Die kurdische Politikerin Gülser Yıldırım ist eine von elf früheren Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die im November 2016 in der Türkei festgenommen worden waren. Neun von ihnen, darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, wurden bei dem bis dato umfassendsten Putsch der türkischen Regierung gegen die HDP verhaftet. Die meisten waren in der Folge zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Gülser Yıldırım verbrachte nach ihrer Festnahme fast zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft, bis sie im April 2018 unter „Terrorismusvorwürfen“ zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde – aufgrund von Aussagen, die sie als Parlamentsabgeordnete machte. Im Revisionsverfahren ein knappes Jahr später erkannte das Gericht auf eine gleichhohe Strafe wie in erster Instanz.
Nach dem alten Strafvollzugsgesetz konnten Häftlinge, die zeitige Freiheitsstrafen zu verbüßen hatten, grundsätzlich nach zwei Dritteln ihrer Haftzeit entlassen werden. Seit die AKP von Recep Tayyip Erdogan und deren rechtsextremer Koalitionspartner MHP im Frühjahr 2020 das „Strafvollzug-Reformpaket“ durch das türkische Parlament brachten, fällt diese Regelung für die politischen Gefangenen weg. Diese müssen seit der „Reform“ drei Viertel der Haftdauer absitzen, weil sie wegen angeblichen „Terrordelikten“ verurteilt wurden. Mördern, Sexualverbrechern und Drogenhändlern dagegen wird die Reststrafe nach 67 Prozent der abgesessenen Haftdauer zur Bewährung ausgesetzt.
Rechtsanwalt Azat Yıldırım
Gemäß den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes hätte Gülser Yıldırım insgesamt fünf Jahre, sieben Monate und 16 Tage ihrer Freiheitsstrafe verbüßen müssen. Diese Zeit hat sie aber bereits hinter Gittern verbracht. Laut ihrem Verteidiger Azat Yıldırım ist die Entlassung der Politikerin seit nunmehr drei Monaten überfällig. „Leider ist dies bisher nicht geschehen. Weder gibt es eine Begründung für die verweigerte Freilassung meiner Mandantin noch eine juristische Grundlage“, hält Yıldırım fest. Der Jurist betont: „Von dieser offensichtlichen Diskriminierung durch das türkische Vollzugsregime sind ausschließlich politische Gefangene, vor allem aus dem Spektrum der HDP, betroffen.“
Beschwerde beim HSK
Dieser Hinweis stößt bei der türkischen Justiz auf taube Ohren. Insgesamt vier Anträge für die vorzeitige Haftentlassung von Gülser Yıldırım habe der Rechtsanwalt beim türkischen Kassationshof bisher eingereicht. „Doch auf keinen einzigen Antrag hat das Gericht bisher reagiert. Selbst das Urteil über sieben Jahre und sechs Monate Haft gegen meine Mandantin hat das Gericht bislang nicht bestätigt.“ Yıldırım ist merklich wütend. Die andauernde Inhaftierung der Politikerin sei empörend, nach einer Haftstrafe, die sie ohnehin niemals hätte verbüßen müssen, sagt der Jurist. Indem die türkischen Behörden Gülser Yıldırım weiter gefangen halten, fügten sie ihrer langen Liste von Verbrechen gegen die Grund- und Menschenrechte ein weiteres hinzu. „Besonders tragisch dabei ist, dass dieses Unrecht vom Kassationshof – eines der obersten Gerichte der Türkei – ermöglicht wird“, betont Yıldırım. Deshalb will das Verteidigungsteam der 59-Jährigen eine Beschwerde beim „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (HSK) gegen die verantwortlichen Kassationsrichter einreichen. Die Behörde ist unter anderem zuständig für die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte.
Über Gülser Yıldırım
Gülser Yıldırım wurde 1963 in Nisêbîn bei Mêrdîn geboren und ist Mutter von vier Kindern. Als Abgeordnete der HDP saß sie zwischen 2012 und 2016 im türkischen Parlament. Zuvor war sie in der DEHAP und in der DTP politisch aktiv. Seit ihrer Inhaftierung wird sie im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra bei Kocaeli festgehalten. Wegen ihrer langjährigen Haft kämpft Yıldırım mit gesundheitlichen Problemen. Sie leidet an Fibromyalgie, einer Krankheit, die unter anderem zu chronischen Schmerzen am ganzen Körper führt. Ihre Haftbedingungen bestärken ihre Krankheit, da sie in ihrer Gefängniszelle keinen Platz zum Laufen hat. Mehrmals verhängte die Vollzugsleitung willkürliche Disziplinarstrafen wie etwa Kontakt- und Besuchsverbot gegen die Politikerin.
Mit dem Reformpaket vom April 2020 wurden zehn türkische Gesetze verändert, vor allem das Strafvollzugsgesetz. Bis Hafterleichterungen wie Hausarrest oder Freilassungen möglich sind, mussten die meisten Verurteilten bis zum Inkrafttreten der Regelungen zwei Drittel ihrer Strafe verbüßen, seither ist es nur noch die Hälfte. Bei vorsätzlicher Tötung bleibt es grundsätzlich bei zwei Drittel und bei sogenannten Terrordelikten bei drei Viertel der Haftdauer. Bei Sexualverbrechen und Drogenhandel galt bis 2020, dass 75 Prozent der Strafe vollzogen werden mussten, bis eine Erleichterung möglich war. Nach der letzten Gesetzesänderung sind es nur noch 67 Prozent.