Semra Özkan: „Mein Vater erlebt seine letzten Tage“

Mehmet Emin Özkan sitzt seit 1996 unschuldig in der Türkei im Gefängnis und ist schwer krank. Die Tochter des 85-jährigen Kurden aus Amed sagt, dass ihr Vater seine letzten Tage erlebt.

Die türkischen Behörden halten Mehmet Emin Özkan weiterhin hinter Gittern, obwohl sich der Gesundheitszustand des 85-Jährigen verschlechtert. Wie seine Tochter Semra Özkan mitteilt, wurde der politische Gefangene in den vergangenen zwei Wochen zweimal ins Krankenhaus eingeliefert.„Dies sind die letzten Tage meines Vaters", erklärte Semra Özkan gegenüber der Zeitung Yeni Yaşam.
Özkan wurde aufgrund der Aussagen zweier Informanten zu lebenslanger Haft für die Ermordung des türkischen Generals Bahtiyar Aydın im Jahr 1993 und einen Brandanschlag im Bezirk Licê in Amed (tr. Diyarbakır) verurteilt. Später tauchten Beweise auf, die auf türkische Soldaten als Brandstifter und auf die türkische Antiterrororganisation JİTEM als Attentäter hindeuteten, aber Özkans Name wurde nie reingewaschen. Auch die Informanten widerriefen später ihre ursprüngliche Aussage.

Während seines 26-jährigen Aufenthalts im Gefängnis in Amed erlitt Özkan fünf Herzinfarkte, es wurde Bluthochdruck, Kropf, Osteoporose, Hör- und Sehverlust sowie Gedächtnisverlust diagnostiziert. Außerdem erkrankte er letztes Jahr an COVID-19. Özkans Sohn Ahmet Özkan, der im selben Gefängnis einsitzt, ist sein Hauptbetreuer.

Semra Özkan erklärte gegenüber Yeni Yaşam, ihrem Vater sei vor sieben Jahren vom Universitätsklinikum Diyarbakır bescheinigt worden, dass er seine gesundheitlichen Bedürfnisse hinter Gittern nicht erfüllen kann. Alle Bemühungen der Familie, eine Haftverschonung zu erwirken, blieben erfolglos. Das Istanbuler Institut für Rechtsmedizin hat bei ihm eine Behinderung von 87 Prozent festgestellt – aber gleichzeitig seine Haftfähigkeit bescheinigt. Laut seiner Tochter kann Özkan seine Besucher:innen nicht mehr erkennen oder mit ihnen kommunizieren. Trotz seines fortgeschrittenen Zustands ist er bei Krankenhausbesuchen mit Handschellen ans Bett gefesselt, sagte sie.

Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD nehmen die gesundheitlichen Probleme der Häftlinge, insbesondere der politischen Gefangenen, in den türkischen Gefängnissen zu. Im Jahr 2021 kamen mindestens 46 Häftlinge ums Leben. Im April 2022 befanden sich immer noch mindestens 1.517 Gefangene mit schweren gesundheitlichen Problemen hinter Gittern.

Warum wurde Özkan verurteilt?

Am 22. Oktober 1993 wurde in Licê, einem Landkreis der Provinz Amed, der Brigadegeneral Bahtiyar Aydın erschossen. Obwohl die PKK die Beteiligung an seiner Ermordung mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigte die Regierung die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein.

Einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın verübte das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê. Sechzehn Menschen fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Personen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten setzte das Militär in Brand, die Zahl der Vertriebenen ist noch immer unklar.

Später kam heraus, dass Aydın von seinen eigenen Leuten erschossen worden war. Mehmet Emin Özkan, der 1996 wegen einer Bagatelle festgenommen worden war, wurde im September desselben Jahres wegen Mordes an dem Brigadegeneral zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anklage gegen ihn beruhte im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen. Seit Januar 2015 läuft vor dem 7. Schwurgerichtshof Adana das Wiederaufnahmeverfahren gegen Mehmet Emin Özkan.