Der schwer kranke politische Gefangene Civan Boltan wird einer Schikane nach der anderen ausgesetzt. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seine andauernde Inhaftierung als „Rechtsverletzung“ bewertet hat und eine ärztlich festgestellte Haftunfähigkeit vorliegt, bleibt er im Gefängnis. Das hat eine endlose Kette weiterer schwerer Rechtsverletzungen zur Folge, die man nicht rechtfertigen kann. Zuletzt wurden dem Kurden Kleidung und Decken eingezogen, die Gründe sind völlig unbekannt.
„Die Behandlung meines Sohnes ist zweifellos gezielt unmenschlich und damit der Folter gleichgestellt“, beschreibt Mutter Nazime Boltan den Umgang mit Civan Boltan. Der 31-Jährige befindet sich seit 2012 in Haft. In jenem Jahr wurde er auf Grundlage der Antiterrorgesetzgebung und „staatsfeindlichem Handeln“ im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Guerilla zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe plus weiteren 95 Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Bevor Boltan als Guerillakämpfer in Gefangenschaft geriet, versuchte er sich mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen. Dabei wurde sein rechter Arm zerfetzt, außerdem verlor er die Sehfähigkeit auf dem linken Auge.
Nazime Boltan zeigt ein Foto ihres Sohnes Civan
Rund siebzig Schrapnelle durchbohrten Boltans Körper, das größte steckt bis heute in seinem Schädel. Als Soldaten ihn entdeckten, wurde er für tot gehalten. Nachdem in einem Krankenhaus festgestellt wurde, dass er noch lebte, führten massive Schläge von Militärs zu schweren Verletzungen auf dem verbliebenen Auge, von dem heute nur noch 30 Prozent intakt sind. Sein gesunder Arm wurde an mehreren Stellen gebrochen. Vermutlich deshalb leidet er heute am sekundären Raynaud-Syndrom.
Die Ursache für das auch „Leichenfinger“ oder „Weißfingerkrankheit“ genannte Raynaud-Syndrom ist eine Überreaktion der Nerven auf Kälte. In der Regel liegt eine ernste Erkrankung zugrunde, etwa entzündliches Rheuma oder Bindegewebserkrankungen, neurologische Krankheiten, Nervenentzündungen oder -schäden können dahinterstecken. Hier kann es durch die wiederkehrenden Durchblutungsstörungen zu irreparablen Gefäßerkrankungen kommen, Zellen können absterben. Erkrankte leiden unter Missempfindungen, Taubheitsgefühlen, Verfärbungen der betroffenen Bereiche und Schmerzen, sobald sie mit Kälte in Berührung kommen – etwa bei Kontakt mit kalter Luft oder Wasser. Die Attacken dauern meist nicht länger als eine halbe Stunde, doch je häufiger der Körper der Kälte ausgesetzt ist, umso stärker ist die Überreaktion.
Berüchtigtes F-Typ-Gefängnis Bolu
„Die kurdische Gesellschaft und besonders jener Teil, deren Angehörige im Gefängnis sitzen, wissen, was es für politische Gefangene bedeutet, in Bolu inhaftiert zu sein“, betont Nazime Boltan. Das Hochsicherheitsgefängnis vom Typ F in der Nordwestprovinz Bolu ist berüchtigt für Folter und menschenunwürdige Haftbedingungen, besonders im Fall der „PKK-Gefangenen“. Im Sommer wird die Heizung aufgedreht, in Winter läuft die Kühlanlage. Dass Civan Boltan jetzt, wo es kälter wird, neben seiner Kleidung auch noch Schlafdecken auf Anweisung der Vollzugsleitung beschlagnahmt werden, bedeute nichts anderes als gezielte Körperverletzung, sagt Mutter Nazime Boltan. Die Kurdin nimmt regelmäßig in Amed (tr. Diyarbakir) an den „Wachen für Gerechtigkeit“ teil, einer im November 2021 ins Leben gerufenen Initiative von Angehörigen politischer Gefangener, die die extreme Repression und die ständigen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen sichtbar machen und die Einhaltung rechtlicher Standards erkämpfen wollen.
„Unsere Kinder werden unterdrückt“
„Sie quälen die Gefangenen, wo sie nur können“, sagt Nazime Boltan mit Blick auf die Lage hinter türkischen Gefängnismauern. „Unsere Kinder werden unterdrückt. Es gibt keine Gerechtigkeit für sie. Civan ist krank und nicht in der Lage, sich ohne die Unterstützung seiner Mitgefangenen zu versorgen. Sogar bei Regen bekommt er Attacken, seine Finger verfärben sich weiß. Wenn er jetzt noch ohne Kleidung und Decke auskommen soll, wird sich seine ohnehin schon schwere gesundheitliche Lage verschlechtern“, befürchtet Boltan und beklagt, dass auch Briefe ihres Sohnes durch die Gefängnisleitung eingezogen werden. „Nicht nur mein Sohn ist Opfer dieses feindlichen Umgangs – es gibt unzählige erkrankte politische Gefangene, die betroffen sind. Deshalb rufen wir all ihre Angehörigen auf, sich an unserer Aktion zu beteiligen. Unsere Forderung ist die Freilassung der kranken Gefangener und ihre Behandlung in Freiheit. Die Familien der kranken Gefangenen müssen sie unterstützen. Wir werden uns, solange wir leben, für die Sache unserer Kinder einsetzen.“