Den Angaben des türkischen Menschenrechtsvereins IHD (İnsan Hakları Derneği) zufolge befinden sich derzeit 1.154 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen, von denen 402 sogar schwerkrank sind. Eine davon ist die 76-jährige Sisê Bingöl. Die Kurdin ist im April 2016 in Gimgim (Varto, Provinz Muş) verhaftet und nach etwa dreimonatiger Untersuchungshaft aus gesundheitlichen Gründen aus dem Gefängnis entlassen worden. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu titelte nach ihrer Festnahme: „Die Terroristin mit dem Codenamen Sisi wurde lebend gefasst”. Später wurde Sisê Bingöl wegen „wissentlicher und willentlicher Unterstützung einer verbotenen Organisation“ zu vier Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Im April 2017 folgte die erneute Inhaftierung. Momentan befindet sie sich im Frauengefängnis von Tarsus.
Wegen ihrer gesundheitlichen Probleme - Sisê Bingöl leidet unter Herz-, Leber- und Nierenproblemen, ist Diabetikerin und hat einen zu hohen Blutdruck – bescheinigte ihr das staatliche Krankenhaus in Muş eine Haftunfähigkeit, der die Gerichtsmedizin allerdings widersprochen hat. Nach ihrer Verlegung ins Krankenhaus von Tarsus wurde die Haftfähigkeit bestätigt. Mittlerweile geht es Sisê Bingöl gesundheitlich so schlecht, dass sie sich an die Namen ihrer Kinder nicht mehr erinnert. Yasemin Dora Şeker, Vorsitzende der IHD-Sektion in der Region Çukurova, hat „Mutter Sisê“, so wie sie liebevoll von den Mitgefangenen genannt wird, vor einigen Tagen im Gefängnis besucht. Sie sagt, der Umgang mit Bingöl sei unvereinbar mit Moral und Ethik. Sie benötige bei allen Verrichtungen, waschen und Toilettengang eingeschlossen, die Hilfe anderer Gefangener und habe aufgrund ihres hohen Alters Wahrnehmungsstörungen. Auf die Frage, wie der Name ihrer Tochter laute, habe sie mit dem Namen ihres Dorfes geantwortet, berichtet Şeker.
In den Gefängnissen der Türkei herrschen katastrophale Zustände. Folter und Rechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Seit dem Jahr 2000 verließen mehr als 2.500 Gefangene das Gefängnis im Sarg. Wie schlimm die Situation der Gefangenen in der Türkei wirklich ist, zeigt das jüngste Opfer der türkischen Willkürjustiz: Im Jahr 2014 trat der politische Gefangene Koçer Özdal als 61-Jähriger eine erschwerte lebenslange Haftstrafe an, zu der er wegen „Terrorvorwürfen“ verurteilt worden war. Ganze zwei Jahre befand er sich in einer Einzelzelle in Isolationshaft. Im Gefängnis erkrankte Özdal an Blasenkrebs. Operiert wurde er nicht, weil es laut Behörden kein geeignetes Krankenhaus gegeben haben soll. Als sich sein Zustand im Juli dieses Jahres verschlechterte, wurde er in das Numune-Krankenhaus in Ankara eingewiesen. Fünf Wochen später verstarb Koçer Özdal dort, nachdem er wenige Tage zuvor ins Koma gefallen war. Der Krebs hatte Metastasen in anderen Organen gebildet. Auch während er im Koma lag, wurden die Fesseln an seinen Hand- und Fußgelenken nicht entfernt. Eine Trauerzeremonie für den Verstorbenen durften seine Hinterbliebenen nicht abhalten. Das Militär hatte einen würdevollen Abschied von Koçer Özdal verboten.
Bingöls Anwältin Gülşen Özbek versucht seit letztem Jahr vergeblich, für ihre Mandantin eine Haftentlassung zu erwirken. Entsprechende Anträge seien bereits mehrfach abgelehnt worden. Die Anwältin hat angekündigt, vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Yasemin Dora Şeker vermutet hinter dem Verhalten von Behörden und Justiz einen politischen Hintergrund: „Natürlich würde die Entlassung aus dem Gefängnis im Fall von Sisê Bingöl keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten. Sie ist allerdings eine politische Gefangene. Das wird der Grund dafür sein, weshalb sie nicht entlassen wird“.