MSF: „Sie beschreiben Libyen als die Hölle“

Die Hilfsorganisation MSF hat einen Bericht zur Situation von minderjährigen Schutzsuchenden in Libyen veröffentlicht. In dem Bericht wird der Horror des EU-geförderten Migrationsregimes in Libyen deutlich.

Bei unbegleiteten Minderjährigen handelt es sich um eine der vulnerabelsten Gruppen von Migrant:innen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) veröffentlichte einen Bericht zur Situation von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden in Libyen. In dem Bericht werden Erfahrungen von auf der MIttelmeerroute aus Seenot geretteten Kindern und Jugendlichen dokumentiert. Bei der jüngsten Rettungsaktion der „Geo Barants“ von MSF handelte es sich bei 140 der 367 geretteten Schutzsuchenden um unbegleitete Minderjährige. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer Erfahrungen in Libyen schwer traumatisiert.

Obwohl die 367 Schutzsuchenden letzte Woche sicher in der sizilianischen Hauptstadt Palermo an Land gegangen sind und sich nun in Quarantäne befinden, werden viele von ihnen dauerhaft von ihren Erfahrungen auf der „tödlichsten Migrationsroute der Welt“ betroffen sein, so Julie Melichar von Ärzte ohne Grenzen, die für humanitäre Angelegenheiten an Bord des Schiffes zuständig ist.

Wir müssen der Hölle in Libyen entfliehen“

„Auf ihren Reisen sind Minderjährige verstärkt Zwangsarbeit, Erpressung, willkürlicher Inhaftierung und körperlicher Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, ausgesetzt“, schreibt MSF auf Twitter. „Viele Leute fragen mich, warum so viele unbegleitete Kinder das Mittelmeer überqueren“, sagt Melichar. „Natürlich kann ich nicht für alle sprechen, aber viele, viele von ihnen haben mir gesagt, dass sie einfach vor der Hölle in Libyen fliehen müssen.“ Zu den Geretteten auf der Geo Barants erklärt Melichar: „Einer der Jungen, die wir gerettet haben, war erst zwölf Jahre alt, als er sein Land verließ.“

Der Junge erzählte MSF, sein Vater sei getötet worden, „weil er seinen Sohn vor der Zwangsrekrutierung in der Armee schützen wollte“, fügt sie hinzu. Nach der Ermordung seines Vaters sah seine Mutter „keine andere Wahl, als ihn aus dem Land zu schicken, um ihn vor der Zwangseinberufung zu retten“. Der Junge erzählte Melichar, dass er, als er Südlibyen erreichte, „sieben Monate lang in Gefangenschaft gehalten und gefoltert wurde, bevor er fliehen konnte“.

Spirale aus Folter, Zwangsarbeit und Inhaftierung dauert oft sogar Jahre

Ärzte ohne Grenzen erklärt, dass es für viele Migrant:innen, unabhängig von den verschiedenen Gründen, die sie zum Verlassen ihrer Heimatländer veranlassen, sei es auf der Flucht vor Krieg, Armut, Diskriminierung oder auf der Suche nach besseren Möglichkeiten, ihre Familien zu unterstützen, nach der Ankunft in Libyen fast „kein Zurück“ mehr gebe.

Denn das in Libyen herrschende System der Gefangennahme und Erpressung von Menschen auf der Flucht bedeutet, dass jemand, dem es gelingt, sich freizukaufen oder zu entkommen, nach Europa weiterreisen müsse, um zu versuchen, die Schulden zurückzuzahlen, die seine Familie bei dem Versuch, ihn freizukaufen, gemacht hat, so MSF weiter. Manchmal kann die „Spirale der Ausbeutung“ aus Zwangsarbeit, Inhaftierung und Folter „Monate oder sogar Jahre andauern“.

Haft, sexualisierte Gewalt und Ausbeutung

„Viele der jungen Menschen, die wir gerettet haben, erzählten uns, dass sie vor willkürlicher Inhaftierung, Missbrauch und Ausbeutung in Libyen geflohen waren“, so Melichar. „Einige mussten auf ihrer Reise den Verlust von Freunden hinnehmen, da in Libyen viele Menschen verschwinden oder getötet werden.“

Ein Junge erzählte Melichar, dass er mit „fünf sehr guten Freunden“ unterwegs gewesen sei. Alle fünf starben in Haftanstalten in Libyen, bis dieser Junge allein war. Er erzählte Melichar, dass er „absichtlich anfing, Ärger zu machen und zu schreien, in der Hoffnung, dass die Wärter ihn schlagen und töten würden und er wieder mit seinen Freunden vereint werden könnte. Das wäre für jeden Menschen zu viel. Wie kann das Kindern passieren?“

Unbegleitete Minderjährige brauchen besonderen Schutz“

Melichar beschreibt die Situation der Minderjährigen auf dem Schiff: „Viele der unbegleiteten Minderjährigen an Bord scheinen ganz gut mit dem Leben auf dem Schiff zurechtzukommen. Sie haben eine Gemeinschaft gebildet, sich miteinander angefreundet und verhalten sich wie andere Teenager auch. Aber trotzdem wissen wir, dass sie tiefe Narben in sich tragen, die nicht von selbst heilen werden. Deshalb darf eine so gefährdete Gruppe nicht vergessen werden, sobald sie an Land angekommen ist. Man muss ihnen besonderen Schutz gewähren, ihnen eine sichere und kindgerechte Unterkunft bieten und sie von kompetenten Organisationen medizinisch und psychosozial betreuen lassen."

Sie behandeln uns wie Tiere“

Baptiste und Sophie aus Kamerun wurden Zeug:innen und Opfer von Übergriffen in Libyen. Im September 2021 wurden sie zusammen mit ihrem sieben Wochen alten Baby Bienvenu gerettet und an Bord der Geo Barents gebracht. Sie hatten sich auf die Reise über das zentrale Mittelmeer gemacht, um für Bienvenu einen besseren Platz zum Leben zu finden. Baptiste erzählt von den vergangenen Monaten: „Im Jahr 2021 kamen Sophie und ich in Libyen an. Ich hatte noch nie Menschen gesehen, die sich so unmenschlich verhalten haben. Wir wurden schlimmer behandelt als Tiere. Unterwegs wurde ich Zeuge von viel Gewalt, sexueller Gewalt und Gruppenvergewaltigungen. Schließlich fanden wir einen Hangar in einem Viertel der Hauptstadt, in dem wir leben konnten. Wir fanden Arbeit und konnten etwas essen. Es waren wirklich harte Zeiten, ich fühlte mich verzweifelt allein. Ich habe wegen meiner Familie weitergelebt.

Ein Hund war mehr wert als wir“

Ich werde mich immer an den Tag erinnern, an dem unser Kind am 6. August geboren wurde. Meine Frau Sophie musste unser Kind „zu Hause“ zur Welt bringen, weil es in Libyen für Schwarze keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung gibt. Wir wurden wie Dreck behandelt, ein Hund war mehr wert als wir. Wir hatten keine andere Möglichkeit, als zu Hause zu entbinden."

Körper von Narben der Folter übersät

Ayaan wurde am 20. September 2021 gerettet und an Bord des Such- und Rettungsschiffs Geo Barents gebracht. Sie war zusammen mit 54 Personen in einem kleinen Boot unterwegs gewesen. Sobald sie sicher an Bord war, wurde sie vom medizinischen Personal mithilfe eines Kulturmittlers untersucht. Einige Tage später erzählte sie dem Team von ihren schweren Erfahrungen. Die Narbe an ihrem Hals, die von einem Draht verursacht wurde, und die Narbe an ihrem Bein, sind die sichtbaren Zeichen dieser Geschichte.

Ayaan erzählt, dass sie im Januar 2020 nach einer langen Reise durch Somalia, Äthiopien und den Sudan in Libyen ankam. Sie wurde von Schmugglern gegen ihren Willen in einem Raum ohne Fenster festgehalten und hatte weder Essen noch Wasser. Es gab nur eine Toilette für alle gefangenen Frauen in einem kleinen, stickigen Raum. Ayaan erinnert sich, dass sie einmal sieben Tage lang nichts gegessen hat. „Die Gesichter der Schmuggler waren verhüllt, wir konnten nur ihre Augen sehen. Sie standen die ganze Zeit mit Gewehren vor der Tür. Es war einfach unmöglich, zu entkommen“, sagt sie.

Folter mit Strom und Drähten“

Ayaan sagt, dass sie während ihrer Gefangenschaft ständig mit Drähten und Strom gefoltert wurde. „Sie kamen in den Raum und warfen die Frauen auf den Boden. Sie zogen den Frauen die Kleider aus. Sie zogen die Frauen heftig an den Haaren und schlugen sie. Sie haben uns die ganze Zeit gefoltert."

Titelbild: Filippo Taddei/MSF