Türkei: Immer mehr Frauen Opfer von staatlicher Folter

In der Türkei werden immer mehr Frauen Opfer von staatlicher Folter. Das belegt eine Auswertung der Menschenrechtsstiftung TIHV für 2020. Fast zwei Drittel aller Betroffenen stammen aus den kurdischen Regionen des Landes.

Trotz der seit 2003 von der türkischen Regierung propagierten „Null-Toleranz”-Politik gegenüber Folter gehört die systematische Misshandlung von Festgenommenen in der Türkei nach Angaben von Menschenrechtler:innen weiterhin zur Norm. Vor allem Frauen werden immer häufiger Opfer dieser Form von staatlicher Gewalt. Zu diesem Ergebnis kommt die Menschenrechtsstiftung TIHV in ihrem Bericht für das Jahr 2020. Die vor mehr als drei Jahrzehnten aus dem Menschenrechtsverein IHD hervorgegangene Stiftung betreibt Rehabilitationszentren für die kostenlose Behandlung von physischen und psychischen Problemen, die durch Folter oder grausame, erniedrigende und unmenschliche Behandlung oder Strafe verursacht werden.

562 Anzeigen innerhalb der Türkei bei TIHV

Laut dem Bericht der TIHV haben sich im gesamten vergangenen Jahr 562 Menschen innerhalb der Türkei mit Beschwerden wegen Folter oder Misshandlungen an die Stiftung gewandt. 205 der Hilfesuchenden waren Frauen, was im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von zehn Prozent bedeute. Ein Prozent der Folteropfer waren LGBTIQ-Menschen, 62,5 Prozent Männer. Besonders verbreitet seien Folter und Misshandlungen in Polizeihaft. Laut der TIHV wurden 283 aller Hilfesuchenden in Polizeipräsidien Opfer der staatlichen Gewalt, 73 weitere auf Revieren oder in kleineren Wachen. Als weitere Tatorte wurden unter anderem Fahrzeuge von Sicherheitskräften – Polizei, Gendarmerie, Armee – sowie öffentliche Plätze, Straßen, die eigene Wohnung und Arbeitsstätten benannt.

40,7 Prozent der Betroffenen Opfer von sexualisierter Folter

Über 40 Prozent aller Betroffenen gab an, sexualisierte Folter erfahren zu haben. Dieser Wert war im Bericht für 2019 noch mit 27 Prozent angegeben worden. Fast zwei Drittel aller Folteropfer sind in den kurdischen Regionen des Landes geboren. Die TIHV sieht im Anstieg der angezeigten Fälle von Menschenrechtsverletzungen einen direkten Zusammenhang mit der antikurdischen Unterdrückungspolitik der türkischen Führung in Ankara. Zu den Klient:innen der TIHV gehörten auch Menschen, die lange in türkischen Gefängnissen saßen.

Jüngstes Opfer fünf Jahre alt

Besorgt zeigt sich die Stiftung auch mit Blick auf das Alter der Folteropfer. Denn während in der Türkei immer mehr Menschen systematisch von staatlichen Organen gefoltert werden, werden die Betroffenen immer jünger. Laut der TIHV war das jüngste Opfer im Jahr 2020 fünf Jahre alt, das älteste 70. Die Stiftung beklagt, dass Folterer nach wie vor kaum strafrechtliche Folgen befürchten müssen. Die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan bestreitet derweil nach wie vor, dass in der Türkei systematisch gefoltert wird.

Zentren in Istanbul, Ankara, Izmir, Wan, Amed und Cizîr

Die Rehabilitations- und Behandlungszentren der TIHV (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, dt. Menschenrechtsstiftung der Türkei) gibt es aktuell in Istanbul, Ankara, Izmir, Wan (tr.) Van und Amed (Diyarbakir) und als Referenzzentrum in Cizîr (Cizre). Die Stiftung verfolgt ihre Ziele mit einer kleinen Schar professioneller und ehrenamtlicher Mitarbeiter:innen. Ihr Hauptanliegen ist die Behandlung und Rehabilitation von überlebenden Opfern der Folter und die Betreuung der Angehörigen mit einem multidisziplinären Ansatz. Die Arbeit der TIHV – sowohl die der Behandlungszentren als auch die des Dokumentationszentrums – ist international anerkannt.

Der vollständige Bericht der TIHV kann im PDF-Format auf der Webseite der Stiftung heruntergeladen werden: