Die türkische Justiz verschärft den Druck auf die kurdische Zivilgesellschaft weiter. Die Ko-Vorsitzende des Solidaritätsvereins von Familien von Gefallenen (MEBYA-DER), Yüksel Almas, wurde in Amed (tr. Diyarbakir) zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Die Anklage wirft der Kurdin, die sich seit vergangenem März in Untersuchungshaft befindet, vor, Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Anfang November war bereits Şeyhmus Karadağ aus der genderparitätischen Vereinsspitze zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Als Beweise gegen Yüksel Almas wurden hauptsächlich die Aktivitäten des (legalen) Vereins, Gedenkveranstaltungen, Interviews und Redebeiträge herangezogen. So sind sowohl Äußerungen der Aktivistin zur Verbrennung ihres Geburtsdorfes durch die türkische Armee, Folter und Vertreibung in den 1990er Jahren ebenso als „mitgliedschaftliche Beteiligung an einer Terrororganisation“ ausgelegt worden wie ihre Forderungen, die Morde unbekannter Täter und damit extralegale Hinrichtungen aufzuklären, Orte von Massengräbern preiszugeben und verschleppte Leichname von Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes auszuhändigen.
Auch die Kritik von Almas an der Schändung von Leichnamen durch türkische Sicherheitskräfte sowie die Organisierung von Gedenkveranstaltung für Opfer des „tiefen Staates“, darunter den kurdischen Intellektuellen und Schriftsteller Musa Anter, ließen sie laut Auffassung des Gerichts der PKK zurechnen. Yüksel Almas, die aus dem Frauengefängnis in Amed in die Verhandlung eingebunden wurde, wies alle Vorwürfe gegen sie zurück und erklärte vor Gericht, dass es sich bei allen von der Anklage kriminalisierten Veranstaltungen um legale Aktivitäten gehandelt habe. Als persönliche Betroffene einer tödlichen Staatspolitik, die das „Verschwindenlassen“ ihres Ehemannes 1995 zu verantworten habe, sei sie aktiv gewesen für MEBYA-DER, „damit anderen Menschen die Schmerzen und das Leid“, das sie selbst erleben musste, erspart bleibe.
Strafmaß im oberen Bereich
Almas‘ Verteidiger:innen Hava Atlı und Muhittin Muğuç forderten Freispruch oder eine geringe Freiheitsstrafe sowie die Aufhebung des Haftbefehls. Ihre Mandantin leide an Asthma und einer Herzkrankheit, die fortgesetzte Haft würde ihre gesundheitliche Verfassung verschlechtern. Das Gericht wies alle Anträge zurück und setzte das Strafmaß im oberen Bereich des Strafrahmens auf Grundlage von Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuches fest. Atlı und Muğuç haben Berufung angekündigt.
Der Hilfs- und Solidaritätsverein MEBYA-DER
MEBYA-DER ist ein Solidaritätsverein für Menschen, die Angehörige im kurdischen Befreiungskampf verloren haben, und steht seit geraumer Zeit im Fokus der staatlichen Repression in der Türkei. „Hilfs- und Solidaritätsverein für Menschen, die ihre Angehörigen in der Wiege der Zivilisationen verloren haben“ lautet der volle Name des Vereins, der Zweigstellen in mehreren kurdischen Städten unterhält. Der türkische Staat macht gefallene Guerillakämpfer:innen zum Mittel der psychologischen Kriegsführung, indem Gräber verwüstet und Leichname von Gefallenen misshandelt oder verstümmelt werden. MEBYA-DER ist eine der Institutionen, die sich direkt gegen diese Politik stellt.