die kurdische Journalistin Ayşegül Doğan wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die ehemalige Programmkoordinatorin des staatlich geschlossenen Fernsehsenders IMC TV sei nach Ansicht des Gerichts Mitglied des ständigen Rats des zivilgesellschaftlichen Dachverbands KCD (Demokratischer Gesellschaftskongress) und gehöre der Kultur- und Bildungskommission des Zusammenschlusses an. Der KCD ist in der Türkei nicht verboten, dennoch wird er seit geraumer Zeit von der türkischen Justiz als Terrororganisation gehandelt.

Ayşegül Doğan, Tochter des 2007 verstorbenen Politikers und Parlamentsabgeordneten Orhan Doğan, nahm an der Gerichtsverhandlung nicht teil und ließ sich von Mehmet Emin Aktar und Emel Ataktürk vertreten. Die Rechtsanwält*innen wiesen die Anschuldigungen gegen ihre Mandantin zurück und forderten erneut die Einstellung des Verfahrens. Doğan sei nicht Mitglied des KCD, sondern habe als Medienschaffende lediglich Veranstaltungen der Organisation besucht und Interviews mit Delegierten geführt. Allgemein fehle es der Anklage einer juristischen Grundlage, da gegen den KCD kein Betätigungsverbot vorliege. Die Anklageschrift bestehe größtenteils aus Gesprächsprotokollen, die unter Verwendung von illegal abgehörten Telefonaten der Journalistin mit KCD-Delegierten erstellt wurden. Im Übrigen sei die Telefonüberwachung von Doğans Gesprächspartnern von neun Richtern angeordnet worden, die wegen Kontakten zur FETÖ des Amtes enthoben und/oder verhaftet wurden.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung klärten die Rechtsanwält*innen Aktar und Ataktürk das Gericht über den KCD und seine Funktionen auf und verlangten von der Anklagebehörde, konkrete Beweise für terroristische Aktivitäten unter Verwendung einer Waffe darzulegen. „Alles hier entwickelt sich zunehmend kafkaesk, von der Verfassung geschützte Rechte werden als illegal gewertet. Festzustellen, dass normale journalistische Arbeit als illegal und terroristische Aktivität angesehen wird, lässt uns zu dem Schluss kommen, dass gegen Ayşegül Doğan das Prinzip des Feindstrafrechts zur Anwendung kommt“, sagte Mehmet Emin Aktar.

Sechs Jahre und drei Monate Haft

Das Gericht blieb unbeeindruckt und verurteilte Ayşegül Doğan zu einer Haftstrafe in Höhe von sechs Jahren und drei Monaten. Vom Vorwurf der Gründung und Leitung einer bewaffneten Organisation wurde die Journalistin freigesprochen. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, muss sie nicht ins Gefängnis. Ihr Verteidigerteam hat bereits angekündigt, in Berufung zu gehen.

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).