Mit einem Sternmarsch auf Kadıköy im asiatischen Teil der westtürkischen Metropole Istanbul wollten Angehörige von Gefangenen ihre „Gerechtigkeitswache“ am Sonntag eigentlich beenden. Doch die Polizei vollzog dasselbe Ritual, das sie schon seit Monaten Woche um Woche ausführt, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit über die Situation in den Gefängnissen des Landes informiert wird. Seit letztem März schon geht die Initiative in Istanbul auf die Straße, um ihr Anliegen sichtbar zu machen und ihm Gehör zu verschaffen: Die Freilassung schwer Erkrankter und wegen fehlendem Reuebekenntnis trotz Vollendung ihrer Strafen weiterhin Inhaftierter. Doch nahezu jede Kundgebung der Gruppe, die sich überwiegend aus Müttern zusammensetzt, die um das Leben ihrer inhaftierten Kinder kämpfen, wurde seit Beginn der friedlichen Aktion gewaltsam unterdrückt. So auch heute wieder.
Nein zur Isolation
„Freiheit für alle kranken und trotz abgesessener Haftstrafe nicht entlassen Gefangenen – Aufhebung der Isolation“ lautete das Motto des Sternmarschs anlässlich der finalen Gerechtigkeitswache, zu der neben der Angehörigeninitiative auch Organisationen der Gefangenensolidarität, das Bündnis „Vereinte Kampfkräfte“ (BMG) und die Demokratische Partei der Völker (HDP) aufgerufen hatten. Thematisch ging es in Aufrufen und Mobilisierungspostings für diese Demonstrationen auch um die Ablehnung der Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali, von der Abdullah Öcalan und seine drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş betroffen sind, sowie die Forderung nach Kontakten der Imrali-Gefangenen zu ihrer Außenwelt.
Gewalt gegen Medienschaffende
Die Polizei hatte das Zentrum Kadıköys schon am frühen Vormittag weiträumig abgesperrt. Vor allem in den Nebenstraßen rund um die Startpunkte für den Sternmarsch patrouillierten sogenannte Anti-Aufruhr-Einheiten der Polizei, an zahlreichen Punkten wurden gepanzerte Fahrzeuge und Gefangenentransporter in Stellung gebracht. Zum ersten Übergriff auf Demonstrierende kam es an der Endstation der Schnellbahnlinie Söğütlüçeşme. Die Polizei stürmte ohne Vorwarnung in die Menge und führte erste Festnahmen durch, mehrere Journalist:innen, die zuvor von Beamten in Zivil verfolgt worden waren, wurden gewaltsam vom Platz gedrängt. Die Anzahl der hier festgenommenen Personen ist noch unklar.
„Wir wollen sie lebend“
Derweil marschierte eine größere Menschenmenge von mehreren hundert Personen auf der Kurbağalıdere Caddesi auf und rief unter Beifall Parolen wie „Es lebe der Widerstand in den Kerkern“, „Bijî Serok Apo“, „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“ und „Nein zur Isolation“. Die Aktivistin Kumri Akgül, Schwester des in Tekirdağ in einer Einzelzelle isolierten Gefangenen Erdal Özel, sprach einige bewegende Worte: „Schluss mit dem Sterben in den Gefängnissen! Wir wollen unsere Liebsten lebend und ertragen es nicht mehr, dass sie allenfalls im Sarg aus den Kerkern dieses Landes kommen. Wir wollen Gerechtigkeit – überall.“
Tritte gegen Friedensmütter
Die Polizei schirmte die Demonstration während der Rede von Akgül ab und bildete eine bedrohlich wirkende Kette, sodass keine weiteren Personen mehr in den Bereich konnten. Als die Ansammlung um den Kessel immer schneller anwuchs, stürmten Einsatzkräfte in die Menge. Vornehmlich wurden Gefangenenangehörige und Mitglieder des Rates der Friedensmütter attackiert. Einigen von ihnen rissen Beamte ihre weißen Kopftücher – ihr Erkennungszeichen und Symbol ihrer Mutterschaft und ihrer Trauer – vom Haupt und verpassten ihnen noch potenziell lebensgefährliche Tritte, als sie schon am Boden lagen. Dutzende Personen wurden festgesetzt und mit den Händen auf den Rücken gefesselt, bevor sie über den Boden geschleift und zum Gefangenentransporter gebracht wurden. Die Gefangenenangehörige Zeynep Calıhan wurde mit Verdacht auf einen Beinbruch in ein Krankenhaus gebracht.
Istanbuler HDP-Vorsitzende Ferhat Encü ins Gesicht geschlagen
Für eine weitere Eskalation sorgte die Polizei, als Mitglieder der HDP gegen das gewaltsame Vorgehen protestierten. Dem Istanbuler Ko-Vorsitzenden Ferhat Encü ist vor laufender Kamera ins Gesicht geschlagen worden, der Parlamentsabgeordnete Hasan Özgüneş wurde beleidigt. Mehmet Zeki Kaya, Kameramann des oppositionellen Senders Artı TV, der die Szenen einfing, wurde festgenommen, den Korrespondenten Umut Taştan prügelte die Polizei nieder.
Dutzende Festnahmen
Derweil gelang es den Einsatzkräften erst nach mehreren Versuchen, die noch andauernde Demonstration der Gefangenenangehörigen aufzulösen. Nach bisherigem Stand wurden rund 50 Personen in Polizeihaft genommen, nicht alle Betroffene sind bislang namentlich bekannt: Ferhat Encü, Serhat Sekunder, Hüsamettin Sekunder, Burhan Gökgöz, Gülcihan Şengül, Aynur Taş, Cezmi Dinçer, Hüseyin Avras, Mehmet Nefeyaz, Erkan Gökçe, Ümit Gökçe, Nejmettin Yüknel, Mehmet Sena Arkadaş, İsmail Sever, Sedat Uğraş, Ali Edebali, Sebat Karul, Dilek Demir, Hüsamettin Sekendur, Çiçek Arıç, Mavican Kara, Emine Arslan, Mehmet Önal, İbrahim Uzun, Erkal Balçık, Yusuf Bozkurt, Mehmet Çelik, Kemal Yılmaz, Rohat Güvercin, Ramazan Özdemir, Sultan Gürbey, Beyhan Artar Bey.