Seit Anfang der Woche sitzt der 65 Jahre alte Kurde Kasım Dayangaç in einem Gefängnis in der südtürkischen Küstenprovinz Mersin in Untersuchungshaft. Dem Vater von sieben Kindern wird von der Generalstaatsanwaltschaft Mersin „PKK-Mitgliedschaft“ vorgeworfen. Als Grundlage zieht die Behörde vermeintliche „Dokumente“ heran, die bei Militäroperationen in Guerillagebieten im nordkurdischen Licê sichergestellt worden seien. Auch Musa Özdemir, ehemaliger Generalsekretär der Gewerkschaft für Medienkommunikation- und Postmitarbeiter Haber-Sen, die dem linken Dachverband KESK angehört, wurde im selben Verfahren verhaftet. Özdemir war sogar vom Gouverneur der Provinz Mersin als „PKK-Milizionär“ diffamiert worden. Beweise für den Vorwurf? Keine.
Aus Bedlîs vertrieben
Die Geschichte von Kasım Dayangaç steht exemplarisch für das Schicksal hunderttausender Kurdinnen und Kurden, deren Dörfer in den achtziger – und vor allem in den neunziger – Jahren im kurdischen Südosten des Landes von türkischen Sicherheitskräften zerstört und entvölkert wurden. 4.000 kurdische Dörfer hat die türkische Armee allein in den 90ern zerstört. Jahrelang war die ganze Region im Ausnahmezustand. Auch die Familie Dayangaç musste aufgrund der systematischen Unterdrückung ihr Landleben aufgeben und aus Bedlîs (tr. Bitlis) „in den Westen“ ziehen. Die konsequente Existenznegierung und Verweigerung von Rechten sowie die mit staatlicher Repression, Kontrolle und Unterdrückung umgesetzte Assimilationspolitik setzte sich aber auch am neuen Wohnort in Mersin weiter fort.
Sohn als HPG-Kämpfer hingerichtet
2013 verließ Naci Dayangaç, eines von insgesamt sieben Kindern der Familie, das elterliche Haus. „Um sich den regelmäßigen Polizeirazzien und willkürlichen Festnahmen, der Kriminalisierung und Schikanen zu entziehen“, hatte sein Vater Kasım später in einem Interview gesagt. Fünf Jahre später, im Juli 2018, wurde Naci Dayangaç als mutmaßlicher Guerillakämpfer in einem Wohnhaus im westtürkischen Manisa mit einem Kopfschuss exekutiert – angeblich im Verlauf eines Schusswechsels mit einer polizeilichen Einheit. Nachbarn, die damals der offiziellen Version widersprachen und angaben, es habe gar kein Gefecht gegeben, waren vorübergehend festgenommen worden. Der gewaltsame Tod von Naci Dayangaç wurde bis heute nicht aufgeklärt.
Mit 14 in der Hölle von Pozanti
Hikmet, ein anderer Sohn der Eheleute Dayangaç, landete 2008 – als 14-Jähriger – im berüchtigten Gefängnis von Pozanti. Die Haftanstalt wurde im Jahr 1987 errichtet und genau zwanzig Jahre später in ein Jugend- und Kindergefängnis umgewandelt. Im April 2011 reichte die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Mersin erstmals eine Strafanzeige wegen sexueller Missbrauchsvorwürfe in Pozanti beim Justizministerium ein. Doch schon Ende der Nullerjahre berichteten Minderjährige, sie seien in Pozanti absichtlich in Zellen mit erwachsenen Schwerverbrechern und Drogensüchtigen gesteckt und systematisch gefoltert und vergewaltigt worden. Bei den Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren handelte es sich ausnahmslos um Kurden, die wegen „Steinewerfens“ auf Demonstrationen verhaftet und als angebliche „Unterstützer einer Terrororganisation“ verurteilt worden waren.
Drittes Kind seit Jahren verschollen
Zwei Jahre blieb Hikmet Dayangaç in der Hölle von Pozanti. Nach seiner Entlassung kam er immer wieder ins Gefängnis, insgesamt verbrachte er acht Jahre als vermeintlicher Terrorist hinter Gittern. Um sich weiteren Haftstrafen zu entziehen, setzte er sich nach Europa ab, wo er politisches Asyl erhielt. Ein drittes Kind von Kasım Dayangaç verließ vor Jahren das Haus und gilt seitdem als vermisst. Seine Frau Menice Dayangaç, die sich nun allein um die Tierherde der Familie kümmert, ist besorgt. „Die gesundheitliche Verfassung von Kasım lässt zu wünschen übrig, erst kürzlich befand er sich noch in ärztlicher Behandlung. Im Grunde ist er haftunfähig und müsste sofort freigelassen werden.“ Für die türkischen Behörden spielt das allerdings keine Rolle. Wann der Prozess gegen Dayangaç und den Gewerkschafter Musa Özdemir eröffnet wird, steht in den Sternen. Mit der Anklageschrift ist frühestens in ein paar Monaten zu rechnen.