Wie lange der politische Gefangene Erol Engin bereits unbemerkt mit einer Kugel im Kopf lebt, weiß niemand. Vermutlich trägt er das Projektil bereits seit über 20 Jahren in seinem Haupt. Seit 1996 befindet sich der aktuell in einem Hochsicherheitsgefängnis im westtürkischen Tekirdağ inhaftierte Engin bereits in Haft. Der 47-Jährige leidet unter diversen Krankheiten, darunter Diabetes und orthostatischer Hypotonie. Anfang des Jahres traten bei ihm Taubheitsgefühle im Mund und an verschiedenen Stellen im Gesicht auf. Über Monate ignorierte die Gefängnisleitung aber seine Forderungen für eine Untersuchung in einem Krankenhaus. Stattdessen wurde er immer wieder auf die Krankenstation der Haftanstalt verlegt.
Am 18. April brach Erol Engin in seiner Zelle zusammen. Erst dann wurde ein Krankenhaustransport genehmigt. In der staatlichen Klinik Tekirdağ ordneten Ärzte eine Röntgenaufnahme an und entdeckten auf den Bildern die Kugel, die sich im Schädelknochen befindet. Trotz dieser offensichtlichen Lebensgefahr verweigerte die Einrichtung eine Behandlung beziehungsweise Operation und schickte Engin wieder zurück ins Gefängnis. Dort wurden ihm vom Anstaltsarzt Vitaminpräparate verschrieben, für die er auch noch selbst aufkommen muss – wenn es sie denn gäbe. Die Tabletten gehören nicht zur gängigen Arzneiversorgung im Knast und müssen von außerhalb bestellt werden. Erol Engin kann sich die Präparate aber nicht leisten. Die Gefühllosigkeit, unter der er seit Monaten leidet, hat sich inzwischen auf andere Körperstellen ausgeweitet.
Partizan: Zensurpolitik zur Verschleierung der Zustände in Gefängnissen
Die Gefangenenhilfsorganisation Partizan ist empört über den kompromisslosen Umgang der türkischen Justiz mit den kranken Gefangenen. „Wir alle wissen um die mangelhaften Haftbedingungen, denen kranke oder körperlich eingeschränkte Insassen schon immer ausgesetzt sind. Doch die Corona-Pandemie hat ihre Lage noch bedrohlicher gemacht“, sagt der Menschenrechtler Kenan Özyürek. Bei einer Zusammenkunft mit Gleichgesinnten in den Räumlichkeiten der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD sprach Özyürek von einer „Zensurpolitik“ zur Verschleierung der Zustände in den Haftanstalten des Landes. „Wir wissen von Dutzenden Todesfällen in den Gefängnissen durch unterlassene Hilfeleistungen beziehungsweise verweigerte Behandlungen. Es gibt hunderte kranke Gefangene, deren Verfassung sich von Tag zu Tag verschlechtert. Sie müssen sich damit abfinden, dass sie jeden Moment Schmerzen und Qualen empfinden.“
Bei „Operation Rückkehr ins Leben“ am Kopf verletzt
Kenan Özyürek glaubt, dass Erol Engin seit dem 19. Dezember 2000 mit dem Projektil im Kopf lebt. An diesem Tag wurde in der Türkei unter dem zynischen Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ ein Massaker an politischen Gefangenen verübt. Rund 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Beamte der Militärpolizei, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, stürmten nachts insgesamt 20 verschiedene Vollzugsanstalten, um die Gefangenenproteste gegen die Einführung von Typ-F-Gefängnissen zu ersticken. Mindestens 30 Gefangene und zwei Soldaten, die ihren Wehrdienst leisteten, wurden getötet, mehrere hundert zum Teil schwerverletzt. Insgesamt 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“. Während diesem militärischen Großangriff mit Präzisionsgewehren, Nachtsichtgeräten, Flammenwerfern, Panzern, Hubschraubern, Nerven-, Rauch- und Gasbomben, Bulldozern, Baggern, Vorschlaghämmern, Schweiß- und Bohrmaschinen wurden etwa 20.000 Tränengas-, Nerven-, Pfeffer- und Rauchbomben in die Gefängnisse geworfen. Erol Engin wurde damals am Kopf verletzt, aber dass es sich dabei um eine Schussverletzung gehandelt haben konnte, das kam ihm nicht in den Sinn.
Erol Engin derzeit in Einzelzelle
Nach Angaben von Nadire Engin könne ihr Bruder Erol inzwischen kaum noch sprechen. Er sei bis auf die Knochen abgemagert und habe über „unendliche Schmerzen“ geklagt, sagte Engin. Sie konnte ihn vor einigen Tagen besuchen und sei „entsetzt“ gewesen über den Anblick, der sich ihr dort bot. Eine effektive Behandlung in einem Krankenhaus wird Erol Engin jedoch nach wie vor verweigert. Außerdem wird er seit einiger Zeit in einer Einzelzelle in Isolation gehalten. Seine gesundheitliche Verfassung lässt es kaum zu, dass er sich selbst versorgt. Offenbar wartet man im Gefängnis von Tekirdağ darauf, dass er stirbt.