Mehr Corona-Infektionen in Silivri als bisher bekannt
Laut einem Bericht verschiedener Organisationen in der Türkei haben sich im Strafvollzugskomplex Silivri mehr Gefangene mit dem Coronavirus infiziert als bislang von der Regierung angegeben.
Laut einem Bericht verschiedener Organisationen in der Türkei haben sich im Strafvollzugskomplex Silivri mehr Gefangene mit dem Coronavirus infiziert als bislang von der Regierung angegeben.
Nach wie vor ist unklar, wie viele Insassen in türkischen Gefängnissen insgesamt von der Corona-Pandemie betroffen sind. Allein in einem Gefängnis des Strafvollzugskomplexes Silivri im Westen von Istanbul sind es mindestens 107 Infizierte. Das geht aus einem gemeinsamen Bericht des Menschenrechtsvereins (IHD), der Vereinigung Freier Rechtsanwälte (ÖHD), der Vereinigung zeitgenössischer Rechtsanwälte (ÇHD) und MED TUHAD-FED (ein von Familien von Verhafteten und Verurteilten gegründeter Verband) hervor, der am Freitag veröffentlicht wurde. Eine gemischte Untersuchungskommission hatte den Gefängniskomplex Silivri vor einer Woche aufgesucht, nachdem einen Tag zuvor bekannt geworden war, dass ein Insasse an Covid-19 gestorben ist. Die Organisationen prangern in ihrem Bericht zudem die weiterhin unzureichenden Bedingungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Epidemie in Haft an. Es bedürfe endlich ganz konkreter Maßnahmen, um die körperliche und psychische Gesundheit von Gefangenen und den Bediensteten zu schützen, fordern sie.
Laut dem Bericht handelt es sich bei den 107 Infizierten ausschließlich um Insassen im Gefängnis Nr. 7. Mindestens 15 Gemeinschaftszellen seien dort bereits unter Quarantäne, bei 38 Gefangenen zeigten sich Beschwerden wie Husten und Kurzatmigkeit. Der Gefängniskomplex in Silivri gilt als größtes Gefängnis in Europa und gleicht eher einem Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts, andere beschreiben es als ein Internierungslager für Erdoğan-Gegner. Die Anlage besteht aus neun geschlossenen und einer offenen Vollzugsanstalt. Dort sind vor allem politische Gefangene wie der frühere Bürgermeister von Wan, Bekir Kaya, der Bürgerrechtler Osman Kavala, Anwält*innen aus den Verfahren gegen die linke Anwaltsvereinigung ÇHD, Regierungskritiker*innen und Journalist*innen inhaftiert. Von der sogenannten Corona-Amnestie profitieren sie nicht, da sie wegen „Terrorvorwürfen“ einsitzen und somit keinen Straferlass erhalten.
Dem Bericht zufolge sei der hygienische und medizinische Zustand der Inhaftierten weitesgehend desolat, da der Zugang zu Reinigungs- und Desinfektionsmitteln minimal sei. Von der Gefängnisleitung angeordnete Zellendesinfektionen würden nur überflächlich durchgeführt. Auch der Zugang der Gefangenen zu Krankenstationen sei nicht angemessen.
Fünf Gefangene, mit denen die Untersuchungskommission sprach, gaben zudem an, dass den Insassen in Silivri bereits seit zwei Monaten das Recht auf den Zugang zu Belüftungsbereichen, im Klartext bedeutet das zu den Gefängnishöfen, verwehrt werde. „Zwei Gefangene – M.F.Ç. und A.K. – werden seit dem Tag ihrer Verhaftung vor 80 Tagen in Einzelzellen isoliert. Anweisung, wonach das Gefängnispersonal Atemschutzmasken und Handschuhe tragen muss, werden nicht von allen Mitarbeitern befolgt“, heißt es des Weiteren.
Die Untersuchungskommission hat Forderungen formuliert, die unverzüglich umgesetzt werden müssten: „Wir verlangen, dass ein angemessener Zugang zu Reinigungsmitteln gewährleistet wird, hygienische Missstände aus dem Weg geräumt sowie kranke und ältere Gefangene und inhaftierte Mütter mit ihren Kindern bzw. Schwangere freigelassen werden. Außerdem fordern wir die Umsetzung der Verhaltensregeln und -empfehlungen der Ärztevereinigung TTB zum Schutz vor dem Coronavirus.“ Die Regierung wurde zudem aufgefordert, transparent zu arbeiten.
HDP-Appell an Europa und UNO
Mitte der Woche hatte auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) auf die coronabedingte Lage in den Gefängnissen der Türkei aufmerksam gemacht und an die Behörden des Europarats und der Vereinten Nationen appelliert, sich mit den Rechten und der Gesundheit der Gefangenen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zu befassen.