Nicht nur über die Ägäis, auch über den Grenzfluss Mariza (Evros) versuchen Flüchtlinge, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Immer wieder kommen dabei Menschen ums Leben, die dann auf dem nahegelegenen „Friedhof der Illegalen“ begraben werden.
Bei dem Versuch, am Morgen des 24. März aus der Türkei zu fliehen, kenterte im Fluss Mariza das Boot des Studenten Mahir Mete Kul. Seitdem fehlt von dem 21-Jährigen jede Spur. Sein Freund Sadık Şenbaba, der auch im Boot saß und es ans Land schaffte, rief die Mutter des vermissten Studenten direkt nach dem Vorfall an und erklärte ihr, dass ein Baumast das Schlauchboot durchbohrt und es zum Sinken gebracht habe. Der Schlepper, der noch versucht haben soll, Mahir Mete Kul zu helfen, habe sich auf die andere Seite des Flusses retten können. Von dort aus rief er Şenbaba zu, gesehen zu haben, dass Mahir Mete Kul ertrunken sei. Ünzile Araz, Mutter von Mahir Mete Kul, fordert nun Aufklärung durch die Behörden.
Weder die Verantwortlichen auf der türkischen noch auf der griechischen Seite hatten sich zunächst genötigt gefühlt, eine Suche zu starten. Erst durch medienwirksame Aktionen konnten die Verantwortlichen beider Seiten so weit unter Druck gesetzt werden, dass zunächst doch nach Mahir Mete Kul gesucht wurde. Bis dahin waren allerdings schon ein Tag auf türkischer und zwei Tage auf griechischer Seite vergangen. Mittlerweile wurden die Suchaktionen gänzlich eingestellt.
Mahir Mete Kul studierte an der Istanbuler Beykent-Universität Informatik. Im Jahr 2017 wurde er wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt, weil er sich an Kundgebungen und Presseerklärungen gegen Privatisierung im Bildungswesen der Schüler*innen-Fraktion der Dev-Genç/Revolutionäre Jugend beteiligt haben soll. Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage auf Aussagen eines anonymen Zeugen, der den Informatikstudenten belastete. Im November 2018 wurde Mahir Mete Kul nach zehn Monaten im Gefängnis aus der Untersuchungshaft entlassen, an die Universität durfte er jedoch nicht zurück. Auch sein Reisepass wurde dem 21-Jährigen entzogen, der kurz vor seiner Inhaftierung Schach-Meister von Istanbul wurde.
Seine Mutter Ünzile Araz, eine Aktivistin der linken Gefangenehilfsorganisation TAYAD, floh vor rund fünf Monaten aus der Türkei, nachdem sie zuvor zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Sie sagt: „Mir und meinem Sohn wurde die Lebensgrundlage in der Türkei genommen. Schuld an diesem Ereignis sind Faschismus und Unterdrückung in der Türkei.“
Aus Protest hat Ünzile Araz am Mittwoch in der Innenstadt von Athen ein Sit-In begonnen. Mit dieser Aktion will sie zwei Forderungen an die Behörden sowohl Griechenlands, als auch der Türkei durchsetzen: Dass die Suche nach ihrem Sohn fortgesetzt wird – und dass die Familie an der Suche beteiligt wird.
Ihren Sitzstreik führt Ünzile Araz täglich im Viertel Exarchia an genau der Stelle durch, an der der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos im Dezember 2008 durch eine Polizeikugel starb. An dem Platz hängen zwei Gedenktafeln: Eine für Aleksandros und eine für Berkin Elvan. Berkin Elvan war 14 Jahre alt, als er am 16. Juni 2013 während der Gezi-Proteste in Istanbul nur Brot holen wollte und von einem Tränengas-Geschoss der Polizei am Kopf getroffen wurde. Nach neunmonatigem Koma starb er am 11. März 2014 an der ihm zugefügten Schussverletzung -ebenfalls als 15-Jähriger.
Ünzile Araz hat sich mittlerweile damit abgefunden, ihren Sohn nicht lebend zu bekommen. Sie möchte aber seine Leiche. „Meinem Sohn ist etwas schreckliches passiert. Anderen Kindern soll das nicht passieren. Mein Sohn muss der letzte gewesen sein“.