Öcalans Perspektiven für den PKK-Kongress

Eine deutschsprachige Übersetzung der Perspektiven Abdullah Öcalans für den 12. Kongress der PKK ist erschienen. In dem Grundlagentext entwirft der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung die Grundzüge einer neuen gesellschaftspolitischen Vision.

Deutschsprachige Übersetzung

Die Webseite „Vigil for Öcalan“ hat eine Übersetzung der Perspektiven Abdullah Öcalans für den 12. Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veröffentlicht. Darin skizziert der seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung 1999 in die Türkei auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung die Grundzüge einer neuen gesellschaftspolitischen Vision. Nachfolgend veröffentlichen wir die ins Deutsche übertragene Fassung:

Die Perspektive Abdullah Öcalans für den 12. PKK-Kongress¹

Einleitung

Unsere Sitzung gleicht einer Vorkonferenz.² Ich möchte unserer Arbeit folgenden Titel geben: „Das Ende einer Ära in der Existenz und Problematik der Kurden, am Beginn einer neuen Ära.“

Dies wird eine äußerst schwierige und historische Aufgabe sein. Auf dem Weg zur Umstrukturierung muss die Problematik in verschiedenen Themenbereichen behandelt werden. Jeder dieser Bereiche erfordert eine gründliche Analyse. Das wird Zeit brauchen. Wir sollten nichts überstürzen. Die „Einleitung” verdeutlicht jedoch bereits den Kern des Hauptteils. Sie reicht aus, um ein grundlegendes Verständnis der Hauptthemen zu vermitteln. Wir werden die Einleitung in diesem Format gestalten. Auf der Grundlage dieses Entwurfs können die Freunde dann die Phasen des Kongresses gestalten. Denn diese Arbeit kann insgesamt einen Monat in Anspruch nehmen. Das könnte den Prozess verzögern und zu Schwierigkeiten führen.

Ich möchte mit dem Thema Bewusstsein und Wahrnehmung der Kurden für ihre eigene Existenz beginnen. Es gab ja die weit bekannten Fragen: „Gibt es Kurden oder gibt es sie nicht? Wenn ja, wie sehr konnten sie existieren?“ Und noch wichtiger: „Inwieweit sind Existenz und Freiheit miteinander verflochten und inwieweit bedingen sie sich gegenseitig?“ Schauen wir uns dazu einmal die jüngere Vergangenheit an. Wie sind beispielsweise die letzten Worte der beiden symbolträchtigen Anführer der beiden letzten bedeutenden Aufstände des traditionellen Kurdentums, Şêx Seîd [dt. Scheich Said] und Seyit Rıza, kurz vor ihrer Hinrichtung zu interpretieren? Das kann ich etwas näher erläutern. Sie sind Ausdruck der Auslöschung des traditionellen Kurdentums. Das ist die Bedeutung ihrer Worte. Das traditionelle Kurdentum ist gleichbedeutend mit der traditionellen kurdischen Existenz. Die letzten beiden Anführer dieser kurdischen Existenz haben unter dem Galgen deren Ende verkündet und ein Vermächtnis hinterlassen. Was waren die Worte von Şêx Seîd? „Herr Staatsanwalt, Sie hatten es versprochen. Wir wollten gemeinsam ein Festmahl abhalten. Was ist daraus geworden?“ Dabei handelt es sich um eine religiöse Unaufmerksamkeit, denn er war ein strenggläubiger Scheich des Nakschibendi-Ordens.³ Tatsächlich ist das der Ausdruck einer tragischen Täuschung und zeigt, wie falsch die Ideologie war, der er sich verschrieben hatte. Das wird dadurch sehr deutlich.

Seyit Rıza sagte etwas Ähnliches, etwas noch Bedeutungsvolleres: „Ich konnte euch nicht besiegen, das soll mir eine Lehre sein. Aber ich bin auch nicht vor euch niedergekniet, das soll euch stets Leid bereiten.“ Diese Worte bringen den Moment der Täuschung zum Ausdruck. Zugleich forderte man ihn im letzten Moment zur Kapitulation auf: „Gib auf, dann bleibt dir die Hinrichtung erspart.“ „Nein, ich werde nicht aufgeben. Das soll euch stets Leid bereiten“, antwortete er. Er hinterlässt Dersim wirklich als eine Quelle des Leids. Das bringt er damit zum Ausdruck. Letztendlich sind sowohl die Nakschi-Tradition als auch die alevitische Tradition oder die sunnitisch-alevitische Tradition Erfindungen. Während sich die kapitalistische Moderne und der Nationalstaat ideologisch entwickelten, legten sie mit diesen beiden Konzepten den Grundstein für die Leugnung der Kurden. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine erfundene alevitische Identität geschaffen. Mit diesen beiden Täuschungen wurde die traditionelle Existenz der Kurden letztendlich ausgelöscht. Das ist der Kern, dessen Spuren noch immer sehr deutlich zu sehen sind. Das zeigt sich sowohl in Çewlig (tr. Bingöl) als auch in Dersim. Und diese Anführer brachten das tatsächlich zum Ausdruck. Es ist von großer Bedeutung, dass dies unter dem Galgen geschah. Sie bringen eine tote Realität zum Ausdruck, keine kranke oder verwundete, sondern eine tote.

Eine damit verbundene Übergangsphase wurde von Qazî Mihemed, Mistefa Barzanî, Ebdurehman Qasimlo und Celal Talabanî geprägt. Welche Realität spiegelt diese Zeit wider? Ja, sie drückt eine Realität aus. Wir bezeichnen sie als altbekannte, traditionelle Feudalherrschaft, als Übergangsphase, aus der halb bürgerliche, halb aristokratische Persönlichkeiten hervorgingen, deren Einfluss bis in unsere Zeit reicht. Mit Bourgeoisie meinen wir die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute andauert und die Durchsetzung des Kapitalismus und der Bourgeoisie im Islam beschreibt. Gab es eine solche Zeit? Ist das möglich? Aber ja, es gab sie. Es gibt einen solchen Kapitalismus, eine nationalistische Existenz und ein nationalistisches Grundbewusstsein. Das zeigen deren Vertreter. Qazî Mihemed verfügt bereits über eine staatliche Tradition. Barzanî hingegen versucht immer noch, einen Staat zu gründen. Auch Talabanî ist Teil davon. Es gibt noch keinen kurdischen Nationalstaat, der diese Zeit prägt. Und es ist auch nicht klar, ob das je passieren wird, trotz aller Bemühungen. Selbst wenn es einen gäbe, wäre äußerst umstritten, inwiefern es sich dabei wirklich um ein lokales Phänomen handelt. Vor allem wurde dieser letzte Versuch eines kurdischen Bundesstaates gezielt gegen uns entwickelt. Er basiert auf der unverzichtbaren Unterstützung durch die Republik Türkei und ist im Grunde eine Variante von ihr. Seit 1992 wird er als Mittel zur Zerschlagung der revolutionären Bewegung eingesetzt. Zuerst wurde das föderale Parlament geschaffen, dann die anderen Organe. Mit deren Hilfe verbreiten die Streitkräfte Erklärungen, in denen sie uns zur Kapitulation auffordern. Das ist eine sehr auffällige Tatsache. Dies ist eine Übergangsphase. Also kurdischer Nationalismus. Und kurdisches Kapital. Wir nennen das eine primitive Kompradorenbourgeoisie. Einige davon sind vielleicht etwas weiterentwickelt. Sie haben Zentren in Amed, Hewlêr, Silemanî oder sogar Mahabad. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei jedoch um äußerst vorübergehende, künstliche Elemente der Konterrevolution, um Instrumente, die als Mittel zur Liquidierung eingesetzt werden. Das gilt sowohl für ihren ideologischen Inhalt als auch für ihre praktische Umsetzung.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer Phase während dieser Zwischenzeit. Diese Phase reicht bis zu uns. Ich betrachte Sait Elçi, Sait Kırmızıtoprak, Silêman Maûnî und seine Brüder und sogar Sıraç Bilgin, in der Literatur Cegerxwîns und in der Musik Aram Tigrans als Vertreter oder Ausdruck dieser Phase. Wie sollen wir diese Personen einordnen? Wir bezeichnen sie als Patrioten [ku. welatparêz]. Einige von ihnen bezeichnen wir auch als Sozialisten. Sie sind allesamt modern, ehrlich und keine Kollaborateure. Sie sind nicht der Ausdruck des Willens der gegnerischen Kräfte, sie sind nicht deren Werkzeug oder Sprachrohr. Sie blieben sehr individuell und die meisten von ihnen wurden von den Kollaborateuren vernichtet. Sie hatten Schwierigkeiten, sich eine Bedeutung zu geben und zu überleben. Sie fielen Verschwörungen zum Opfer und starben vor allem im Exil. Sie waren eine Realität des Exils. Natürlich haben sie auch uns ein wenig beeinflusst. Das heißt, wie man es auch dreht und wendet: Sie sind unsere Vorläufer. Aus meiner Sicht erscheinen sie als eine proto-apoistische Realität. Ich möchte dieser Zwischenzeit eine solche Bedeutung geben.

Anschließend komme ich zu dem Teil unserer Einführung, der uns betrifft, und spreche über meine eigene Realität, die das Ende des 20. und das erste Viertel des 21. Jahrhunderts geprägt hat. Es gibt eine Apo -Realität, das ist klar. Das kann man weder leugnen noch dessen Bedeutung übertreiben. Doch wie ist diese Apo-Realität bzw. -Wahrheit zu interpretieren? Was bedeutet sie als Traum und was als Realität?

Die „Apo-Ära“ wurde hinsichtlich ihres Charakters kaum verstanden. Sie wird nicht verstanden. Ihr sprecht von der Realität der Führung [ku. Rastiya Rêbertî], aber was diese Realität ausmacht, ist euch nicht klar. Das Volk ist zersplittert und gelähmt. Es ist nicht fähig zu verstehen. Die Kader sind unvorbereitet. Die Verwirrung der Kurden seit fünfzig Jahren und ihr messianischer Glaube hängen mit dieser Realität zusammen. Die Entstehung der Führung innerhalb der PKK stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Kurden dar. Sie ist mindestens ebenso bedeutend wie das kurdische Erwachen und die Revolution der Wiedergeburt. Apo ist kein vom Himmel gefallener Messias, sondern ein Anführer, der sich durch harte Arbeit und soziale Verwirklichung selbst geschaffen hat. In der Geschichte der Kurden und Kurdistans steht er für den Aufbau einer sozialistischen Führung. Er steht für den Aufbau einer kollektiven Führung, nicht für den Aufbau eines Personenkults.

In der Entstehungsphase der Führung war das kurdische Volk zersplittert, die traditionellen Führer hatten versagt und kurdisches Denken war verdrängt worden. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Entwicklung in einem solchen Umfeld als Wunder angesehen wurde. Aber jetzt reicht es! Seit 50 Jahren warte ich darauf, richtig verstanden zu werden. Ich erkläre, erkläre wieder und erkläre dann noch einmal. Die Realität der Führung der PKK nicht zu verstehen, bedeutet, die PKK, den freien Kurden und Kurdistan nicht zu verstehen. Es bedeutet, an Rückständigkeit festzuhalten. Deshalb entwickelt ihr euch nicht weiter. Deshalb werdet ihr keine Führung. Seit 50 Jahren arbeite und kämpfe ich unermüdlich dafür, euch zu einem Teil der Führung zu machen.

Ohne die Realität der Führung richtig zu verstehen und sich ihr zu verschreiben, könnt ihr keine Führungsposition in der Gesellschaft übernehmen. Ihr könnt nicht einmal auf eigenen Beinen stehen. Ihr könnt euch nicht einmal selbst tragen. Ich besitze eine enorme Kraft der Worte und Taten. Ich biete sie euch an und versuche, sie euch aufzuzwingen, aber ihr nehmt sie nicht an. Ihr beharrt darauf, euch als unlösbares Problem darzustellen. Warum? Das ist natürlich wichtig, denn es geht um eine ernste Angelegenheit. Derzeit prägt die Apo-Realität sowohl als fortdauernder Zustand als auch als Moment die Geschichte und wird dies auch weiterhin tun. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem wir eine Lösung für die Ausweglosigkeit der PKK finden müssen, wir sind also bei der Frage der Auflösung angelangt. Das ist die Situation, in der ich mich derzeit pausenlos befinde. Ja, hier wiederholt sich ein Moment, es gibt keinen großen Schaffenswert, es muss ein Sprung nach vorne gemacht werden. Es muss eine Schwelle überschritten werden. Seltsamerweise ist es nicht unsere Seite, sondern ein Türke, Devlet Bahçeli, der mir gegenüber stets unerbittlich war und jederzeit alles für meine Hinrichtung getan hat. Als parteipolitischer Vertreter der türkischen Stimmung dieser Zeit, ja sogar als wichtigste Stimme und Hand des Proto-Parteistaats, hat er diese neue Ära eingeläutet. Bahçeli, der uns als unerbittlicher Kriegsführer gegenübersteht, hat dies der DEM-Delegation persönlich mitgeteilt. „Ich hatte mein ganzes Leben diesem Ziel gewidmet, aber jetzt möchte ich eine neue Ära einläuten.“ Meiner Meinung nach ist dies ein klarer Aufruf zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft. Dieser Aufruf zum Frieden ist konsequent und beinhaltet eine demokratische Lösung. Die aktuellen Entwicklungen deuten dies auch ein wenig an. Die einzige Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, lautet: „Nur diejenigen, die gegeneinander kämpfen, können auch miteinander Frieden schließen.“ Das heißt, nicht die zweiten oder dritten Kräfte, nicht die Zwischenkräfte oder Verbündeten, sondern diejenigen, die die Verantwortung für den Krieg tragen, können auch die Verantwortung für den Frieden übernehmen. Denn Frieden ist ein ebenso ernstes Ereignis wie Krieg. Die Verantwortung für ein solch ernstes Ereignis können nur diejenigen übernehmen, die dafür in erster Linie verantwortlich sind. Daher ist es ein realistischer Ansatz, denn dieser Krieg wird vom Staat geführt. Ich halte es für notwendig, dies in Form eines Friedensversuchs in einen Neuanfang zu überführen. Dies wurde in den letzten sechs Monaten zum Ausdruck gebracht. Wir haben sofort und zu Recht darauf reagiert, da wir der Überzeugung sind, dass diese ausgestreckte Hand nicht ignoriert werden darf und dass man sich dieser Stimme nicht verschließen darf. Als Hauptverantwortlicher und treibende Kraft dieses Kampfes haben wir unverzüglich reagiert. Dies wurde auch der Öffentlichkeit mitgeteilt. Unsere Position lautet wie folgt: Nur diejenigen, die miteinander Krieg führen, können auch Frieden schaffen. Alle anderen Akteure verfügen nicht über die Kraft dazu. Sie spielen lediglich eine untergeordnete oder unterstützende Rolle. Die Hauptinitiative liegt bei denjenigen, die diese Angelegenheit maßgeblich gestalten. Dieser Weg wurde eingeschlagen und ich halte das für einen vernünftigen Ansatz. Auf dessen Grundlage haben wir den Anfang noch etwas weiter ausgebaut und bereiten nun unter staatlicher Aufsicht mit diesem Treffen das Programm vor. Welche Art von demokratischer Gesellschaft? Daran arbeiten wir intensiv. Wir wollen diese Schwelle überwinden. Was bedeutet das? Den Übergang von Krieg und separatistischen Konflikten zu Frieden und demokratischer Integration, insbesondere mit der Republik Türkei. Mit anderen Staaten wie dem Irak, dem Iran und Syrien werden ähnliche Prozesse in Gang gebracht werden. Dass die Türkei dabei die Initiative ergreift, ist meiner Meinung nach sowohl eine Frage der Vernunft als auch Ausdruck der realen Verhältnisse. So muss es sein, und so ist es. Daher ist der jetzt unternommene Schritt sehr ernst zu nehmen. Auch wenn er mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist, scheint er doch der richtige zu sein. Ob diese Hürde genommen werden kann, hängt ganz von den kreativen Bemühungen ab. Auf dieser Grundlage werde ich versuchen, die neue Ära in sieben Hauptthemen zu gliedern. Warum habe ich diese sieben Hauptthemen ausgewählt und wie bin ich zu dieser Auswahl gekommen? Darüber diskutieren wir gemeinsam.

1 – Natur und Bedeutung

Ich möchte mit etwas beginnen, das vielleicht nicht jedem sofort in den Sinn kommt: Natur und Bedeutung oder die Dialektik der Natur. Was soll damit zum Ausdruck gebracht werden? Ich werde versuchen, dies näher zu erläutern. Der Begriff „Bedeutung” verweist auf Beziehung und Teilen. Sie ist charakteristischerweise ein gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher Begriff. Bedeutung ist in erster Linie der Sinn von etwas. Von einer Bedeutung, die unabhängig von der Existenz ist, kann man nicht sprechen. Wie entsteht also Bedeutung? Der Mensch entwickelt seine Fähigkeit zur Bedeutungsgebung, indem er der Natur zuhört. Die erste Lernform ist daher die mimetische. Der Mensch transformiert die Natur, indem er ihr zuhört.

Im Laufe der Gesellschaftsgeschichte hat die Methode, durch das Lauschen auf die Natur zu lernen, zunehmend an Bedeutung verloren. Denn mit der Entwicklung der symbolischen Sprache und des analytischen Denkens hat der Mensch die Natur mit seinen eigenen Begriffen definiert. Dies hat zu einer Entfremdung des Menschen von der Natur geführt, die in der Phase der kapitalistischen Moderne ihren Höhepunkt erreichte. Die vorherrschende Denkweise einer Epoche wird deren Wahrheit. Das heißt, wenn es eine vorherrschende Denkweise gibt, wird sie als die Wahrheit dieser Epoche akzeptiert. Es gibt eine Realität, einen Ausdruck dafür und dieser drückt einen Gedanken oder eine Fantasie aus. Die Epoche, in der das mythische Denken vorherrschte, bezeichnen wir beispielsweise als mythische Epoche. Dies ist folglich eine Ära, die gänzlich durch Imaginationen zum Ausdruck gebracht wird. Es ist die längste Epoche, die die Menschheit erlebt hat. Millionen von Jahren lang haben wir eine mythische Epoche durchlebt. Sie ist sogar stark mimetisch geprägt und eng verbunden mit den nachahmenden Instinkten der Tiere. Diese Millionen von Jahre bezeichnen wir als mimetische Epoche. Auf die mimetische Epoche folgte die mythische Denkweise. Sie entspricht weitgehend der Wahrheit der neolithischen, der höheren neolithischen bzw. der mesolithischen Epoche. Das gesellschaftliche Pendant dazu ist die Clan- und Stammesgesellschaft. Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren ist Ausdruck einer neuen Kultur und Lebensform. Das mythische Denken geht über mimetische, also tierische Intuitionen, hinaus. Es drückt sich vollständig in Fantasien aus.

Der Mensch entwickelt symbolisches Denken. Es findet eine Abgrenzung vom tierischen Denken statt, denn symbolisches Denken ist eine ausschließlich menschliche Denkweise. Der Mensch grenzt sich durch symbolisches Denken vom Tier ab. Im mimetischen Denken gibt es hingegen keinen Symbolismus, sondern Nachahmung. Ob Nachahmung eine Denkweise ist, ist umstritten. Tiere mögen zwar ein Bewusstsein haben, aber es handelt sich dabei nicht um Denkvermögen. Das Denken in der mythischen Epoche ist symbolisch. Die Gedankenwelt dieser Zeit besteht aus Märchen. Darüber hinaus gibt es das, was wir als monotheistische Religion oder eine ähnliche religiöse Denkweise bezeichnen. Bis heute kann man mehr oder weniger von einer Phase des religiösen Denkens und der religiösen Bedeutungsgebung sprechen. Beide haben ihren Ursprung im heutigen Obermesopotamien, das als Wiege der Menschheit bezeichnet wird. Die Täler des Tigris und Euphrat sind die Wiege sowohl der mythischen als auch der religiösen Denkmuster.

Mythen sind die für die Sozialisierung erforderlichen Bedeutungsmuster. Als Vorstellungen, die die materiellen und spirituellen Bedürfnisse des sozialen Lebens erfüllen, spielen sie eine gesellschaftsbildende Rolle. In dieser Hinsicht ist die geistige Kraft der Klan-Sozialisierung schöpferisch. Vor etwa 15.000 Jahren endete ein großer ökologischer Kreislauf. Damit begann eine neue Klimaperiode. Dies ermöglichte die Jungsteinzeit und eine neue Epoche begann. Der Mensch erfand hier zunächst die Sprache und akzeptierte das symbolische Denken. Er machte einen Sprung in Richtung Zivilisation und Staat.

Bringt das Denken dieser Zeit die Natur zum Ausdruck und verleiht ihr damit einen Sinn? Dem scheint tatsächlich so zu sein. Betrachten wir beispielsweise den Islam: Hier gibt es einen Gottesbegriff, mit dem alles verbunden ist. Gott wird als das Wesen definiert, das das Universum durchdringt, jeden Augenblick alles bestimmt und alles erschafft. Sogar seine Undefinierbarkeit wird zum Ausdruck gebracht. Er stellt einen Glauben dar und wird als etwas Unbeschreibbares dargestellt. Das ist es, was der Islam bedeutet. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine sehr markante Phase in der Geschichte der Menschheit. Das ist auch der Grund dafür, dass der Islam so einflussreich ist. Der Islam ist eine Denkweise, die zwischen Philosophie und mythologischem Denken angesiedelt ist. Das islamische Denken ist weder reine Philosophie noch reine Mythologie. Es lehnt beide vehement ab, wie bei al-Ghazālī deutlich wird. Wenn wir von einer Schule sprechen wollen – und al-Ghazālī ist die vorherrschende Schule –, dann verschließt sie einerseits die Türen zur Philosophie, die in Europa zum Siegeszug der Wissenschaft führte. Andererseits entwickelt sie die Kalām, die jedoch nicht mit Philosophie gleichzusetzen ist. Al-Ghazālī beendet auch das mythologische Zeitalter. So entsteht ein völlig neues islamisches Zeitalter. Das ist sehr beeindruckend. Es prägte das Zeitalter. Es verdrängte das Christentum, die Thora sowie die indisch-chinesischen Religionen und schuf sich selbst einen Raum. Warum? Weil es eine wichtige Etappe darstellt. Die Zeit zwischen Philosophie und Mythologie ist unverzichtbar – sie braucht einen Propheten. Mohammed verkörpert das. Es heißt, Allah habe 99 Namen. Diese 99 Namen sind alles, was als das „Andere” verstanden wird. Im Grunde ist dies eine Philosophie des Universums. Es war eine Vorstufe dazu. Die 99 Namen sind eine Philosophie. Ein Programm. Er ist der philosophische Vorläufer der Moderne und der Wissenschaftsphilosophie. Deshalb ist er so einflussreich. Gemessen am Christentum. Er enthält jedoch auch einen inneren Widerspruch, denn er hat den Übergang zur modernen Philosophie versperrt. Der berühmte Konflikt zwischen Ibn Ruschd und al-Ghazālī ist bekannt. Während der Westen al-Ghazālī ablehnt, stützt sich das westliche Denken auf Ibn Ruschd und entwickelt es weiter. So vollzieht der Westen die uns bekannte philosophische und wissenschaftliche Revolution, während der Islam dafür völlig verschlossen bleibt. So beginnt die Überlegenheit des Westens, sein Aufstieg. Der Islam drückt in seinem mythischen Denken und sogar in der Religion des Alten Testaments (die wir als Judentum bezeichnen) mehr Wahrheit aus, aber weil er so starr ist, erzeugen sowohl die neuen Entwicklungen im Christentum als auch die strenge Glaubenshaltung in der Mythologie einen doppelten Druck. Seine Geschlossenheit macht den Islam zu einer äußerst konservativen Kraft. Das 15. und 16. Jahrhundert sind eine Zeit, in der der Konservatismus seinen Höhepunkt erreicht. Das 9. und 10. Jahrhundert sind hingegen eine Renaissanceperiode im Islam, die die ganze Welt beeinflusst. Aber das 15. und 16. Jahrhundert sind eine Zeit des enormen Konservatismus. Damit endet praktisch der Islam. Konkret drückt sich dies bei den Safawiden, in Indien unter Babur und bei den Osmanen mit ihrem Zentrum in Istanbul in einer großen Konservativität aus. Diese Konservativität endet bereits ein Jahrhundert später, im 17. und 18. Jahrhundert. Meiner Meinung nach fand der Islam im 18. Jahrhundert sein Ende. Er besaß keine Lebenskraft mehr und wurde fortan ausgenutzt. Die Engländer nutzten den Islam aus und erlangten so die uns bekannte Weltherrschaft – von einer kleinen Insel aus. Das hängt mit dem Konservatismus im Islam zusammen. Warum weise ich darauf hin? Ich habe auch das Christentum ein wenig mit einbezogen. Denn mit dem Christentum begann die Vorherrschaft des Westens. Eine Reformation, wie sie im Christentum stattfand, gab es im Islam nicht.

Die Schia versuchte es, schaffte es aber nicht. Im Westen kam es zum Übergang von der Reformation zur Aufklärung. Auch die Renaissance steht damit in Zusammenhang. Reformation, Renaissance und Aufklärung ermöglichten die geistige Überlegenheit des Westens und machten ihn erfolgreich. Die Französische Revolution, die industrielle Revolution in England und die politische Revolution in Frankreich – allesamt Entwicklungen des 18. Jahrhunderts – erreichten in der uns bekannten globalen Ära des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Im 20. Jahrhundert setzte sich dieser Höhepunkt fort und nun treten wir in eine völlig neue Phase ein. Warum erwähne ich das? Wenn wir die Vergangenheit nicht richtig interpretieren und den Traditionen keine angemessene Bedeutung beimessen, können wir unsere Gegenwart nicht verstehen. Wenn wir unsere Gegenwart nicht verstehen, können wir auch die Zukunft nicht verstehen. Auch wenn der Islam und der Kemalismus für die Durchsetzung des positivistischen Denkens stehen, versucht derzeit das konservative Denken, den Islam in eine hegemoniale Position zu bringen. Während der Positivismus im Westen überwunden wurde, entwickelte er sich in der Türkei zu einer starken konservativen Bewegung.

Der Islam spielt keine Rolle mehr. Gegenüber dem fünf Millionen Einwohner zählenden Israel findet der 300 Millionen Einwohner zählende arabische Islam nicht einmal Luft zum Atmen. Dafür ist natürlich der Islam verantwortlich. Wenn wir trotz alledem immer noch Islamismus propagieren, dann stimmt hier etwas nicht. Ich weise auf all dies hin, um das richtig einzuordnen. Es stellt sich also die Frage, ob das Christentum oder der Islam vorherrschend ist. Zu 99 Prozent sind die Christen vorherrschend. Das muss man richtig zum Ausdruck bringen, alles andere ist nur Bettelei. Sie verteidigen den Islam mit westlichen Begriffen gegen den Westen. So kann man den Islam nicht verteidigen. Der Westen ist im Bereich der Philosophie, Wissenschaft und Technik weit überlegen. Du möchtest von seinen Abfällen, von seinen Randbereichen profitieren. Das tust du sogar in Form von Bettelei. Dass dies kaum Aussicht auf Erfolg hat, haben die jüngsten Ereignisse in Gaza gezeigt. Sie greifen Israel an. Das Israel, das du angreifst, ist eine Weltmacht. Anschließend bittest du die UNO, die EU, die Menschenrechtskommission und wen weiß ich noch um Hilfe. Dabei sind das Institutionen, die von Israel geprägt sind. Wenn du Israel zum wahren Feind erklärt hast, solltest du nicht bei diesen Institutionen betteln. Wenn du konsequent bist und das Volk nicht täuschen willst, dann tu das nicht. Es handelt sich um eine Hegemonialmacht. Entweder man beugt sich der Hegemonialmacht oder man führt einen echten Krieg. Da dies in der Türkei nicht geschieht, sind die Gemüter verwirrt und die Kapitalisten nutzen die Situation aus, um sich zu bereichern und ihre Herrschaft in diesem Konflikt zu festigen. Um darauf aufmerksam zu machen, habe ich diesen Abschnitt eingefügt. Ob man das versteht, hängt natürlich davon ab, ob man die heutigen Verhältnisse richtig einschätzt. Ich denke, das wurde ausreichend erklärt und bedarf keiner weiteren Ausführungen.

2 – Die gesellschaftliche Natur und Problematik

Natur und Bedeutung – manche Menschen interessieren sich für diese Themen, um ihr philosophisches Denken zu stärken. Diese Neugier ist berechtigt, denn Wissenschaft beginnt mit Neugier. Um diese Neugier zu stillen und ihr einen Weg zu ebnen, bedarf es einer philosophischen Denkweise, die sich mit dem Anderen oder der Dialektik der Natur befasst. Ich empfand es als notwendig, alle Erkenntnisse der Physik, Chemie und Biologie sowie alle Gedanken, die im Namen der Philosophie oder sogar der Mythologie vorgebracht wurden, zu filtern und daraus gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei handelt es sich um spekulative Überlegungen, die ich nicht als absolut richtig bezeichnen würde. Die Natur oder das Andere ist es wert, verstanden zu werden. Wir können dies auch als Universum bezeichnen. Es gibt noch immer einige Dinge, die wir nicht verstehen. Man spricht vom Urknall. Doch was ist dieser Urknall, und was gab es vor ihm? Es heißt, dass sich das Universum seit dem Urknall über 13 Milliarden Jahre entwickelt hat. Das erscheint mir nicht sehr plausibel. Auf der Grundlage der Physik gewinnt die Idee der Hintergrundstrahlung zunehmend an Bedeutung. Der Zeitpunkt der Explosion oder die Zeit davor ... Da stellt sich natürlich die Frage, ob es vor dieser Explosion ein Universum gab. Die Explosion begann mit einem Gebilde, das um ein Vielfaches kleiner war als eine Nadelspitze, und daraus entstand das heutige Universum.

Betrachten wir unsere Galaxie, die Milchstraße, so stellen wir fest, dass sie 200 bis 300 Milliarden Sterne umfasst. Um jeden Stern kreisen Dutzende Planeten. Und dann gibt es noch Milliarden von Galaxien. Wie all das aus einer Nadelspitze entstanden sein soll, muss erklärt werden. Die Wissenschaft versucht, mithilfe der Quantenphysik eine Antwort darauf zu finden. Dies ist das Prinzip der Kontinuität, die Logik des „sowohl als auch“. Dies führt zu dem Ergebnis, dass es eine Zeit des groben Materialismus gab. Glücklicherweise wurde dieser Materialismus überwunden. Das Universum ist ganz und gar nicht so, wie es uns beschrieben wurde. Zunächst gab es die heliozentrische Weltanschauung, dann die Milchstraße, jetzt gibt es schwarze Löcher und dunkle Materie und dunkle Energie um sie herum. Und diese Begriffe werden sich noch weiter vermehren. Das Atom wurde als das kleinste Teilchen bezeichnet. Doch dann stellte man fest, dass das Atom aus vielen Teilchen besteht, die als Elektronen, Protonen und Neutronen bezeichnet werden. Diese wiederum bestehen aus noch kleineren Teilchen. So kam es zum „Teilchen Gottes”. Und so geht es immer weiter.

Warum sage ich das? Das bedeutet, dass es aus materialistischer wie aus idealistischer Sicht noch immer keine absolute Wahrheiten gibt. Nichts ist zu hundert Prozent richtig. Offensichtlich gibt es eine Entwicklung, eine Explosion im menschlichen Geist. Die Suche nach der Wahrheit wird weitergehen. Das ist gut so, denn die Offenheit des menschlichen Geistes für die Suche nach der Wahrheit gibt Hoffnung. Sie gibt Hoffnung auf Freiheit und auf Leben. Ein freies Leben ... Es zu entwickeln, ist meiner Meinung nach richtig. Eine solche Denkweise führt uns sogar zur Erklärung der gesellschaftlichen Natur. Dies möchte ich im zweiten Abschnitt näher ausführen.

Meine allgemeine Analyse von Natur und Bedeutung lautet wie folgt: Auch Hegel hat sich damit intensiv beschäftigt. Er findet die Bedeutung in der Natur selbst. Der von ihm so bezeichnete „Geist“, die universelle Seele, ist seiner Meinung nach eine Realität außerhalb des Gehirns. Auch die Existenz ist eine Realität. Die Bedeutung liegt in der Existenz selbst. Sie wird nicht vom menschlichen Gehirn erzeugt. Dies könnte man auch als eine Art Idealismus bezeichnen. Das wird als Hegelscher Idealismus bezeichnet. Ein gewisser Realitätsanteil ist darin durchaus enthalten. Marx vertritt die gegenteilige Auffassung. Er versteht das Denken als Reflexion. Die Zeit ist demnach etwas, das im menschlichen Gehirn abläuft. Sie wird nach außen reflektiert und wird so zum Denken. Das ist ein wenig gegensätzlich. Der Sinn selbst liegt in der Natur. Diesbezüglich gibt es eine philosophische Debatte, die noch immer andauert. Es ist gut, dass diese Debatte weitergeführt wird. Es ist nicht richtig, diese Debatte auf Materialismus oder Idealismus zu reduzieren und zu beenden. Diese Dichotomie ist irreführend. Dialektisches Denken verhindert, dass sich daraus ein starres Dogma entwickelt.

Der Nutzen des dialektischen Denkens liegt in seinem Namen: „Dialektik” bedeutet „Widerspruch”. Der Begriff stammt aus der arischen Sprache. In der Dialektik ergibt sich die Bedeutung des Einen aus der Beziehung zu einem Zweiten. Zwei bringt eins hervor. Wenden wir dies auf das Denken an, so macht das Denken die Materie notwendig. Dieser Prozess setzt sich fort. Das ist nützlich bzw. lässt eine Tür offen. Das Gegenteil von dialektischem Denken ist die Metaphysik. Metaphysik ist ebenfalls eine Denkform, jedoch nicht so erfolgreich wie die Dialektik. Die Dialektik ist erfolgreicher. Sie muss jedoch weiterentwickelt werden, was auch geschieht. Die Erklärung der Natur, von der wir gerade gesprochen haben, ist in dieser Form nur dank des dialektischen Denkens möglich geworden.

Nun komme ich gleich zu dem Thema „gesellschaftliche Natur und Problematik”. Ja, auch die Gesellschaft ist eine Natur. Aber man nennt sie die „zweite Natur”. Das ist richtig. Meiner Meinung nach findet mit der gesellschaftlichen Natur ein Prozess der großen Diversifizierung statt. Ihr grundlegendstes Merkmal ist die Flexibilität des Denkens. Ich diskutiere hier nicht die Denkfähigkeit der Natur. Die soziale Natur ist eine vom Menschen geschaffene Natur, auf der er zunächst symbolische, dann wissenschaftliche, philosophische und religiöse Gedanken aufbaut. Die soziale Natur ist weder Stein noch Pflanze noch Tier. Sie basiert auf dem Denken. Das ist der Unterschied der gesellschaftlichen Natur. Wenn man von Gesellschaft spricht, denkt man sofort an das Denken.

Die Philosophie Athens entwickelte sich zusammen mit der Gesellschaft. Der Westen wiederum entwickelte sich durch wissenschaftliches Denken. Betrachten wir den Widerspruch zwischen London und Amsterdam oder Athen und Sparta: Auch hier wurde durch die Philosophie eine Entwicklung erzielt. Das islamische Denken war die fruchtbarste religiöse Denkweise, die Fortschritte erzielte. All dies sind verschiedene Entwicklungsstadien der Gesellschaft. Die sumerische Gesellschaft ist der Höhepunkt der Mythologie und die Wiege der Staatsgesellschaft, was sie so einzigartig macht. In Obermesopotamien, wo der Tigris und Euphrat fließen, entwickelte sich aus dem fruchtbaren Boden ein mythisches Denken. Dort fand es seinen Höhepunkt. Die Welt der Götter und Göttinnen ist äußerst beeindruckend. Die daraus abgeleiteten Konzepte wurden später weiterentwickelt. Aus diesen Konzepten entstand der Koran. Ein großer Teil der Gedanken im Koran stammt von hier. Auch ein großer Teil der philosophischen Ideen Athens stammt von hier. Im Norden befand sich Europa damals in einer Zeit der Barbarei. Athen übernahm sowohl die zoroastrische Philosophie aus Medien als auch religiöse Ideen aus Ägypten. Es gab keinen Gelehrten, der nicht nach Babylon kam. Sie alle hatten Ägypten, Babylon, Medien und sogar Persepolis gesehen. Sie entwickelten das, was sie mitgenommen hatten, zu einer Synthese weiter. Auch die Idee der Demokratie stammt ursprünglich von hier. So wurde der Schritt zur Zivilisation gemacht, die wir als griechisch und hellenistisch bezeichnen. Hinzu kam die Gesellschaftlichkeit der ersten Epoche, die im Marxismus als „Stadium der Barbarei“ oder „Urgesellschaft” bezeichnet wird und in deren Folge sich die Sklaverei entwickelte.

Bevor wir darauf eingehen, haben wir zunächst eine allgemeine Definition von Gesellschaftlichkeit formuliert. Doch wie hat sich diese entwickelt? Wisst ihr, wie die Entwicklung der Gesellschaft in der sumerischen Mythologie erklärt wird? In den drei monotheistischen Religionen steht klar geschrieben, wie Adam von seinem Vater und Eva von ihrer Mutter erschaffen wurden. Es heißt sogar, dass dies vor fünftausend Jahren geschah. Sie geben sogar ein genaues Datum an. Das hängt ganz mit religiösem Glauben zusammen. Die Wissenschaft und sogar das Denken der Athener distanzierten sich davon. So wurde eine neue Gesellschaft geschaffen, die ihren Höhepunkt erreichte. Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Das westliche Denken ist hegemonial und materialistisch. Es ist zu einer materiellen Macht geworden. Doch ein Punkt bleibt im Dunkeln. Und zwar: Wie ist diese gesellschaftliche Natur entstanden? Und wer hat sie geschaffen? Die Gesellschaft ist mehr als eine Ansammlung von Menschen. Sie ist ein Wertesystem, das von den Menschen geschaffen wurde, die sich zusammenschließen, und in dem sie sich durch Kollektivität verwirklichen. Der begründende, tragende und entwickelnde Faktor aller sozialen Formen und Strukturen ist die Bedeutung. Die Gesellschaft hat kein anderes Subjekt als sich selbst. Subjekt und Objekt der Gesellschaft ist die Gesellschaft selbst. Diese Form hat einen offenen Charakter. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft ist ein aktiver Prozess, der sich ständig bildet, zerfällt und sich neu formiert.

Letztendlich ist es der Mensch, der diese gesellschaftliche Natur erschafft. Die gesellschaftliche Natur ist eine Realität, die sich um die menschliche Spezies herum entwickelt. Tiere leben in Gemeinschaften. Das ist etwas anderes. Wir haben bereits erwähnt, dass es sich dabei um eine mimetische Denkweise handelt. Eine Denkweise, die durch Instinkte und Nachahmung entsteht. Ja, auch Menschen haben Instinkte. Die Neigung zum Nachahmen stammt vom Tier ab. Die unterste Ebene des Gehirns ist tierischen Ursprungs.

Was wir als Kleinhirn bezeichnen, ist für die Instinkte verantwortlich. Das mythische Denken geht jedoch über das mimetische Denken hinaus. Letzteres ist im sogenannten Mittelhirn, dem mittleren Teil des Gehirns, angesiedelt. Es ist dafür verantwortlich, dass der Mensch zum Menschen wird. Der Mensch, in dem sich das mythische Denken entwickelt hat, ist gewissermaßen ein durch das Mittelhirn geschaffenes Wesen. Natürlich sind all diese Bereiche miteinander verflochten. Es handelt sich nicht um etwas, das sich trennscharf und Schritt für Schritt entwickelt. Alles ist eng miteinander verbunden. Das Universum ist unglaublich. Doch wer ist in der menschlichen Spezies für all das verantwortlich?

An dieser Stelle kommt die Frau ins Spiel. Noch interessanter ist die Frage, wie Männlichkeit und Weiblichkeit entstanden sind. Das ist natürlich etwas verwirrend. Ich habe das nicht näher untersucht. Soweit ich weiß, gab es früher jedoch nur einzellige Lebewesen, die sich durch Mitose teilten, wobei sich jede Zelle einfach teilte. Aus einer werden zwei. Diese Form der Vermehrung ist uns bekannt. Eine Unterscheidung zwischen männlich und weiblich gab es also noch nicht. Und das ging so weiter – Millionen von Jahre lang.

Nach neuesten Erkenntnissen reicht die Zweiteilung des Lebens in weiblich und männlich 300 Millionen Jahre zurück. Dies diskutieren wir hier aus philosophischer Sicht. Was hat zu dieser Zweiteilung geführt? Wir haben von der Dialektik der Natur gesprochen und diese ist dafür verantwortlich. Alles ist gegensätzlich. Wie ist aus Energie Materie entstanden? Wie haben sich Teilchen differenziert? Auch im Atom gibt es Teilchen. Ohne Teilchen gäbe es kein Atom. Wie wird Materie zu Energie? Materie, also die sichtbaren Dinge wie Sterne, ist materialisierte Energie. Einsteins Formel E = mc² beschreibt die Umwandlung von Energie in Materie. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie das Verständnis dieses Themas ermöglicht. Das Phänomen von weiblich und männlich stellt eine Erweiterung davon dar. Dies steht nicht im Widerspruch zur Entwicklung des Universums. Als Erweiterung dieses Prinzips gibt es nun allmählich anstelle eines Gegensatzes in einem einzigen Wesen eine Vereinigung in Form getrennter Wesen. So entwickeln sich ein männliches und ein weibliches Wesen, eines teilt sich in zwei, und aus zwei entsteht wieder eine Einheit. So entwickeln sich immer ausgeprägtere männliche und weibliche Wesen.

Das geschah vor etwa dreihundert Millionen Jahren. Solche Entwicklungen finden sowohl bei Pflanzen als auch im Tierreich statt. Einige Tiere können je nach Temperatur sowohl weiblich als auch männlich werden. Es handelt sich also nicht um etwas Feststehendes, sondern um eine dialektische Realität, die sich wandeln kann. Wie ihr wisst, ist LGBT ein großes Diskussionsthema. Es gibt Menschen, die sowohl männliche als auch weibliche Eigenschaften haben (Hermaphroditen). Manche lassen sich sogar operativ zum Mann oder zur Frau umoperieren. Solche Operationen sind weit verbreitet. Bemerkenswert dabei ist, dass es keine unüberwindbare Kluft zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen gibt. Dies hat natürlich aus philosophischer und soziologischer Sicht eine ganz andere Bedeutung. Es gibt eine moralische Dimension, die sich in der Gesellschaft widerspiegelt. All dies lässt sich mit dialektischem Denken überwinden.

Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf die Rolle der Frau eingehen. Die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich ist keine übernatürliche Angelegenheit, sondern eine Notwendigkeit der Dialektik der Natur. Sie ist kein Ausdruck von Überlegenheit. Weiblichkeit bedeutet nicht Überlegenheit und Männlichkeit nicht Heiligkeit. Aus ihnen lassen sich keine besonderen Schlussfolgerungen ziehen. Das ist eine Notwendigkeit der Dialektik der Natur, deshalb ist es so, und es wird auch weiterhin so sein. Wir haben dies als Diversifizierung bezeichnet. Ohne Diversifizierung gibt es kein Leben. Der Sinn des Lebens ergibt sich aus der Diversifizierung. Wie kann ein einzelner Mensch sowohl weiblich als auch männlich sein? Dass ein Leben für sie unmöglich ist, ist in unserer Zeit offensichtlich. Wie kann ein Hermaphrodit sowohl männlich als auch weiblich sein? Die traditionelle Moral verurteilt solche Menschen. Meiner Meinung nach ist das jedoch ein Problem. Durch Operationen kann die männliche oder die weibliche Seite hervorgehoben werden. Beide sind wertvoll. Wenn die Natur einen Menschen in zwei Teile teilt, sollte man diese Zweiteilung als eine Möglichkeit der Freiheit, als eine Verschiedenheit sehen. Diese Verschiedenheit hat einen Sinn. Sowohl das Weibliche als auch das Männliche haben einen Sinn. In der Gesellschaft hat das auch Gestalt angenommen. Wichtig ist, dass man sie nicht gegeneinander ausspielt. Die Positionierung als Gegenpole ist der Anfang des Problems.

Auf diese Weise beginnt die gesellschaftliche Problematik. Der eine sagt, das Männliche sei überlegen, der andere, das Weibliche. Solche Dinge stellen in der gesellschaftlichen Natur Problematiken dar. Die Überlegenheit des Weiblichen kann sich tatsächlich zwischenzeitlich entwickeln. Lasst uns das etwas näher erläutern. Als Gegenargument wurde die These aufgestellt, dass das Männliche überlegen sei. Schließlich entwickelten sich daraus schreckliche Philosophien und es entstand ein großes Problem. Wie ich bereits zuvor sagte, begann die gesellschaftliche Problematik mit der Entstehung der Zivilisation und des Staates. Doch jetzt scheint es, als sei sie nicht erst mit dem Staat entstanden, sondern bereits viel früher, vor 30.000 Jahren. Letztendlich entwickelte sich eine außergewöhnliche Struktur, aufgrund derer Frauen nicht mehr mit Männern vergleichbar waren, und eine Persönlichkeit, die von der männlichen so unterschiedlich schien wie Tag und Nacht. Betrachtet man die Sache genauer, so stellt man fest, dass es einen winzigen Unterschied zwischen den männlichen und den weiblichen Chromosomen gibt. Es handelt sich um einen sehr kleinen Unterschied. Letztendlich ist das, was wir Denken nennen, dem Menschen eigen, und es gibt kein Denken des Mannes oder der Frau. Das Denken ist eine Eigenschaft, die diese Gegensätze völlig überwindet. Ja, selbst die Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Bereich der Politik ist unsinnig. Der politische Bereich ist dem Menschen ganz und gar eigen. Wir können das noch weiter generalisieren. In der Wirtschaft, in der Kunst und sogar in der Religion wurden Unterscheidungen wie „Religion der Frau” und „Religion des Mannes” vorgenommen. Aber wir können das nicht als grundlegende Realität bezeichnen. Männerspezifisches Denken, frauenspezifisches Denken – das ist definitiv problematisch. Es ist nicht einmal ein Problem, sondern bedeutet, in der Problematik zu erstarren. Das bedeutet sogar die Verleugnung des dialektischen Denkens. „Feminismus ist eine frauenspezifische Denkweise, das Gegenteil davon ist Männlichkeit, und auch in der Männlichkeit existieren nur Gedanken über Männlichkeit“ – zwei konservative Bereiche, die sich letztendlich gegenseitig verfestigen. Eine solche Starrheit gibt es in der Natur nicht. Die Dialektik der Natur spiegelt sich in der Gesellschaft wider und ermöglicht das Leben in all seinen Facetten, denn Leben ist unterschiedlich. Unterschiede sind Ausdruck des Lebens. Das Leben wird durch Unterschiede bereichert. Ein erstarrtes Gegensatzpaar gleicht einem Abgrund. In diesem Abgrund gibt es Konflikte, und diese Realität liegt auch Familienmorden zugrunde. Bei diesem Mord ist die Perspektive des Täters erstarrt: Die Frau ist die absolute Frau, der Mann der absolute Mann. Doch wenn es zu einem dialektischen Gedankenfluss kommt, verrät einer den anderen zwangsläufig. Er greift sie an, sie greift ihn an. Hier liegt die Wurzel des Problems. Wie ich bereits sagte, bedeutet das eine enorme Problematik. Das muss überwunden werden.

Ich glaube, dass ich diese Problematik unter dieser Überschrift richtig beschrieben habe. Wir haben im Zusammenhang mit dem Staat von einer Unterscheidung zwischen Stadt und Dorf gesprochen und wollten diese auf Klassenunterschiede stützen. Das reicht jedoch nicht aus. Zwar gibt es Problematiken, die aus Klassenunterschieden resultieren. Auch die Problematik zwischen Staat und Kommune ist ernst zu nehmen, darauf werde ich noch eingehen. Die eigentliche Problematik in der Gesellschaft beginnt jedoch mit dem Konflikt zwischen männlichen und weiblichen Elementen. Als das Denken konservative Züge annahm, wurden wir blind für die grundlegende Realität. Dies zeigt sich zunächst bei den Frauen. Das Zeitalter der Göttinnen ... Tatsächlich zeigen archäologische Forschungen, dass es ein solches Zeitalter gab. Die Göttinnenfiguren der letzten dreißigtausend Jahre belegen die Existenz einer solchen Epoche. Es wurde nachgewiesen, dass diese Epoche sich über ganz Eurasien erstreckte, von Westeuropa bis zum Nahen Osten und Afrika.

Was bedeutet nun diese Göttlichkeit? Dass Frauen gebärende Lebewesen sind, muss nicht mehr diskutiert werden, denn Geburten finden bei Frauen statt. In der menschlichen Spezies ist die Wahrheit bei der Frau einfach anders beschaffen. Das muss man gut verstehen. Alle Untersuchungen zeigen, dass die Vermehrung bei Pflanzen einfach ist, die Teilung der ersten Zelle leicht erfolgt und bei Tieren das Jungtier zur Welt kommt und innerhalb von 24 Stunden auf den Beinen steht. Das ist bei allen Tieren so. Manche dauern länger, manche kürzer, aber es handelt sich um eine leichte Geburt und ein leichtes Wachstum. Man kümmert sich sechs Monate lang um sie und lässt sie dann los – und sie leben weiter. Bei der menschlichen Spezies kommt es jedoch zu einer interessanten Situation: Die Geburt ist schwer und selbst das reicht noch nicht. Der Mensch kann ohne die Unterstützung der Mutter fünf bis sechs Jahre lang nicht alleine leben. Was bei Tieren 24 Stunden dauert, braucht beim Menschen bis zu sieben Jahre. Was erfordert das? Es erfordert Gesellschaftlichkeit um die Mutter herum. Denn die Rolle des Mannes war unklar. Es gab keine Beziehung zwischen dem Kind und dem Mann. Wie sind Frau und Mann zum ersten Mal aufeinandergetroffen? Sowohl Menschen als auch Tiere haben einen Sexualtrieb. Der Sexualtrieb ist wie der Hungertrieb ein Grundtrieb. Triebe sind Bewusstsein und Zeichen von Lebendigkeit. Ohne Hungergefühl gibt es keine Sättigung, also kein Leben. Ohne Sexualtrieb gibt es keine Fortpflanzung und ohne Fortpflanzung gibt es kein Leben. Das verstehen wir. Wer ist der Vater? Eigentlich gab es zunächst keinen Vater. Es gab nicht einmal ein Bewusstsein dafür, wie und mit wem Sexualität entstanden ist, es gab nur einen Trieb.

Kultur ist ein Bewusstsein, das bei Menschen entsteht. Dieser Prozess beginnt bei der Frau, da sie die Kinder zur Welt bringt. Später wird Eva in den monotheistischen Religionen aus Adams Rippe erschaffen. In der sumerischen Mythologie wird dieser Teil ausführlich beschrieben. Auch die Juden haben diese Geschichte in die Thora aufgenommen. Von der Thora wurde es dann in den Koran übernommen.

Eine Frau, die ein Kind zur Welt bringt, muss es großziehen. Sie muss es ernähren und dafür Nahrung sammeln. Das erfordert enorme Arbeit und Anstrengung. Wir sprechen hier von einer Geschichte, die etwa zwei Millionen Jahre zurückreicht. Sie begann im afrikanischen Rif-Gebirge und konzentrierte sich später auf den Mittleren Osten. Die eigentliche Kulturbildung fand in den Tälern des Taurus-Zagros-Gebirges statt. Hier wurde der Mensch zum Menschen, hier wurde die Frau zur Frau. Das wollen wir etwas näher erläutern. Die Frau zieht ihr Kind groß, weil sie weiß, dass es von ihr stammt. So wie sie die Mädchen und Jungen kennt, mit denen sie aufgewachsen ist, kennt sie als Mutter und Schwester auch ein oder zwei Onkel und Tanten. Damit beginnt auch die Kultur mit sieben, zehn oder 15 Personen. Die Anzahl überschreitet nicht 20 Personen, die zusammen einen Clan bilden. Der Clan ist die erste Organisationsform in der Geschichte der Gesellschaftswerdung. Der Clan ist eine Kultur, die sich um die Mutter herum bildet.

Als sich die Kehlkopfstruktur entsprechend entwickelte, entstand vor etwa 30.000 Jahren das Phänomen der Sprache. Die Sprache entstand also vor etwa 30.000 Jahren. Der Übergang von der Zeichensprache zur Lautsprache vollzog sich. In dieser Region, die wir als den „Fruchtbaren Halbmond” bezeichnen, tauchten schließlich auch das mythische Denken und die symbolische Sprache auf. In einer gewaltigen kulturellen Explosion entstand eine Zivilisation. Mit ihr entwickelten sich Dörfer und Städte, aber auch Staatswesen und Klassen. Wichtig ist, dass sich die Gesellschaft um die Frau herum entwickelt hat. Diese gesellschaftliche Natur, die sich um die Frau herum entwickelt hat, war bis zur sumerischen Gesellschaft, ja sogar noch vor zweitausend Jahren, vorherrschend. Als Teil dieser Kultur entstand das Konzept der Muttergöttin. Es findet sich in Skulpturen und bis heute erhaltenen Tempelruinen wieder. In mythologischen Epen wie Gilgamesch, Babylon und Enuma Eliš finden sich sehr deutliche Darstellungen davon. Wir kommen daher zu dem Schluss, dass eine frauenzentrierte Gesellschaftswerdung stattgefunden hat. Hinzu kommt die Problematik der konservativen Erstarrung weiblicher und männlicher Elemente. Auch hierfür wurden damals sehr starke Grundlagen gelegt. Alle archäologischen Funde weisen darauf hin, dass die Domestizierung von Tieren und Pflanzen zu dieser Zeit ihren Anfang nahm. Zu Marx' Zeiten gab es diese Erkenntnisse noch nicht. Die Erforschung der sumerischen Gesellschaft hatte zu seiner Zeit noch nicht begonnen, daher kann man ihm keinen Vorwurf machen.

Marx lässt die Geschichte mit den Klassen beginnen. Der Ursprung der Problematik liegt jedoch nicht in den Klassen, sondern entwickelt sich um die Sozialität der Frau herum. Soweit wir wissen, mündet diese Problematik in der Zivilisation. Diese Problematik mündet in der Zivilisationsgesellschaft. Sie mündet in der Entstehung der Stadt, und auch hier hat die Frau ihre Spuren hinterlassen. Uruk ist die erste Stadt, der erste Staat und somit auch die erste Klasse. Das Gilgamesch-Epos enthält umfassende Hinweise darauf. Da es sich um einen großen Krieg handelte, fand er Eingang in dieses Epos, der das erste schriftliche Epos der Menschheit ist und Hunderte von Anfängen enthält. Hier finden wir die Klasse, die Schöpfung, die Erschaffung des Staates, die Erschaffung der Macht – all diese gewaltigen Anfänge. In Uruk ist Inanna die Gründungsgöttin. Das Wort „Ninna” stammt vermutlich auch von dort. Diese frauenzentrierte Göttlichkeit steht also für diesen Aufstieg. Sie steht für die Göttinnenreligion. Ihre Heiligkeit ist so stark, dass sogar jemand wie Gilgamesch vor ihr erzittert. Bei Fruchtbarkeitsritualen finden auch offene sexuelle Zeremonien statt. In der Mythologie werden diese heiligen Ehen als großartige Zeremonien beschrieben. Der starke Mann, der diese Vereinigung vollzieht, wird am nächsten Tag getötet. Diese Praxis ist in vielen Kulturen zu finden. Zuletzt wurden bei den Azteken alle gefangenen jungen Männer geopfert. Diese Kultur wurde bis in die 1500er Jahre in vielen Teilen der Welt praktiziert. Nach einer kurzen Zeit von etwa einem Monat oder einem Jahr mit einer Jungfrau wurden sie getötet und ihre Lebern verspeist. Die Azteken hatten eine solch schreckliche Tradition. Als die Spanier das Land eroberten, wurden dort noch immer jedes Jahr Tausende junger Männer geopfert. Und das sowohl im Tempel als auch an anderen Orten.

Die Grundlage dafür liegt in der Göttinnenreligion. Die Göttin sorgt dafür, dass jeder, der eine heilige Ehe mit ihr eingeht, getötet wird. Die soziologische Erklärung dafür ist, dass die Göttin ihren Platz nicht an einen männlichen Gott abtreten möchte. Das ist meine These, die ich klar und deutlich vertreten kann. Sie sagt, dass dies eine Notwendigkeit einer solchen heiligen Ehe sei. So steht es in den Büchern, aber die Frau will ihren Platz nicht an einen männlichen Gott abtreten. Egal, wie sehr sie ihn liebt: Dumuzi ist der Geliebte von Inanna. Aber sie tötet ihn und schickt ihn in die Unterwelt. So lautet die Regel. Warum? Weil die Frau weiß, was ihr blüht, wenn sie ihren Platz einem männlichen Gott überlässt. Tatsächlich sehen wir im babylonischen Epos, dass genau das passiert ist.

Als Inanna in den 4000er Jahren in Uruk die absolute Macht innehatte – als absolute Göttin und in der ganzen Pracht der heiligen Ehe – versuchte sogar Gilgamesch, sich in alle Winde zu zerstreuen. Damit hängt auch das Streben nach Unsterblichkeit zusammen. Ich bin erstaunt, dass jemand so Hilfloses wie ich dies erkannt hat, während es so vielen Wissenschaftlern nicht gelungen ist. Ja, die Suche nach Unsterblichkeit bedeutet, dass der Mann sein Leben retten will. Denn die Göttin der Stadt Uruk hat gemäß dieser Religion viele männliche Priester. Die Göttin, von der ich spreche, ist eine weibliche Herrscherin, die von Priestern umgeben ist, die ihr unterstellt sind. Aus ihnen wählt sie einen Mann aus, geht mit ihm eine heilige Ehe ein und tötet ihn am nächsten Tag. Gilgamesch weiß, dass er getötet werden wird und flieht deshalb. Er sagt: „Wähle nicht mich!“ Er schmiedet einen ersten Fluchtplan, dann einen zweiten, wird aber jedes Mal gefasst und zurückgebracht. Aber ich glaube, dass ihm sein Leben geschenkt wird, als etwas Erstaunliches geschieht. Wie ihm sein Leben geschenkt wird, weiß ich nicht, das habe ich nicht recherchiert. Da es ein unglaubliches Ereignis ist, dass ihm das Leben geschenkt wird, entsteht das Gilgamesch-Epos. Gilgamesch unterscheidet sich nun dadurch, dass er kein getöteter Mann mehr ist. Nachdem er aufgehört hat, ein getöteter Mann zu sein, entsteht dieses Epos. Er wurde in Steine gemeißelt und auf Ziegeln geschrieben. Damit begann eine Ära der Männlichkeit, die bis heute andauert. Von 4000 v. Chr. bis 2000 v. Chr., bis zur Herrschaft Babylons, geht die Macht langsam von den Frauen auf die Männer über. Diesmal ist es umgekehrt: Der Mann eignet sich den Tempel der erhabenen Frau an. Gilgamesch schickt Enkidu, der höchstwahrscheinlich ein Ur-Kurde aus den Bergen ist, eine Prostituierte. Dies ist Teil eines Epos, aber es gibt auch eine Kultur, in der Männer über Prostituierte erobert werden. Was machen sie? Sie schmücken sie. Sie haben schließlich bereits einen Tempel, in dem die auserwähltesten Frauen verehrt werden.

In Uruk gab es einen Frauentempel, der mit einem heutigen Bordell vergleichbar ist. Es handelt sich um eine Umwandlung vom Tempel zum Bordell. Musakkaddim – ja, es hat auch einen Namen. Es handelt sich um eine männlich dominierte Form der Gesellschaftswerdung. Ist das nicht auch heute noch so? Das ist sehr auffällig, sogar bis in unsere Reihen ist das vorgedrungen. Um die PKK zu spalten und zu zerschlagen, wurden speziell solche Frauen geschickt. Das ist sehr auffällig. Wir haben das miterlebt, vielleicht sogar ich selbst. Das ist die Realität. Auch heute ist das noch weit verbreitet. Genau um dieses Phänomen dreht sich die Vereinnahmung der Organisation, ja sogar ihre Selbstauflösung. Das hat natürlich eine historische Grundlage in dieser Region. Enkidu wurde aus den Zagros-Bergen gebracht. Er ist ein beeindruckend starker Mann, der mindestens so stark ist wie Gilgamesch. Ohne ihn kann Gilgamesch nicht leben. Er ist der Mann, der die Stadt beschützt. So steht es im Epos. Er wird darin sehr gelobt. Als Enkidu stirbt, glaubt Gilgamesch, dass auch er gestorben ist. Er fragt sich, wie es sein kann, dass er gestorben ist und wie es zu diesem Unglück kommen konnte. Es ist ein tragisches Epos. Im Kern geht es jedoch darum, dass man durch diese Frau die Kontrolle über den Mann in den Bergen erlangt. Der Frauentempel wurde in einen Musakkaddim verwandelt und Gilgamesch wird nun sowohl Gott als auch König. So wie Soldaten aus den Reihen der Kurden rekrutiert werden, um eine ihm treu ergebene Männerarmee aufzubauen, wird auf diese Weise, vor allem mithilfe von Bordellen, der Mann aus den Bergen hergebracht und mit der Prostituierten im Tempel zusammengebracht. Innerhalb von zwei oder drei Tagen ist der Mann am Ende, völlig zerstört. Er beteuert, nie wieder in die Berge zurückzukehren. Denn er hat sich an die Prostituierte gewöhnt.

Damals wurde der Grundstein für diese Institution gelegt, die die Gesellschaft verdirbt, Frauen zu Prostituierten macht und Männer in die schlimmste Lage bringt. Das ist auch der Kern des Gilgamesch-Epos. Warum erzähle ich das? Wir haben über eine Problematik gesprochen, die Frauen betrifft. Diese Realität kann unter einer Hauptüberschrift untersucht werden. Kann das geleugnet werden? Ihre Auswirkungen sind immer noch stark zu spüren. Ich habe dargelegt, auf welche Weise Männer zu Männern wurden. Nun versuche ich, zu erklären, wie sich die Göttin in eine männliche Religion verwandelte. In Gilgamesch erreicht das einen schrecklichen Höhepunkt, und Enkidu steht für den untergegangenen Ur-Kurden. All das beschreibe ich sehr grob und allgemein. Wer möchte, kann das gerne vertiefen. Für mich ist der Kern eine auf Frauen basierende Gesellschaft und der darauf basierende Konflikt zwischen Mann und Frau: die weibliche Göttin, der männliche Gott. Das findet sich im Alten und im Neuen Testament, in Form von Priester und Nonne. In der islamischen Religion erreichte das in der osmanischen Gesellschaft mit dem Harem einen Höhepunkt. Bei Muʿāwiya erreichte das seinen Höhepunkt. Im Christentum erreichte das seinen Höhepunkt. Auch im Judentum liegen die Wurzeln der Begriffe „Haushalt” und „Familie” in der Thora. Schlagt die Thora auf und seht, wie Frauen zu Hause eingesperrt wurden. Die Grundlage dafür legte natürlich Zarathustra. Die Juden übernahmen dies von ihm in Babylon. So wurde die Grundlage für die unglaubliche Institution der Familie geschaffen. Einsperren im Haus, Heiraten ... Heiraten bedeutet also, im Haus eingesperrt zu werden. Die Braut wird herausgeputzt und anschließend im Haus eingesperrt.

Frauen sammeln Pflanzen, während Männer jagen und dabei Lebewesen töten. Krieg bedeutet, Lebewesen zu töten. Tiere zu töten, ist Mord. Dass Frauen hingegen um Pflanzensamen herum eine Gesellschaft bilden, ist etwas ganz anderes. Dass sie sich durch das Töten ihres Mannes selbst stärken, ist ebenfalls etwas ganz anderes. Ich werde das später noch näher erläutern. Die einen haben sich zu der heutigen mörderischen Gesellschaft entwickelt, die anderen versuchen immer noch, die Gesellschaft am Leben zu erhalten. Die Kultur, die darauf abzielt, die Gesellschaft am Leben zu erhalten, gründet folglich auf einer Soziologie, die sich um die Frau herum entwickelt hat. Eine Gesellschaft, die auf Krieg, also auf Beute, basiert, ist eine männlich dominierte Gesellschaft. Ihre ganze Arbeit besteht nun im Mehrwert. Marx bringt dies mit der Klassengesellschaft in Verbindung, was jedoch unnötig ist. Sobald sich die Möglichkeit des Mehrwerts ergibt, sobald sich also um die Frau herum eine Pflanzengesellschaft bildet und es mehr Nahrung gibt, wirft der Mann ein Auge darauf. Er jagt zwar Tiere, bemächtigt sich aber auch der von der Frau gesammelten Nahrung. Er bemächtigt sich sowohl der Nahrung als auch der Frau – so beginnt diese Geschichte. Er schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe.

Ja, Frauen haben die Gesellschaft entwickelt und ein Zuhause geschaffen. Sie ernähren ihre Kinder und bilden einen Frauenclan bzw. eine Frauengesellschaft. Sie wurden zu Göttinnen und führten 30.000 Jahre lang die Menschheit. Dann kamen die männlichen Jäger und schlossen sich zu besonderen Vereinigungen, zu einer Art Bruderschaft, zusammen. Diese Bruderschaften bestanden aus ein paar Kumpels. Die Jäger bildeten eine Gruppe, die zuerst Tiere jagte und bei erfolgreichem Abschluss ein Festmahl veranstaltete. Doch dann sahen sie, dass die Frauen Weizen, Gerste und Linsen anbauten und so die neolithische Gesellschaft erschufen, indem sie Dörfer gründeten. Sie bauten Häuser, um ihre Kinder zu ernähren und zu beschützen, aber auch, um Brüder, Tanten und Onkel unterzubringen. Sie hatten Kinder und bildeten einen Clan. Sie produzierten und erfanden Dinge. Inanna fragt Enki: „Hast du mir meine Hunderte von Me gestohlen?” Das bedeutet, dass es Hunderte von Schöpfungskünsten gibt, dass es Institutionen gibt und dass sie eigentlich die Schöpferin davon war, während er sich nun diese aneignet. „Du sagst, du hast sie geschaffen, und du lügst“, sagt sie zu Enki in dem Epos. „Ich habe sie geschaffen, und du bemächtigst dich ihrer.“ Mit dieser mythologischen Aussage habe ich mich auf meine eigene Art und Weise auseinandergesetzt. Und ich habe das noch weiterentwickelt. So habe ich auch das Gilgamesch-Epos analysiert. Was die Problematik angeht, so greift der Mann, gestützt auf diesen Jägerclub, die Gesellschaft der Frauen an. Damit beginnt das Problem. Ist das richtig? Ja. Wir sehen das vor allem in Urfa. Das ist weit verbreitet. Mächtige Männer töten im Rahmen der Ehe jeden Tag.

Das ist seltsam. Ich möchte nicht viele von meinen Erinnerungen erzählen, aber eine kommt mir gerade in den Sinn. Ich erinnere mich noch daran, dass wir als Geschwister einen Esel hatten. Wir haben ihn mit Gegenständen und Gras beladen. Ich erinnere mich auch noch an das Feld. Es kam zu einem Streit. Soweit ich mich erinnere, schlug ich meine Schwester. Sie sagte zu mir: „Du bist doch nur stark genug für mich.“ Das ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich war wohl etwas stärker als sie. Ich erinnere mich auch daran, dass ich meine Hand gegen sie erhoben habe, weil sie ihre Arbeit nicht richtig gemacht hatte. Seltsam, Eyne hat nicht einmal das Bedürfnis verspürt, mich zu besuchen. Schwester Fatma lebt noch. Aber all das ist ihr völlig egal. Glaubt sie an eine Religion? Hat sie eine Weltanschauung? Sie hat ihr Leben als halb verrückte Frau verbracht. Ihr Leben mag sehr interessant und schmerzhaft gewesen sein, aber sie hat mich als Schwester nie wahrgenommen. Es hat sich keine besonders tiefe Liebe zwischen uns entwickelt. Könnte das mit den Schlägen zu tun haben? Vielleicht hat sie angefangen, darüber nachzudenken. Das werde ich eines Tages herausfinden.

Die Situation ist folgende: Es ist heute weit verbreitet, dass Männer ihre Frauen töten, wenn sie sich langweilen. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Land. Zwischen Urfa und Istanbul gibt es keinen Unterschied. Vielleicht geschieht das in Istanbul etwas häufiger. Die Familie stellt heute ein großes Problem dar. Ich glaube, das liegt an der Art und Weise, wie Heirat und Ehe heute gelebt werden. Die heilige Familie ist ein Märchen. Es gibt keine heilige Familie. Frauen werden zu Hause eingesperrt und in eine Atmosphäre der Sklaverei gebracht, die sie nicht ertragen können. Sie explodieren, brechen zusammen und werden von ihren Männern geschlagen. Die Zeitungen sind voll davon. Von tausend Frauen schlägt vielleicht eine den Mann, aber von tausend Männern schlagen 999 ihre Frauen. Wer kann das leugnen? Das ist offensichtlich. Es gibt keinen Grund, heuchlerisch zu sein – letztendlich entsteht diese Problematik genau hier. Sie entsteht nicht aus der Klasse. Sie entsteht in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Ist das ein Problem? Ja, und zwar ein grundlegendes. Wir haben im Gilgamesch-Epos nach Hinweisen dafür gesucht. Wir haben in der sumerischen Gesellschaft nach deren Grundlagen gesucht. In der späteren Staats-, Stadt- und Klassenunterscheidung erreichte dies seinen Höhepunkt. Das lässt sich im Alten Testament finden. Auch im Koran gibt es zahlreiche Beispiele dafür. Die Versiegelung von Xirabreşk (tr. Göbekli Tepe) könnte ebenfalls eine Aktion der Männer gewesen sein. Die Idee dahinter könnte ein Spiel der männlichen Vorherrschaft sein. Aber ich kann nichts Definitives sagen. Ich möchte darüber nicht einmal spekulieren. Xirabreşk ist eine weit verbreitete Kultur. Zwischen Euphrat und Tigris gibt es über 200 Fundstätten. In Girê Keçel (tr. Karahantepe) spiegelt sich die männliche Vorherrschaft ebenso deutlich wider wie die Vorherrschaft eines Geschlechtsorgans. Dort gibt es solche Statuen. Diese wurden nach Indien und Ägypten gebracht. Es findet ein Übergang zur männlichen Vorherrschaft statt.

Dieser Übergang vollzieht sich jedoch über einen Zeitraum von 30.000 Jahren, in denen sich eine matriarchalische Gesellschaft entwickelt und eine Produktionsrevolution stattfindet. Die Flora und Fauna Obermesopotamiens ist äußerst reichhaltig. Man kann kaum einen Schritt tun, ohne auf Pflanzenvielfalt zu stoßen. So ist es auch in der Umgebung von Qerejdaxê (tr. Karaca Dağ). In dieser Gegend wurden Gerste und Weizen erstmals angebaut. Hier wurden auch Schafe und Ziegen erstmals domestiziert. Die Region wird vom Regen gespeist. In anderen Teilen der Welt ist dies nur sehr begrenzt möglich. Hier herrschte ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Regen und Boden. So entstand eine Explosion der Pflanzen- und Tierwelt. Menschen kamen aus Afrika und ließen sich hier in großer Zahl nieder. Es gab reichlich Pflanzen und Tiere. Man konnte so viel jagen und sammeln, wie man wollte. Beides war möglich. Das eine geschah um die Frauen, das andere um die Männer. Was aber passierte schließlich? Es kam zu Konflikten. Die Männer waren Jäger und besaßen Waffen. Die Konflikte wurden mit Obsidian und Feuersteinen ausgetragen. In Xirabreşk sind solche Waffen immer noch zu finden. Obsidian wurde gehandelt. Es war das wertvollste Handelsgut. Obsidian war eigentlich eine Waffe. Denn es war eine scharfe Waffe. In der Hand des Mannes war dieses scharfe Messer ein Jagdwerkzeug, mit dem er jeden töten konnte. Die Frau unterlag dieser Übermacht. Der Mann hatte einen kleinen Club, fünf, zehn Kumpels. Er hatte das Obsidianmesser in der Hand und tötete, wohin er auch ging. (Sogar ich liebe meinen Onkel mütterlicherseits sehr und er ist mir sehr wichtig. Meine Tanten väterlicherseits kenne ich nicht. Die Tanten mütterlicherseits kenne ich gut.) In einer matrilinearen Gesellschaft hat der Onkel mütterlicherseits als Bruder der Mutter Einfluss auf den Clan. Das bedeutet, dass diese Eigenschaft der matrilinearen Gesellschaft bewahrt wurde. Durch diese Konterrevolution erleidet die matrilineare Gesellschaft einen schweren Schlag.

Sowohl die ersten Werte als auch die männlichen Kinder wurden ihnen genommen und die Frauen wurden wie Sklaven zur Arbeit gezwungen. Die Frau hingegen tötete den Mann im Rahmen einer heiligen Hochzeitszeremonie. Genau wie im Epos von Gilgamesch, wo der Mann getötet wird. Die Wurzeln reichen bis dorthin zurück. Schrecklich. Die Vergötterung führte sogar dazu, dass sie ihren Geliebten töten lässt. Warum? Weil sie wusste, was ihr sonst blühte. Um dieses Unglück abzuwenden, musste sie ihn töten. Das ist der Kern. Das ist historischer Materialismus. Es ist die nützlichste Erkenntnis, die wir aus dem Marxismus ziehen können. Der dialektische Materialismus erklärt dies auf diese Weise. Doch die Männer beendeten schließlich die Herrschaft der Frauen in der sumerischen Gesellschaft. Die sumerische Gesellschaft vollzog den Übergang zu einer patriarchalischen Gesellschaft. Mit der Versklavung der Frau war dieser Übergang abgeschlossen. Anschließend entstand das babylonische Epos Enuma Elisch. Lest ihn, ihr werdet ihn sehr beeindruckend finden. Es war die hebräische Gesellschaft, die den Inhalt dieser Epen in eine Religion verwandelte.

Die hebräische Gesellschaft übernahm Teile des Enuma-Elisch-Epos in die Thora. Sie hat es in die Thora übernommen. Die Thora, also die Umwandlung des Enuma-Elisch-Epos in der hebräischen Stammesgemeinschaft, bedeutete sowohl eine spirituelle als auch eine materielle Verwandlung. Der Name dieser Umwandlung, der ihre Bedeutung ausdrückt, ist Thora. Aus der Thora entstanden sowohl die Bibel als auch der Koran. Das kann niemand leugnen. Das Ergebnis war das Einschließen im Haus. Zarathustra leistete höchstwahrscheinlich einen großen Beitrag dazu. Der Mann heiligte auch seine Geschlechtsorgane. Es herrschte eine Phallokratie. Der Mann setzte sein Geschlechtsorgan an die Stelle Gottes. So ist es in Indien noch immer. Doch zuvor war die Frau eine Göttin. Das ist das Entscheidende. Er sagte: „Nicht nur ich bin Gott, sondern auch mein Geschlechtsorgan, und du sollst es anbeten.“ Und so steht es auch in der Schrift. Auch in der Thora wird das klar beschrieben. Was uns interessiert, ist die Verbegrifflichung dieser Sache. Dieser Aspekt ist wichtig. Dadurch wird diese Sache zu einer Religion. So ist es auch heute. Wir werden auch noch auf die modernen Krankheiten des Westens eingehen. Die nächste Stufe ist die des Eigentums. In Bezug auf die Situation zu Hause ist die Ideologie, dass man eingesperrt wird, gefährlich und stellt ein großes Problem dar. Wie ich bereits gesagt habe, beginnen die Probleme in der Gesellschaft auf diese Weise. Das ist das eigentliche Problem in der Gesellschaft. So entstehen Klassen und Staaten. Und dafür sind die Männer verantwortlich. Sie machen aristokratische Revolutionen, sie machen bürgerliche Revolutionen, aber letztendlich geht es immer um die Versklavung der Frau. Dann wird er zum Staat. Wenn er erst einmal zum Staat geworden ist, gibt es keine andere Macht mehr, die den Mann zügeln könnte. Der Staat steht für unbegrenzte Macht. Der Mann ist gebrandmarkt. Wir sind es, die den Grundstein für die Freiheit der Frau gelegt haben. Wie hat sich das entwickelt? Ich persönlich habe gesagt, dass Freiheit als Ausdruck meines Respekts gegenüber Frauen zuerst im Denken beginnen muss. Ich habe gesagt: "Lebt so, wie ihr wollt." Natürlich nur, wenn ihr die Kraft dazu habt. Es gibt Leute, die sagen: „Lass doch die Frauen und Männer miteinander schlafen, sie sollen Liebhaber sein.” Wenn ihr das könnt, dann tut es. Ich habe euch diesbezüglich keine Grenzen gesetzt. Aber ich kann auch nicht für das verantwortlich gemacht werden, was euch dann passiert. Nicht wahr? Ich kann nur ein Fenster zur Freiheit öffnen. Aber wenn man genau hinschaut, gibt es überall Fesseln. Egal, zu welchem Mann man geht: Wenn es um die Ehe geht, ist sein Gefühl von Besitz enorm. Von Gleichberechtigung ist er also noch weit entfernt. Irgendwann wird man von ihm auf jeden Fall geschlagen werden. Selbst wenn du dich trennst: Wie willst du alleine leben? Sind Frauen, die die Wirtschaft erschaffen haben, heute nicht auf Almosen angewiesen? Sind sie nicht auf Männer angewiesen? Das ist sehr auffällig. Wenn der Mann nicht arbeitet, hungert die Frau. Dabei ist es doch die Frau, die die Wirtschaft erschaffen hat. Wie ihr wisst, ist „Ökonomie” ein griechisches Wort und bedeutet Hauswirtschaft. Es bedeutet Hausarbeit. Also die Wissenschaft, den Haushalt zu führen. Das ist die Arbeit der Frau. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Beziehung der Frau zur Wirtschaft zunichte gemacht. Verfügt die Frau heute über irgendeine Form von Wirtschaft? Nein, die Wirtschaft wird derzeit absolut von Unternehmen und Männern beherrscht. Wenn ich das sage, sind alle erstaunt. J. J. Rousseau weist darauf hin. Das ist interessant. Auch Adam Smith erwähnt das. Das überrascht die Menschen. Der wirtschaftliche Übergang zur männlichen Vorherrschaft hat seinen Ursprung im Westen und verlief dramatisch.

Früher, im Mittelalter und in der Antike, spielten Frauen eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Im Kapitalismus verschwindet diese Möglichkeit jedoch vollständig. Sie geht an die Unternehmen über. Durch Geld sind Finanzunternehmen ein Monopol der Männer. Frauen haben keinerlei Einfluss auf Geld und Wirtschaft und sind vollständig von Männern abhängig. Geld, Technik und zentrale Wissenschaften liegen in den Händen der Männer. Was wird dann aus den Frauen? Ich bezeichne sie als „zwitschernden Vogel im Käfig“ oder als das „heimische Schmuckstück des Mannes“. Der Körper der Frau ist heute ein Eigentumsobjekt. Von den Haaren über die Beine bis hin zur Seele und zur Stimme ist ihre gesamte Existenz ein Eigentumsobjekt. Es gibt nichts mehr, das nicht im Dienste des Kapitalismus steht. Wird nicht mit dem Körper der Frau Werbung gemacht? Das ist erschreckend. Ihr müsst euch euren Körper zurückerobern. Der Körper, den der Mann vollständig kontrolliert, ist euer Körper. Wie macht ihr das? Er hat alle eure Grenzen festgelegt und bestimmt eure Zeit. Wenn er euch kein Geld gibt, lässt er euch hungern. Ich möchte die Lage nicht noch düsterer darstellen. All das ist bereits Realität. Ich habe beispielsweise gesagt, dass der Sozialismus nur durch die Befreiung der Frau möglich ist. Erstaunlich ist für mich, dass sogar Marx seine Kleidung verkaufen musste, um mit seiner Frau leben zu können. Der Verfasser des größten Werkes über den Kapitalismus konnte sich nicht ernähren und musste seinen Mantel verkaufen, weil er seine Frau und seine Kinder nicht ernähren konnte. Er sagte: „Ich werde dieses Buch schreiben, damit es Geld einbringt und ich diese Ehe retten kann.“ Wenn sogar der Begründer der Soziologie so etwas sagt, dann ist es um uns geschehen! Wie kann das Marxismus sein? Leider war es so, und wir haben ihn verehrt. Wir haben ihn wie einen Propheten behandelt. Wir versuchen, das zu überwinden, aber die Lage ist ernst. Die Frau ist am Ende. Bei Lenin, Mao und Stalin war es genauso. Die Frau kann aus Angst nicht mehr leben. Lenin hat sich in dieser Hinsicht sehr bemüht, ich mache ihm keinen Vorwurf. Stalin macht die Frau zu seinem Eigentum und sperrt sie zu Hause ein. Das heißt, er tötet sie zwar nicht, macht ihr Leben aber schlimmer als den Tod. Das will ich damit sagen. Es ist eine kluge Entscheidung, diesen Mann zu töten. Ich hatte auch solche Neigungen. Das habe ich bereits gesagt. Zumindest habe ich selbst solche Erfahrungen gemacht. Meine Freundin, meine beste Freundin, wollte unbedingt, dass ich sie töte. Ich war vorsichtig mit ihr. Ich habe zehn Jahre lang mit ihr gekämpft. Aber ich war vorsichtig. Mal sehen, was passieren wird, was sie tun wird. Ich habe ihre Geschichte ja bereits erzählt. Als sie floh, war das für mich eine unglaubliche Erlösung. Diese Art, mich nicht unterkriegen zu lassen, macht mich zu dem, der ich bin. Während mich alle verurteilten und sagten: „Seine Frau ist weg“, hätte ich traurig sein oder sie sogar töten können, aber ich sagte: „Ich bin frei.“

Das ist genau das Gegenteil dessen, was Männer sonst tun. Meine Befreiung beginnt mit dem Ende dieser Beziehung. Wenn ich das sage, lachen mich alle aus. Ich sage das ganz offen. Ich bin frei! Ich habe mich von dieser Tradition befreit und ich befreie mich von der Problematik der Frau. Was würde aus mir werden, wenn ich eine Frau töten würde? Ich wäre ein Mörder. Aus einem Mörder kann kein Sozialist werden. Stalin mag das können, aber ich halte das für falsch. Frauen wie ihr, die nicht verheiratet sind, sind für mich ein großes Problem. Was bringt das also? Zumindest haben wir euch die Möglichkeit gegeben, als Persönlichkeiten frei zu denken. Die Möglichkeit dazu ist sehr wichtig. Meiner Meinung nach ist die wichtigste Eigenschaft, die einen Menschen zum Menschen macht, die Freiheit zu denken, wie man auch bei Sokrates sehen kann. Wenn ihr die Idee der Freiheit verliert, seid ihr unweigerlich am Ende. Auf dieser Grundlage entwickeln wir unseren neuen Aufbruch: den neuen Sozialismus, die neue kurdische Existenz und Identität sowie die kurdische Freiheit. Sowohl die Kritik an der Zivilisation, an der Moderne als auch die Kritik an der Versklavung der Frau schreiten bei uns stark voran. Wir sind dabei, das Problem zumindest auf individueller Ebene zu überwinden, und auch auf kollektiver Ebene gibt es Fortschritte. Meiner Meinung nach ist das unser wichtigster Beitrag zum Sozialismus. Dies habe ich im Einleitungskapitel im Rahmen des Themas „Gesellschaftlichkeit der Frau und Problematik” dargelegt.

3 – Der Widerspruch zwischen Staat und Kommune in der historischen Gesellschaft

Der historische Materialismus sollte den Klassenkampf durch die „Kommune” ersetzen. Ist das nicht nicht nur ein realistischer, sondern auch der gesündeste Ansatz vom freien Denken und Handeln in der Soziologie zum Sozialismus? Anstelle einer Definition von historischem Materialismus und Sozialismus, die auf Klassenkonflikten basiert, halte ich eine Alternative, die auf dem Widerspruch zwischen Staat und Kommune basiert, für zutreffender. Ich halte es für richtiger, den Marxismus zu überdenken und diesen Begriff stattdessen zu verwenden. Das heißt, die Geschichte ist keine Geschichte des Klassenkampfs, sondern besteht aus einem Konflikt zwischen Staat und Kommune. Die auf dieser Klassenunterscheidung basierende Konflikttheorie des Marxismus ist der Hauptgrund für den Zusammenbruch des Realsozialismus. Das muss man nicht einmal kritisieren. Einer der Hauptgründe dafür ist jedoch der Versuch, eine auf dieser Klassenunterscheidung basierende Soziologie zu entwickeln. Was bedeutet also der Widerspruch zwischen Staat und Kommune, der an die Stelle dieser Unterscheidung tritt? Das ist eine sehr wertvolle Feststellung. Oder sie ist bekannt, aber man hat sie bisher nicht systematisiert. Was ich hier tue, ist eine systematische Reflexion. Ich möchte den historischen Materialismus anhand dieses Begriffspaares analysieren. Außerdem möchte ich den aktuellen Sozialismus nicht auf eine Form des Kommunismus stützen, die auf Klassendiktatur basiert, sondern auf ein Begriffspaar, das die Beziehungen zwischen Staat und Kommune bestimmt. Ich habe den Eindruck, dass dies zu sehr konstruktiven und beeindruckenden Ergebnissen führen wird. Ich stütze mich dabei auf die Tatsache, dass die Gesellschaft ein kommunales Phänomen ist. Oben habe ich den Begriff des Clans definiert. Das ist Gesellschaftlichkeit. Gesellschaftlichkeit bedeutet auch Kommune. Die Urkommune ist der Clan. Was speziell das Wort „Kommune” angeht, so müssen wir den uns soweit bekannten gesellschaftlichen Aufstieg im mesopotamischen Raum analysieren, also die Entstehung der sumerischen Gesellschaft, des Staates, der Stadt und des Eigentums und die Grundlage, auf der all das begann. Es ist richtig, sowohl den Staat als auch die Kommune an die Spitze zu stellen. Aber wo bleibt dabei die Gesellschaftlichkeit? Die Gesellschaft ist die Grundlage. Bis zum Jahr 4000 v. Chr. fand die gesellschaftliche Entwicklung nämlich in Form von Clans statt. Man kann dies auch als Großfamilie oder Stamm bezeichnen. Ein Stamm ist ein Zusammenschluss von Kommunen. Ein Clan ist eine Kommune. Die Familie als solche war damals noch nicht entstanden. Eigentlich bedeuten die Begriffe "Familie" und "Clan" dasselbe. Die Familie unterschied sich damals noch nicht wesentlich vom Clan. Mit der neolithischen Revolution kam es zu einer bemerkenswerten Entwicklung. Der Begriff „Clan” ist vor allem mit dieser Revolution verbunden. Vor der neolithischen Revolution war dies die vorherrschende Gesellschaftsform. Die Verbindung des Begriffs „Kommune” zu „kom”¹⁰ im Kurdischen lässt sich aus unserer eigenen Sprache ableiten. „Kom” und „kombun” bedeuten „Kommune” bzw. „sich versammeln”. Es ist ein Wort, das wir noch heute verwenden. Das zeigt, dass die arische Sprache ihren Ursprung hier hat und mindestens 10.000 Jahre alt ist. Es ist klar, dass sich die arische Sprachgruppe um diese Kommune herum entwickelt hat. Das kurdische Wort „kom” beweist dies. Dies wird auch durch die Ableitungen des Wortes erklärt. „Komagene” ist der Name eines Staates. Der Stammesführer gründet den Staat. Die Stammesmitglieder, deren Interessen nicht berücksichtigt wurden, bildeten die Kommune. So ist es in Wirklichkeit. Ganz einfach. Ich habe da keine große Entdeckung gemacht. Marx nennt das eine wissenschaftliche Entdeckung, aber das ist nur ein Märchen. Die Entstehung der Arbeiterklasse und ihre Entwicklung haben Wunder vollbracht; die Wissenschaft ist dabei nur Nebensache. Der Unterdrücker des Stammes wird zum Staat, der Stammesführer – wer auch immer das ist – und seine gewöhnlichen Mitglieder leben als Kommune und später als Familie weiter. Die an der Spitze Stehenden werden zum Staat. Die Staatsdynastie. Die Unteren sind der ständig unterdrückte Stamm. Sobald ein Staat entsteht, gibt es auch einen unterdrückten Stamm. So beginnt die Spaltung. Die Theorie des Marxismus, die besagt, wie das Proletariat entstanden ist und sich entwickelt hat, erscheint mir etwas weit hergeholt.

Ja, die Entstehung der Arbeiter- und Bourgeoisieklasse basiert zwar auf der industriellen Revolution, ist aber das Ergebnis einer jahrtausendealten Entwicklung. Die Bourgeoisie gab es bereits vor der Proletarisierung, beispielsweise in Babylon, Sumer und Assyrien. Es gab sie in Athen und in Rom. Zuletzt gelangte sie nach Westeuropa. Das ist eine Erfindung Europas, die Europäer haben jedoch nur ihren Umfang vergrößert und sie hegemonial gemacht. Es entstand dort eine Form der Ausbeutung namens Kapitalismus, die sich weltweit durchsetzte. Diese Hegemonie setzte sich weltweit durch. Ihre Wurzeln liegen in der sumerischen Gesellschaft. Das ist die Geschichte der Staatsbildung. Sklavenstaat, Feudalstaat, kapitalistischer Staat - eigentlich sollte man das nicht so interpretieren. Wichtig ist: Wo ist die Kommune? Bemerkenswert ist, dass in den letzten Jahren seines Lebens in der Pariser Kommune viele Menschen starben, die Marx gut kannte. Man spricht von fast 17.000 getöteten Kommunarden. Zu ihrem Gedenken verfasste er eine Analyse mit dem Titel „Der Bürgerkrieg in Frankreich”. Er gab „Das Kapital” auf. Denn seine Vorhersagen hatten einen schweren Schlag erlitten. Meiner Meinung nach erlitt er einen inneren Bruch. Er befasste sich daraufhin mit der Idee der Kommune. Er verwendete den Begriff „Klasse” nicht oft, sondern eher den Begriff „Kommune”. Kropotkin kritisierte Lenin und sagte: „Zerstöre die Sowjets nicht!” Sowjet bedeutet eigentlich Kommune. Lenin bevorzugte jedoch den Staat und Stalin führte ihn mit dem NEP-Programm zu schrecklichen Ausmaßen.

Am Ende seines Lebens wollte Marx den Begriff „Diktatur” nicht mehr verwenden und wandte sich stattdessen dem Begriff „Kommune” zu. Er unterschied zwar zwischen Staat und Kommune, konnte diese Unterscheidung jedoch nicht weiterentwickeln. Letztendlich bin ich der Meinung, dass diese Unterscheidung historisch gesehen gültig ist, der historische Materialismus jedoch nicht als Klassenkampf verlief - ich würde auch nicht von einem Kampf sprechen - sondern als Gegensatz zwischen Kommune und Staat. Die gesamte Geschichte dreht sich darum. Insbesondere die geschriebene Geschichte. Die Grundlagen wurden in Sumer gelegt und heute erleben wir im Westen den Höhepunkt dessen. Der Begriff „Kommune” bedeutet zwar Stadtverwaltung bzw. Kommunalverwaltung, ist aber ausgehöhlt. Heute werden unseren Kommunalverwaltungen vom Staat Zwangsverwalter aufgezwungen und niemand widerspricht dem. Das zeigt, dass sie ausgehöhlt sind. Eigentlich ist die Kommune eine große Gesellschaftsform, ein Clan. Selbst die Familie ist eine Kommune. Doch sie ist sehr geschwächt. Die Kommunalverwaltungen sind ausgehöhlt. Es gibt nur noch Überreste von Stämmen, die ebenfalls ausgehöhlt sind. Der Vorfall in Tavşantepe,¹¹ den wir sehr bedauern, hängt mit dem Stammeswesen zusammen. Durch die Machenschaften dieses Stammes kam es zu einem beispiellosen Massaker an einem kleinen Mädchen, das Opfer einer schrecklichen Vergewaltigung wurde. Es ist ein symbolischer Vorfall, dessen Bedeutung jedoch sehr aussagekräftig ist. Das ist Ausdruck einer Kultur. Mele Guranî¹² stammt ebenfalls aus einer Mele-Familie, die an der Eroberung Istanbuls beteiligt war. Die Familie Güran stammt von ihnen ab. Die traurige Lage der Mele-Familie ist offensichtlich. Daher wird dieser Aufbruch der Kommunalität zum Ausdruck des Freiheitssozialismus der neuen Ära werden. Wir werden diese neue Ära anhand dieses Themas ein wenig diskutieren und konkretisieren.

Der Begriff der „moralisch-politischen Gesellschaft” ist ein anderer Ausdruck für die Analysen in Bezug auf die Kommune. Die Kommune steht dabei im Gegensatz zum Staat. Auch die Sprache der neuen Friedensepoche wird politisch sein. Wir werden die Freiheit der Kommune verteidigen. Wir geben die Sprache des Nationalstaats und die auf ihm basierenden Begriffe auf und legen stattdessen ethische und politische Begriffe zugrunde, die auf der Kommune basieren. Wir haben von einer moralisch-politischen Gesellschaft gesprochen, aber das ist die Bezeichnung für diese sich befreiende Kommune. Es ist etwas Ethisches und Politisches, aber nichts Rechtliches. Das Recht wird es geben, es wird sich entwickeln, beispielsweise in Form eines Gesetzes für die Kommunalverwaltungen. Wir werden verlangen, dass dies in den Gesetzen zum Ausdruck kommt. Das wird unsere Bedingung und unser Prinzip sein. Der wissenschaftlichere Ausdruck dafür ist kommunale Freiheit. Wir werden von nun an kommunalistisch sein. Die Kommune anstelle des Klassenbegriffs zu verwenden, ist viel eindrucksvoller und wissenschaftlicher. Die Kommunalverwaltungen stellen schließlich immer noch Kommunen dar. Bei uns gibt es auch die „kom”. Gibt es keine Moral oder Ethik? Natürlich gibt es sie. Die Kommune funktioniert ohnehin eher auf der Grundlage von Ethik als durch Gesetze. Die Kommune steht auch für Demokratie. Demokratische Politik bedeutet Politik. „Kommune” ist ein Name, „Ethik” ein politischer Begriff. Die Kommune ist ethisch und politisch, wobei das eine ein Name und das andere ein Begriff ist. Wir bezeichnen dies als die grundlegendste Revision des Marxismus. Wir ersetzen den Klassenbegriff des Marxismus durch den Begriff der Kommune. Kropotkins Kritik an Lenin ist richtig. Und Bakunins Kritik an Marx ist auch richtig. Sie ist unvollständig, aber richtig. In dieser Frage muss der Marxismus unbedingt einer Kritik unterzogen werden. Hätten Marx und Lenin ihre jeweiligen Kritiker Kropotkin und Bakunin verstanden, hätte sich das Schicksal des Sozialismus sicherlich anders entwickelt. Da ihnen diese Synthese nicht gelang, kam es zur Entwicklung des Realsozialismus.

4 – Die Moderne

Der Name der neuen Ära in Europa lautet „Moderne”. Wir definieren sie anhand der drei apokalyptischen Reiter: Kapitalismus, Nationalstaat und Industrialismus. Die Moderne bringt die Realität dieser Epoche zum Ausdruck. Sie darf jedoch nicht mit dem Kapitalismus gleichgesetzt werden. Die Moderne besteht aus dem Dreifuß Kapitalismus, Nationalstaat und Industrialismus. Diese Struktur hat sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelt. Auch der Realsozialismus ist ein Produkt dieser Moderne.

Der Sozialismus hätte als Alternative zu diesem Dreifuß auftreten müssen. Doch es wurden lediglich die sozialistische Analyse und der Kampf gegen den Kapitalismus auf die Tagesordnung gesetzt. Selbst das konnte nicht weiterentwickelt werden. In dieser Form war eine Weiterentwicklung nicht möglich. Es blieb nämlich nur bei einer Erklärung: dem Kommunistischen Manifest. Der Industrialismus wurde übernommen und in den Himmel gelobt, so wie er war. Das war ein strategischer Fehler. Marx legte auch keine fundierte Analyse des Nationalstaats vor. Auch in dieser Hinsicht wurde eine gravierende ideologische Lücke hinterlassen. Fairerweise muss man jedoch sagen, dass Marx sich dieser fehlenden Analyse später bewusst wurde. Der dritte Band seines Werkes „Das Kapital“ sollte sich mit dem Staat befassen, doch er starb, bevor er ihn vollenden konnte. Selbst wenn er ihn geschrieben hätte, wäre es ihm schwergefallen, ihn angemessen zu schreiben, denn ihm fehlte die Perspektive, um den Nationalstaat zu analysieren.

Bei Marx findet sich so gut wie keine Analyse oder Kritik des Industrialismus. Es gibt lediglich eine Analyse des Sozialismus auf Basis des Antikapitalismus. Diese ist mangelhaft und konnte nicht weiterentwickelt werden. Daher ist die Kapazität dieser sozialistischen Theorie, als Bezugsquelle für die Analyse der Moderne zu dienen, sehr begrenzt. Sie ist Teil dieser Moderne und bewegt sich innerhalb ihrer Grenzen.

Das Problem unserer Zeit besteht darin, dass die drei apokalyptischen Reiter der Moderne die Menschheit in den Untergang treiben. Die kapitalistische Ausbeutung hat heute ein Ausmaß erreicht, das an Grausamkeit grenzt. Sie hat den Planeten wie ein Krebsgeschwür befallen. Der Nationalstaat ist dabei ihre schlagkräftigste Waffe. In einem Nationalstaatssystem entwickelt sich die Nation zu einer Militärgesellschaft. Dieses System basiert auf Gewalt und Krieg. Der Nationalstaat ist das System einer Kriegsgesellschaft. In diesen Kriegen werden jedes Mal Millionen von Menschen getötet.

Der Industrialismus schreitet voran, indem er vor allem die Umwelt und alle lebenswichtigen Ressourcen der Erde verbraucht. Heute steht die Menschheit kurz davor, von ihrem selbst geschaffenen Monster verschlungen zu werden. Der Industrialismus hat sich lange Zeit jeder Kritik entzogen oder wurde davor bewahrt. Zunächst muss festgehalten werden, dass der Industrialismus nicht so unschuldig ist, wie er erscheint. Er hat nicht nur das gesellschaftliche Gefüge verändert, sondern auch die Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Es ist falsch, den Industrialismus nur als ein friedliches, wirtschaftlich begründetes Phänomen zu betrachten. Er ist von Anfang an eng mit Kriegstechnologien verbunden. Das ist auch der Grund, warum der Nationalstaat möglich wurde. Mit anderen Worten: Die Verbindung von Industrie, Technologie und Krieg ist ein grundlegendes Merkmal des Industrialismus. Es ist daher kein Zufall, dass entwickelte Nationalstaaten über hochentwickelte Kriegstechnologien verfügen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Gegenbewegung, die die industrielle Entwicklung als neutral betrachtet und im Kampf gegen die Moderne ignoriert, keine Chance auf Erfolg haben kann. Die Moderne ist so nicht aufzuhalten. Wenn es so weitergeht, hat unser Planet nur noch 50 Jahre zu leben. Ich spreche hier nicht von einer dystopischen Vision, sondern von einem realen Weltuntergang. Marx erkannte diese Gefahr und stellte ihr etwas entgegen. Aber er konnte seine Idee nicht weiterentwickeln. Er wollte sechs Bücher schreiben. Den ersten Band schrieb er, doch selbst dieser blieb unzureichend. Er beschränkte sich auf eine Analyse der Basis und des Überbaus sowie der Klassen. Damit blieb er sogar hinter Hegel zurück, obwohl er davon sprach, ihn „vom Kopf auf die Füße” zu stellen. Engels versuchte, das Werk ein wenig zu vervollständigen. Er befasste sich mit den Themen „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, „Dialektik der Natur“ und „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte“, was jedoch nicht ausreichte. Auch Lenin versuchte, das Werk in den Bereichen Politik und Staatsanalyse zu vervollständigen, was ihm jedoch nicht vollständig gelang. Mao versuchte, diese Theorie auf die Befreiungskämpfe der Kolonien anzuwenden, blieb dabei jedoch begrenzt. Sie alle hätten eine ganzheitliche Systemanalyse und alternative Lösungen entwickeln können, doch dies blieb unvollständig.

Wir haben versucht, eine neue Analyse und eine alternative sozialistische Theorie zu entwickeln, um die Moderne und den ihr dienenden Realsozialismus zu überwinden. Diese haben wir „Demokratische Moderne” genannt. Anstelle des Nationalstaates, der eine der Säulen der Moderne darstellt, haben wir die Analyse der demokratischen Nation entwickelt. Anstelle des Kapitalismus haben wir die Analyse der Kommune und der Kommunalität entwickelt und anstelle des Industrialismus die Analyse der Öko-Ökonomie. Aus der Wechselbeziehung dieser drei Analysebereiche haben wir ein freiheitliches Gesellschaftssystem entwickelt, das auf bedeutende gesellschaftliche Resonanz gestoßen ist und das wir als Demokratische Moderne bezeichnen. Wir haben es auch schriftlich dargelegt.

Zweifellos lassen sich diese drei Bereiche in weitere Unterthemen unterteilen. Ein wichtiger Teil der Kommunalität ist beispielsweise die Freiheit der Frau. Daneben lassen sich Politik, Ethik (Moral) usw. nennen. All dies werden wir umfassend behandeln und bearbeiten. Die Gesamtheit dieses Systems als „demokratische Moderne” zu bezeichnen, erweist sich als zufriedenstellend. Die Beschreibungen des Jüngsten Gerichts in den Religionen gelten nicht nur für das Jenseits, sondern auch für diese Welt. Das muss die Gefahr sein, von der in den heiligen Büchern die Rede ist. Die kapitalistische Moderne lässt die Menschheit den Jüngsten Tag erleben. Der Sozialismus, der dies verhindern sollte, ist nicht nur daran gescheitert, sondern wurde sogar zum Trageesel und Futter des Monsters der Moderne. Die Sowjetunion und China sind die deutlichsten Beispiele dafür. Die Chinesen sind interessante Menschen. Sie haben versucht, Kapitalismus und Sozialismus zusammen umzusetzen. Das ist durchaus möglich. In der Praxis hat China jedoch den Sozialismus in den Dienst des Kapitalismus gestellt. Das Ergebnis ist, dass der Kapitalismus davon profitiert und seine Lebensdauer verlängert hat. Heute befindet sich der chinesische Kapitalismus in einem Hegemonialkampf mit den USA. Die USA könnten darauf mit Gewalt reagieren. Das würde einen Atomkrieg bedeuten. Das hieße: Weltuntergang. Einstein sagte einmal: „Wenn es zu einem dritten Weltkrieg mit Atomwaffen kommt, wird der vierte Weltkrieg mit Steinen und Knüppeln geführt werden, falls dann noch jemand am Leben ist.“ Er hatte Recht. Für diesen Abschnitt reicht es aus, auf diese Dinge recht allgemein einzugehen.

5 – Die Realität der Kurden und Kurdistans

Der Charakter einer Sache entsteht durch die Dialektik ihrer Existenz und ihres Fortbestehens. Wie ist die Sache entstanden und wie hat sie sich entwickelt? Die Antworten auf diese Fragen liefern Informationen über ihren Charakter, ihre Existenz oder Nicht-Existenz. Aus dieser Perspektive betrachtet, war die kurdische Realität ein mit der Moderne zu Ende gegangenes Phänomen. Sowohl der Begriff als auch die Realität der Kurden und Kurdistans wurden mit der Gründung der Republik zerstört und verdeckt. Mit Aussagen wie „Das imaginäre Kurdistan ist hier begraben“ bekannten sie sich sogar zu dieser Zerstörung. In den anderen Teile Kurdistans war das nicht anders. Es gab keine Realität mehr, die im Namen der Kurden und Kurdistans existierte. Der wichtigste Erfolg der PKK als moderne Bewegung ist es, diese Realität wiederbelebt zu haben. Die PKK hat die Existenz der Realität der Kurden und Kurdistans bewiesen und sie unbesiegbar gemacht. Andere kurdische Bewegungen verfügen nicht über eine solche Kraft. Traditionelle Bewegungen wie die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) und kleinbürgerliche Bewegungen wie die Patriotische Union Kurdistans (YNK) vermochten es nicht einmal, jemanden von ihrer eigenen Existenz zu überzeugen. Ohne das Aufkommen der PKK wären sie alle schon vor 30 Jahren untergegangen.

Der große Widerstand der PKK hat die Existenz der Kurden und Kurdistans dauerhaft gesichert. Er hat ein starkes Bewusstsein für die kurdische Existenz geschaffen. Um zu verstehen, dass dies gelungen ist, müssen historische und soziologische Untersuchungen angestellt werden. Vor 52 Jahren, einem Monat und vier Tagen habe ich mich mit den Worten „Kurdistan ist eine Kolonie” auf den Weg gemacht. Als ich das aussprach, wurde ich ohnmächtig. Das war eine schwierige Erkenntnis für mich. Ich traute mich kaum, sie auszusprechen. Als ich es ein oder zwei Freunden erzählte, wurde ich ohnmächtig. Von dort sind wir bis heute gelangt. Unterschätzt nicht die Kraft der Worte. Wenn Worte der Wahrheit entsprechen, sind sie äußerst wirkungsvoll, kreativ und richtungsweisend. Diese Worte haben nicht nur den Weg für den praktischen Widerstand geebnet, sondern auch zu einer umfassenden historischen Analyse geführt, gefolgt von einer Interpretation der neolithischen Revolution, der Ideologie der Freiheit der Frau, einer Vertiefung im Bereich des Sozialismus usw. All dies diente dazu, die kurdische Realität sichtbar zu machen und die kurdische Aufklärung voranzutreiben. Und das haben wir geschafft. Diese große historische Reise, die soziologische Analyse und der politische Kampf haben die Realität der Kurden und Kurdistans bewiesen und sowohl Freunde als auch Feinde dazu gebracht, dies anzuerkennen. Das ist ein großer Erfolg. Die PKK ist der Name dieses Erfolgs.

Wurde die Freiheit erreicht? Nein, denn obwohl die Existenz der Kurden bewiesen wurde und sie ein ideologisches und organisatorisches Bewusstsein erlangt haben, kam es auf dem Weg zur Freiheit zu einer Blockade. Hinter dieser Blockade stehen die realsozialistische Ideologie und ihre Auswirkungen. Im 20. Jahrhundert übernahm der Sozialismus in vielen Teilen der Welt die Staatsmacht und beherrschte ein Drittel der Welt. Doch er konnte sich nicht halten und brach zusammen. Das schlug auch bei uns als Krise nieder. Der Realsozialismus brach zusammen, wir hielten die Stellung, durchlebten aber auch eine große Krise. Der Realsozialismus brach zusammen, weil er seine theoretischen Widersprüche nicht überwinden konnte und keinen freiheitlichen Sozialismus entwickelte. Es ist schwierig, aus einer ideologischen Krise herauszukommen. Die ideologischen Argumente, auf die wir uns gestützt hatten, waren zusammengebrochen. Auf welchen konzeptionellen Rahmen, auf welche soziologische Analyse sollten wir uns nun stützen? Vom Realsozialismus ist kaum etwas übrig geblieben. Während ich mit bloßen Händen den Glauben an den Sozialismus aufrechterhielt, kam ich zu der Erkenntnis: „Auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet, auf das Menschsein zu bestehen.“ Ich habe meinen Glauben an den Sozialismus und meine Verbundenheit mit ihm bewahrt. Ich habe den Kampf aufgenommen, um dies in ein Bewusstsein zu verwandeln. Es waren schwierige, turbulente Jahre. Als wir uns den 2000er Jahren näherten, begannen wir einen neuen Prozess der Vertiefung und Analyse. Die demokratische Nation ist eines der strategischen Ergebnisse dieser Analysen und hat der sozialistischen Perspektive neues Leben eingehaucht. Dies stellt sowohl für die sozialistische Perspektive als auch für die PKK eine strategische Wende dar. Heute wird dieser Wende ein Name gegeben und sie erhält einen offiziellen Rahmen. Seit 20 Jahren versuchen wir, diese Wende erfolgreich abzuschließen. Die Lösung der demokratischen Nation wird die Grundlage für den kommenden Prozess bilden. Die Lösungsperspektive der demokratischen Moderne ist die demokratische Nation. In unserem Aufruf haben wir von Frieden und einer demokratischen Gesellschaft gesprochen. Beides bedeutet dasselbe.

Die PKK ist eine Bewegung, die die Realität Kurdistans sichtbar macht und ihre Existenz unzerstörbar macht. Der nächste Schritt ist die Erlangung der Freiheit. Die freie Gesellschaft wird auf der Grundlage der Kommunalität und entlang einer moralisch-politischen Ausrichtung Gestalt annehmen. Die Verwirklichung dieses Schrittes scheint mit der PKK nicht möglich zu sein. Was wäre vom kurdischen Volk und Kurdistan ohne die PKK übrig geblieben? Eine Kultur, die der Vergangenheit angehört, wie die der Inkas und Azteken in Lateinamerika oder der amerikanischen Ureinwohner in Nordamerika.

Tatsächlich ist diese Situation noch immer nicht vollständig überwunden. Die Kurden in Dersim, Çewlîg und Zagros sind ein kulturelles Relikt. Aufgelöste Stämme, eine nicht mehr funktionierende Sprache, Überreste von Glaubensgemeinschaften, Stammes- und Familienfehden ... Der Grund, warum diese Situation trotz der Existenz der PKK noch immer nicht in dem gewünschten Maße überwunden werden konnte, liegt in der tiefen historischen sozialen Zersplitterung. Ab einem bestimmten Punkt hielt ich es auch nicht mehr für ausreichend, dies als Kolonialismus zu bezeichnen. Es handelt sich um eine Situation, die den Kolonialismus übersteigt. Eine Art Müllhalde. Eine Müllhalden-Gesellschaft, ein Friedhof. In Dersim liegen noch immer Knochen in Tälern, Höhlen und Bächen. Selbst die Gräber der jüngsten Vertreter der Tradition sind unbekannt. Dazu gehören Şêx Seîd, Said-i Kurdi und Seyit Rıza. Sie waren die mächtigsten traditionellen kurdischen Führer.

Es gab die sogenannten Judenräte, die eine Rolle beim Völkermord an den Juden spielten. Diese bestanden aus Gruppen oder Familien von Juden, die mit den Faschisten kollaborierten. Als Gegenleistung für ihre Zusammenarbeit verschafften sie sich und ihren Familien 24 Stunden mehr Leben, indem sie andere Juden in die Gaskammern schickten. Diese Komitees wurden als notwendig betrachtet, um das Funktionieren des Völkermordsystems sicherzustellen. Sie lockten die Juden mit der Lüge „Wir bringen euch in ein Badezimmer“ in die Gaskammern. Je nach der Anzahl der geforderten Personen erstellten diese Komitees eine Liste der zu deportierenden Personen. Die Komitees wurden von den Faschisten gegründet. Als ich über dieses Thema nachdachte, stellte ich fest, dass die kurdische Realität der der Judenräte gleicht. Das ist die kurdische Realität, die ich als postkolonial bezeichne. Die Familien, die am meisten von sich halten – die Barzanîs, die Bedirxanîs, ja sogar einige der hinterbliebenen Enkel von Şêx Seîd und von Seyit Rıza – sind zu Judenräten geworden. Um ihre Familien zu retten, vernichten sie die kurdische Existenz. Sie haben nicht einmal ein Buch geschrieben. Sie sind nicht einmal in der Lage, das Andenken ihrer Großväter zu bewahren. Sie sind den freien Kurden feindlich gesinnt. Zuletzt wurden ein Parlamentsmandat in Bedlîs (tr. Bitlis) und ein Bürgermeisteramt in Şirnex (tr. Şırnak) an Bedirxanîs vergeben. Das sind Aufgaben des Judenrats. Ich habe diese These in letzter Zeit weiterentwickelt und bin von ihrer Richtigkeit überzeugt. Ich bin der Meinung, dass dieser Begriff die erschreckende Realität besser beschreibt als die Bezeichnungen „kolonialisierte Kurden" und „kolonialisiertes Kurdistan”. Dies ist eine neue Dimension meiner begrifflichen Arbeit. Sie kann die Ereignisse in Kurdistan und unter den Kurden anschaulicher und realistischer zum Ausdruck bringen.

Unter den Kurden besteht gleichzeitig eine enorme Flucht vor der Realität. Vergessen wir nicht, dass ihr diese Flucht immer noch durchlebt. Das Kurdische findet bei euch in Form dieser Flucht Ausdruck. Ich habe einen bestimmten Führungsstil gegenüber den Kurden. Ich habe mich bemüht und bemühe mich weiterhin, ihnen zu vermitteln, was diese Flucht bedeutet und wie sie sie beenden können. Ich lehre sie und lasse sie auch für diese Flucht bezahlen.

Das ist meine Art zu führen. Du kannst dich nicht vor dem Kurdischsein verstecken. Das Kurdischsein ist nichts, wovor man weglaufen kann. Ihr greift zu unglaublichen Tricks, macht Saltos und versucht, mich zu täuschen. Das Gleiche habe ich dem Staat auch gesagt. Ihr könnt mich nicht täuschen! Was auch immer ihr tut, ihr habt es nicht mit einem Apo zu tun, den man täuschen kann. Das sage ich der PKK und euch seit 50 Jahren. Ihr könnt mich zum Messias oder zum Monster machen, wie ihr wollt, ihr werdet mich nicht los. Die Führung besteht seit 50 Jahren auf diese Art und Weise.

Warum hat der Staat diesen Tisch eingerichtet? Und warum konnten wir euch an diesem Tisch zusammenbringen? Dies ist ein bedeutendes Treffen. Es ist ein kurdisches Treffen, und wir kommen aus einer Zeit, in der der Staat schon allein das Wort „Kurdisch“ mit schwersten Strafen belegte. Das hat vielfältige Bedeutungen. Wir überlegen, wie wir das umsetzen können. Ich weiß am besten, wie wir hierhergekommen sind und wie dafür gekämpft wurde. Selbst unsere besten Kader sind noch weit davon entfernt, das zu verstehen. Deshalb gelingt es ihnen nicht, kreativ zu sein. Sie schaffen es nicht, eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie scheuen nicht davor zurück, ihr Leben zu geben, aber sie wollen sich nicht der Wahrheit stellen. Dahinter steht die Tatsache, dass die kurdische Realität nicht einmal Kolonialismus ist, sondern eher einer Müllhalde gleicht.

Auch Afrika wurde kolonialisiert. Aber inzwischen sind dort Nationalstaaten entstanden. Das Gleiche gilt für Lateinamerika. In der kurdischen Realität gibt es so etwas jedoch nicht. Es ist unklar, was die Kurden sind. Sind sie traditionell oder modern? Sie sind gewissermaßen zu einer tragischen Realität geworden. Und das ist nicht, wie man meinen könnte, das Ergebnis äußerer Zwänge, sondern hat innere Ursachen. Die von mir entwickelten Strategien und Taktiken spielen eine entscheidende Rolle dabei, dies zu entschlüsseln.

In Bezug auf die Geografie Kurdistans verwendeten erstmals die Sumerer Begriffe wie „Kurden“, „Hurriter“ oder „Bewohner von Ur“. Dies war die erste räumliche Definition. Zu einer Zeit, in der es nirgendwo auf der Welt eine Definition für ein Land gab, wurde dieser Ort erstmals von den Sumerern benannt. Später tauchte er in der griechischen Geschichtsschreibung als „Kurdia“ auf. Fast die Hälfte von Herodots Geschichtswerk befasst sich mit der Realität Kurdistans. Die griechische Gesellschaft eiferte den Medern nach. Sie ahmten die Meder nach. Sogar ihre Demokratie leiteten sie von den dort vorherrschenden Empfindungen ab. Im Mittelalter, mit der arabisch-islamischen Revolution, etablierte sich der Begriff „Kurden” vollständig. Die Seldschuken machten den Begriff „Kurdistan” erstmals zu einer politischen Gegebenheit. Sultan Sencer bezeichnete das Zentrum seines Reiches als Hemedan (Ekbatana) und das Land, dessen Zentrum Ekbatana war, als Kurdistan. Kurdistan wurde somit erstmals unter Sultan Sencer als Name einer Verwaltungseinheit erwähnt. Der türkische Herrscher baute Kurdistan auf. Daraus schließe ich: War der seldschukische Sultan vielleicht ein kurdischer Sultan? Sein Zentrum lag in Ekbatan und er sagte zu seinem Wesir Nizām al-Mulk: „Geh und beschütze meine Familie.” Er fügte sogar hinzu: „Wenn ich besiegt werde, werden wir uns nach Hemedan zurückziehen.“

Auch die Schlacht von Milazgir (tr. Malazgirt) wurde von Hemedan aus geführt. Das bedeutet, dass Alparslan als kurdischer Emir kämpfte. Dies ist ein Hinweis auf ein neues Geschichtsverständnis. Alparslan war eher ein kurdischer Emir als ein türkischer. Seine Familie lebte in Hemedan und auch sein Wesir war dort. Wie sollen wir die Seldschuken vor diesem Hintergrund nun bewerten? Handelte es sich um ein türkisches oder ein kurdisches Emirat? Dies muss noch weiter untersucht und diskutiert werden. Es entsteht der Eindruck, dass es sich dabei überwiegend um eine kurdische Führung handelte. Heute sind etwa die Hälfte der Einwohner von Hemedan Türkmenen. Mittlerweile sind sie jedoch überwiegend kurdisiert.

Besonders bemerkenswert sind die Emirate der Marwaniden (ku. Merwaniyan) und Schaddadiden (ku. Şedadiyan). Die Marwaniden stehen für die Kurdisierung der Region zwischen Euphrat und Tigris. Diese Entwicklung ging mit der Verbreitung des Islam einher. Ähnliches war bei den Seldschuken der Fall. Alparslan Merwanî nahm die Streitkräfte des Emirats Merwanî auf seine Seite und kämpfte mit einer gemeinsamen Streitmacht in Milazgir gegen Byzanz. Alparslan war ein militärischer Befehlshaber, der von Kurden umgeben war. Ahlat war ebenfalls ein Emirat. Wären die Kurden damals mit Byzanz verbündet gewesen, hätte Alparslan den Krieg nicht gewinnen können. Der Krieg wurde zu hundert Prozent dank einer Allianz mit den Kurden gewonnen. Ab 1050–1060 schlossen die Schaddadiden und die Seldschuken im Süden des Kaukasus ein festes Bündnis. Gegen die Byzantiner hätten weder die Schaddadiden allein bestehen können noch hätten die Seldschuken etwas ausrichten können. Die beiden schlossen ein historisches Bündnis. Das erste Ergebnis dieser Allianz war ein Feldzug gegen das von Byzanz regierte Königreich Armenien im Jahr 1064, bei dem Ani und Qers (tr. Kars) erobert wurden. Nach diesem Krieg wurde Ani an Manutschehr und Qers an Tuğrul¹³ übergeben. Als Relikt aus dieser Zeit steht in Ani noch heute die Manutschehr-Moschee.

Die Allianz zwischen Yavuz Sultan Selim und Idris-i Bitlisi war von großer Bedeutung. Die Kriege von Ridaniye, Mercidabık und Çaldıran, die eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Osmanischen Reiches im Mittleren Osten spielten, waren das Ergebnis dieser kurdisch-osmanischen Allianz. Die Kurden waren eines der wichtigsten Gründungselemente des Reiches.

Nachdem sein Vater gefangen genommen worden war, floh Çelebi Mehmet. Er wurde von Amasyalı Beyazıt Pascha auf die Schultern genommen und nach Amasya gebracht. Auch er war vermutlich ein kurdischer Pascha. Dies könnte ein symbolträchtiges Ereignis gewesen sein. Zu dieser Zeit war in Amasya der Zweig der Kutluşahs der Schaddadiden die herrschende Familie. Çelebi Mehmet war der Pascha, der das Osmanische Reich aus der Zeit des Osmanischen Interregnums herausführte. Mele Guranî, der die Eroberung Istanbuls vorantrieb, und Akşemsettin waren ebenfalls Kurden. Über den Unabhängigkeitskrieg muss ich gar nicht erst sprechen. Mustafa Kemal begann diesen Krieg nicht in Izmir oder Thrakien, sondern in kurdischen Gebieten wie Erzurum und Silvan. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass der Unabhängigkeitskrieg durch die Allianz zwischen Kurden und Türken gewonnen wurde. Das Ergebnis ist die uns bekannte Republik Türkei. Die Kurden, die die eigentlichen Gründer der Republik waren, wurden jedoch bereits ein Jahr nach ihrer Gründung ignoriert und die kurdische Identität verboten. Somit werden die Kurden, deren Existenz seit den Sumerern in historischen Aufzeichnungen belegt ist, seit der Gründung der Republik ignoriert.

Die PKK hat diese Leugnung durch ihren großen Widerstand zunichte gemacht. Sie hat die historische und gesellschaftliche Realität der kurdischen Identität ans Licht gebracht und sowohl Freunde als auch Feinde dazu gebracht, dies anzuerkennen. Doch die Folgen dieser Leugnung sind bei euch noch nicht vollständig überwunden. Ihr flieht immer noch vor eurer eigenen Realität. Ich erkenne in eurer Identität und Persönlichkeit eine solche Gefahr. Ich sehe keine gesunde, gefestigte Identität und Persönlichkeit in euch, ich kann sie nicht erkennen. Das kann nicht allein durch Widerstand erreicht werden. Bei der Errichtung des Neuen werden eine revolutionäre Kultur, der Aufbau demokratischer Institutionen, Institutionen der demokratischen Nation, Forschungs- und Untersuchungseinrichtungen sowie Sprachinstitutionen eine entscheidende Rolle spielen. Das ist mit dem Kapitalismus nicht möglich. Die kurdische Gesellschaft muss antikapitalistisch sein. Die Kurden werden sich durch eine demokratische Nation, Öko-Ökonomie und Kommunalität befreien und ein dauerhaftes Leben aufbauen und festigen. Dies wird selbstverständlich durch den Kampf um den Aufbau und die eigene Existenz erreicht. Der Widerstand gegen äußere Einflüsse und Druck von außen ist ebenfalls gelungen. Ein Grund dafür, dass die PKK ihre Rolle erfüllt hat, ist, dass sie den Widerstand gegen äußere Einflüsse erfolgreich geführt hat. Von nun an wird sich der Widerstand und Kampf nach innen richten. Die kommende Zeit wird eine Zeit des Selbstaufbaus sein. Das erfordert Frieden und eine demokratische Gesellschaft. Wir stehen nun an einem Scheideweg.

6 – Die PKK und die Auflösung

Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus zu Beginn der 1990er Jahre verlor die PKK ihre ideologische Grundlage. Denn sie hatte sich nach den Prinzipien des realsozialistischen Kampfes organisiert. Ihr Programm, ihre Strategie, ihre Taktik usw. waren nach realsozialistischen Prinzipien gestaltet. In diesem Sinne geriet die PKK in den 90er Jahren in eine ideologische Krise. Trotz dieser Krise blieb sie jedoch bestehen. Und zwar durch ihre sozialistisch geprägte Linie der nationalen Befreiung. Die Neuheit und Entwicklung unserer Bewegung sowie die Notwendigkeit und Motivation für die nationale Befreiung hielten sie am Leben. In diesem Sinne machten wir weiter und sorgten dafür, dass es weiterging.

Wir wussten, dass der Realsozialismus überwunden war, aber wir wussten nicht, was wir an seine Stelle setzen sollten. Deshalb durchlebten wir zwischen 1990 und 2000 eine ideologische Krise. 1998 sagte ich: „Ich trete aus einer solchen Partei aus.” Der Grund dafür war, dass es uns nicht gelungen war, die ideologische Krise in der Partei zu überwinden. Im Rahmen der Imrali-Phase begannen wir einen umfassenden Prozess der Vertiefung, in den wir all diese Probleme einbezogen. Diese Vertiefung mündete in ein fünfbändiges Werk.¹⁴ So definierten wir beispielsweise die Strategie des sozialistischen Kampfes neu. Damit schufen wir ein wichtiges Werk für die ideologische und strategische Neugestaltung.

Wir werden die PKK intern stark kritisieren und Selbstkritik üben. Der 50-jährige Kampf wird einer umfassenden Kritik und Selbstkritik unterzogen, die positive wie negative Aspekte berücksichtigen wird. Die Stagnation des Sozialismus ist ein allgemeines Phänomen, und es gibt eine Suche nach Auswegen. Aber die Krise hält an. Unsere Analysen des Sozialismus stoßen auch außerhalb des Landes in einigen sozialistischen und intellektuellen Kreisen auf Interesse und werden als aufschlussreich empfunden.

Die Frage der Auflösung ist für uns kein neues Thema. Als ich eine solche Forderung auch auf staatlicher Ebene wahrnahm, habe ich reagiert. Ich erklärte, dass ich über die notwendige ideologische und politische Erfahrung sowie das nötige praktische Gewicht verfüge, um dieses Problem zu lösen. Tatsächlich beschäftigen wir uns seit sechs Monaten mit diesen Fragen und haben sie kontinuierlich vorangebracht. Es besteht kein Grund, hier weiter ins Detail zu gehen. Es ist jedoch notwendig, erneut eine gründliche interne Kritik und Selbstkritik durchzuführen – insbesondere, wenn es zu einem Auflösungskongress kommen sollte. Dieser Kongress könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Das Problem ist auch nicht allein die Auflösung. Monatelang muss über all ihre positiven und negativen Aspekte diskutiert werden. Es ist nicht notwendig, sofort etwas Neues an dessen Stelle zu setzen oder von einer Neustrukturierung zu sprechen. Denn hier geht es nicht nur um eine Struktur. Wir sprechen von einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit und Mentalität. Eine Neustrukturierung ist nur auf diese Weise möglich. Dafür werden sicherlich einige Monate nötig sein. Der Prozess muss gesund verlaufen und zu einem Ergebnis führen, daher darf nichts überstürzt werden. Die Regierung oder der Staat wollen dies jedoch als sofortige Entwaffnung präsentieren. Das so darzustellen, ist jedoch nicht richtig. Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen. Unsere Forderung und unser Versprechen sind der Beginn einer neuen Ära. Das wird jedoch nicht so geschehen, wie sie es wollen. Unsere theoretischen und politischen Ansätze in dieser Frage sind sehr ausgereift und wir haben bereits Erfahrungen gesammelt. Es kann nicht behauptet werden, dass wir Schwierigkeiten haben werden, die Auflösung der PKK zu bewerten, diesen Konflikt zu lösen und gar einen Kongress zur Auflösung durchzuführen. Wie ich bereits sagte, laufen die Umwandlungsbemühungen schon seit langer Zeit.

7 – Perspektiven für die neue Periode

Die PKK entstand und entwickelte sich als eine Bewegung auf der Grundlage der realsozialistischen Ideologie und des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Entsprechend waren ihre Kampfstrategie und -taktik ausgerichtet. Das Ziel eines vereinigten, unabhängigen Kurdistans war grundlegend. Wir hatten dieses Ziel als Credo des Sozialismus übernommen. Als wir jedoch sowohl den Zusammenbruch des Realsozialismus als auch die Realität der im Zuge dessen entstandenen Nationalstaaten analysierten, stellten wir fest, dass dieses Modell weder mit dem Sozialismus noch mit der Befreiung der Nation zu tun hatte. Im Gegenteil: Obwohl es auf einer sozialistischen Perspektive aufgebaut war, diente es dem Nationalstaatskapitalismus. Dieses Modell ist kapitalistisch.

Das ist der Grund, warum wir uns intensiv mit der sozialistischen Ideologie beschäftigen und versuchen, sie zu demokratisieren. Eigentlich ist es nicht ganz richtig, den Sozialismus als demokratisch zu bezeichnen. Denn Sozialismus muss zwangsläufig demokratisch sein. Der Realsozialismus ist jedoch darauf ausgerichtet, die Staatsmacht zu übernehmen, den Staat zu proletarisieren und eine Diktatur des Proletariats zu errichten. Deshalb ist sein demokratischer Kern schwach. Aus diesem Grund haben wir es für notwendig erachtet, den Begriff demokratischer Sozialismus zu verwenden.

Der Nationalstaat ist von Natur aus autoritär. Es mag einen politischen Unterschied machen, ob die Macht in den Händen des Proletariats oder der Bourgeoisie liegt, in Bezug auf die von ihm geschaffene Herrschaftskultur jedoch nicht. Auch der Klassenkampf gegen die Klasse ist falsch. Er vertieft nur die klassenbasierte Spaltung der Gesellschaft. Anstelle des Klassenkampfes gegen die Klasse setzen wir auf den Widerspruch zwischen Staat und Kommune. Der Nationalstaat steht im Widerspruch zum Sozialismus und korrumpiert ihn. Aus diesem Grund haben wir sowohl die Idee als auch das Ziel des Nationalstaates grundlegend verändert. An seine Stelle haben wir die demokratische Nation gesetzt.

Unsere Perspektive für die neue Periode ist der Wiederaufbau der Gesellschaft auf der Grundlage der demokratischen Nation, der Öko-Ökonomie und des Kommunalismus. Die vor uns liegende Aufgabe besteht nun darin, die philosophischen Grundlagen dieses Aufbaus, seine ideologischen Dimensionen und den für seine Verwirklichung in einer detaillierten gesellschaftlichen Struktur erforderlichen konzeptionellen und theoretischen Rahmen zu entwickeln. Im weiteren Verlauf unserer Arbeit werden wir all diese Themen unter Haupt- und Zwischenüberschriften behandeln. In diesem Zusammenhang werden wir versuchen, sowohl den programmatischen als auch den strategisch-taktischen Rahmen zu bestimmen.

Mit unserem letzten Aufruf haben wir uns für Frieden und eine demokratische Gesellschaft ausgesprochen. Es ist interessant und wichtig, dass diese Erklärung mit Genehmigung des Staates der Republik Türkei abgegeben wurde. Denn Frieden kann nur mit dem Staat erreicht werden, gegen den man kämpft. Eine demokratische Gesellschaft kann nur im Dialog mit diesem Staat aufgebaut werden. Das nennt man demokratischen Konsens. Das war auch Teil unseres Aufrufs.

Zweifellos können die Absichten der verschiedenen Seiten unterschiedlich sein. Aber der unternommene Schritt bzw. der gemachte Aufruf ist im Wesentlichen richtig. Die Lage der verschiedenen Seiten zeigt ebenfalls, dass dies richtig ist. Aus meiner Sicht ist der Kongress längst abgeschlossen. Unsere Kaderkräfte werden dies jedoch ebenfalls auf die Tagesordnung setzen und damit offiziell machen. Ich glaube nicht, dass es dabei Probleme geben wird. Wichtiger ist, dass wir die ideologischen Grundlagen, das praktische Programm sowie die strategischen und taktischen Dimensionen für die Zukunft entwickeln. Die demokratische Gesellschaft ist das politische Programm dieser Epoche. Sie zielt nicht auf den Staat ab. Die Politik der demokratischen Gesellschaft ist demokratische Politik. Die Kommune selbst ist eine demokratische Kommune. Es wäre falsch, diese voneinander zu trennen. Die kommunale Gesellschaft ist demokratisch. Die heutige Gesellschaft muss als demokratische Gesellschaft bezeichnet werden. Demokratischer Sozialismus bedeutet auch demokratische Gesellschaft. So wie der Staat eine Geschichte hat, hat auch die Kommune eine Geschichte. Das Thema Kommune interessiert mich sehr. Aufgrund seiner Bedeutung werden wir uns ausführlich damit befassen. Die Kommune ermöglicht ein freies Leben der Völker. So wie der Nationalstaat eine Waffe des Kapitalismus ist, ist die Kommune das Gründungsprinzip und die Waffe der Völker. Diese kommunale Gesellschaft kann über die Kommunalverwaltungen organisiert werden. Dies ist theoretisch und praktisch möglich. Allerdings ist das nur mit Sorgfalt und einem echten antikapitalistischen Kampf zu erreichen. Wenn die Gründungskader jedoch unsicher sind und ihre Willenskraft beeinträchtigt ist, wird dies nicht gelingen.

Wir legen großen Wert darauf, dies zunächst gemeinsam mit der Republik Türkei zu erreichen. Die bisherigen Gespräche haben uns an diesen Punkt gebracht. Das ist eine wichtige Etappe. Vielleicht stellen diese Treffen bereits die Hälfte der Lösung dar. Danach werden noch weitere intensive und wertvolle Anstrengungen erforderlich sein. Ich habe großes Vertrauen und große Hoffnung, dass wir Erfolg haben werden. Ein Erfolg wird nicht nur für die Kurden und Kurdistan, sondern für die gesamte Region von großer Bedeutung sein. Er wird sich auch auf Syrien, den Iran und den Irak auswirken. Für die Republik Türkei wird die Chance entstehen, sich zu erneuern, die Demokratie zu festigen und eine Führungsrolle in der Region zu übernehmen.

Ich kann sagen, dass die Gegner dieses Prozesses wertlos sind. Sie werden verlieren. Dies zu bewältigen, bedeutet jedoch auch Verantwortung für alle Seiten. Dieser Prozess wird neben regionalen auch internationale Folgen haben. Eine Konföderation in der Region wird zur absoluten Notwendigkeit. Der israelisch-palästinensische Konflikt, konfessionelle Konflikte sowie Widersprüche zwischen Nationalstaaten können nur durch den demokratischen Konföderalismus gelöst werden.

Für diese Lösung wird auch eine neue Internationale benötigt. Es ist richtig und historisch geboten, ohne Verzögerung internationale Arbeiten mit unseren Freundinnen und Freunden auf der ganzen Welt aufzunehmen.

Abdullah Öcalan

25. April 2025


¹ Vom 5. bis 7. Mai 2025 fand der 12. Parteikongress der Arbeiterpartei Kurdistans statt. Im Vorfeld hatte Abdullah Öcalan die Gelegenheit, der PKK den vorliegenden Text zukommen zu lassen. Dieser stellt eine Art Einführung in einen längeren Text bzw. ein Buch dar, an dem Öcalan aktuell auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali arbeitet. Dessen Struktur und Inhalte geben einen ersten Einblick in die Überlegungen, die er auf Basis seines Paradigmas der demokratischen Moderne aktuell anstellt. Die vorliegende Übersetzung ist als vorläufig zu verstehen. Sobald der gesamte Text verfügbar ist, wird es möglich sein, die Ideen Abdullah Öcalans in ihrer Gesamtheit auch in anderen Sprachen den demokratischen Kräften der Welt und der breiten internationalen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wer bereits jetzt daran interessiert ist, Abdullah Öcalans Analyse und Vorschläge besser zu verstehen, sei auf die bereits auf Deutsch erhältlichen Bände des Manifests der demokratischen Zivilisation verwiesen.

² Anhand des türkischen Originals ist erkennbar, dass es sich bei dem vorliegenden Text sehr wahrscheinlich um ein Transkript mündlich geäußerter Überlegungen Abdullah Öcalans handelt. Der entsprechende Sprachstil wurde auch in der deutschen Übersetzung beibehalten.

³ Die Naqschbandīya, auch Nakschibendi oder Nakschinbandi, ist ein Sufi-Orden des Islam, der im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer ist Baha-ud-Din Naqschband (1318–1389) aus Buchara (heute Usbekistan). Viele Führungspersönlichkeiten des türkischen Staates sowie der Regionalregierung Kurdistans sind ebenfalls Anhänger der Naqschbandīya.

Apo ist die Kurzform von Abdullah; Die gängige Bezeichnung Abdullah Öcalans als „Rêber Apo“ beschreibt ihn als Anführer bzw. Wegbereiter Apo.

Al-Ghazālī (1058–1111): Abū Ḥāmid al-Ghazālī war ein einflussreicher islamischer Theologe der sunnitischen Orthodoxie. Er wird für den Niedergang der Philosophie im islamischen Osten (im Gegensatz zum islamischen Spanien, wo sie aufblühte) verantwortlich gemacht.

Kalām (arabisch كلام „Rede“ oder „Gespräch“) bezeichnet im Islam die Wissenschaft, die es ermöglicht, Glaubenslehren rational zu begründen und Zweifel auszuräumen; die Gelehrten, die diese Disziplin praktizierten, wurden Mutakallimūn genannt.

Ibn Ruschd (Averroes, 1126–1198) war ein einflussreicher islamischer Philosoph, der die aristotelische Philosophie verteidigte und die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft betonte; seine Aufforderungen zur Nutzung der Vernunft führten zu Konflikten mit al-Ghazālī und hinterließen einen nachhaltigen Einfluss auf die westliche Philosophie.

Schia: manchmal auch Schiismus, ist nach dem Sunnitentum die zweitgrößte religiöse Strömung innerhalb des Islams.

Im ersten Band von Öcalans Werk „Manifest der demokratischen Zivilisation“ spricht der Autor davon, dass die Lautsprache vor ca. 50.000 Jahren entstanden ist. Dies entspricht auch allgemeinhin akzeptierten historischen Forschungen.

¹⁰ Das kurdische Wort „Kom“ bedeutet auf Deutsch „Gruppe“ oder „Vereinigung“. Es wird oft verwendet, um eine Gemeinschaft oder eine Ansammlung von Menschen zu beschreiben, die zusammenkommen oder eine gemeinsame Identität teilen.

¹¹ Der Fall der achtjährigen Narin, die am 21. August in Çûlî (tr. Tavşantepe) verschwand und 19 Tage später in einem Sack in einem kleinen Fluss nahe ihres Zuhauses gefunden wurde, erschütterte das ganze Land. Die Obduktion ergab, dass sie am Tag ihres Verschwindens erstickt wurde, wobei sowohl Druck auf ihren Hals als auch das Verschließen von Mund und Nase zur Todesursache führten. Eine eindeutige Klärung, ob Narin auch Opfer sexueller Gewalt wurde, war aufgrund des schlechten Zustands ihres Körpers nicht möglich.

¹² Mele Guranî (auch Molla Gurani) war ein Mufassir (Koranexeget) und osmanischer Administrator kurdischer Herkunft im 15. Jahrhundert. Nach dem Tod von Murad II. wurde er unter Mehmed II. zum obersten Richter des Osmanischen Reiches ernannt. Er war Teil von Mehmeds Rat während der Eroberung Konstantinopels und verfasste einen Bericht über diese. Im Jahr 1480 wurde er Mufti von Istanbul (Scheich al-Islam) und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1488 in dieser Position.

¹³ Tughrul-Beg, auch Toghril (* um 990; † 4. September 1063 in Tadschrisch bei Rey) war der erste Sultan der Seldschuken.

¹⁴ Hier ist Abdullah Öcalans fünfbändiges „Manifest der demokratischen Zivilisation“ gemeint. Band I-IV erschienen im Unrast-Verlag.