Mit der Lokalpolitikerin Fatma Kılıçarslan ist erneut ein Mitglied der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei von Personen, die sich als Polizisten auswiesen, verschleppt worden. Das machte die Aktivistin am Samstag im Rahmen einer Presseerklärung in den Räumlichkeiten des HDP-Provinzverbands in Ankara öffentlich. Fatma Kılıçarslan ist Ko-Vorsitzende des Kreisverbands in Sincan. Mehrmals wurde sie bereits ohne rechtliche Grundlage festgenommen und sah sich politischen Verfahren im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Politikerin und Frauenrechtsaktivistin ausgesetzt. Ihre Entführung, die mitten auf der Straße erfolgte, nimmt Kılıçarslan als Einschüchterungsversuch wahr. „Schon die unrechtmäßigen Festnahmen haben ihren Zweck nicht erfüllt. Wir leben in einem Land, dessen Vergangenheit geprägt ist von Fällen des Verschwindenlassens. Seit jeher tauchten dunkle Mächte auf der Bildfläche auf, sobald die Herrschenden vor ihrem Untergang standen. Es wird ihnen nicht gelingen, uns zum Schweigen zu bringen“, so die Politikerin.
Herbeigeeilte Zeugen von Polizei geschlagen
Fatma Kılıçarslan befand sich am 8. September nach Feierabend auf dem Heimweg, als ihr von einem weißen Wagen der Weg abgeschnitten wurde. Mehrere Personen stiegen aus und gaben sich als Polizeibeamte zu erkennen. Angeblich müsste sie zwecks einer Aussage zum Revier gebracht werden. „Als ich äußerte, meinen Rechtsbeistand informieren zu wollen, wurde mein Handy beschlagnahmt. Sie versuchten mich in das Fahrzeug zu verfrachten. Ich rief um Hilfe, daraufhin eilten Menschen aus den umliegenden Geschäften herbei. Eine Person setzte sich an das Steuer des Wagens und zog den Schlüssel heraus. Dieser Mensch wurde von den Polizisten geschlagen. Die Entführer zückten ihre Dienstausweise und zeigten sie den Leuten, die mir helfen wollten. Danach trieben sie die Menge auseinander und drückten mich in das Auto“, schilderte Kılıçarslan.
„Du wirst in Ankara keine Ruhe mehr finden“
Etwa 45 Minuten habe die Tortur gedauert, sie sei bedroht und beschimpft worden. „Du wirst in Ankara keine Ruhe mehr finden. Das nächste Mal wirst du deine Augen in Dscharablus [von der Türkei besetzte Stadt in Nordsyrien] öffnen, nackt und allein auf dem Gipfel eines Berges“, habe es geheißen. Dann sei sie wieder ausgesetzt worden. Perihan Pakize Sinemillioğlu, die Ko-Vorsitzende der HDP-Ankara, nimmt an, dass Kılıçarslan allein aufgrund der Intervention ihrer Partei bereits kurz nach ihrer Verschleppung wieder freigelassen wurde. „Sie war zum Glück nicht allein. Ihre Begleitperson kontaktierte uns und gab das Kennzeichen des Fahrzeugs durch. Wir haben sowohl Fatma als auch die Polizei umgehend angerufen und alle verantwortlichen Stellen in Kenntnis gesetzt.“
Fatma Kılıçarslan war bis 2020 Ko-Sprecherin des HDK in Ankara
Sofortige Intervention der HDP dank Begleitperson
Sinemillioğlu meint, es sei „traurig“, dass über vierzig Jahre nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens weiterhin Anwendung findet. „Sie haben Angst, anders ist dieses Phänomen nicht zu erklären“, sagte die Politikerin bezogen auf die Regierung. „Doch solange wir existieren, wird auch unser Kampf gegen Machenschaften wie diese weitergehen.“
Verschwindenlassen von unliebsamen Personen
Das Verschwindenlassen von unliebsamen Personen war bereits in den 1980er und 1990er Jahren in der Türkei gängige Praxis. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“, das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte, während dieser dunklen Periode aus. In den letzten Jahren ist diese Methode immer häufiger zu beobachten. Politisch aktive Menschen, die in der Regel aus dem Umfeld der HDP sind, werden auf der Straße in Autos gezerrt und an abgelegene Orte gebracht, wo sie oftmals misshandelt und unter Druck gesetzt werden, um sie als Spitzel anzuwerben. In der Regel trifft es Aktivistinnen und Aktivisten des HDP-Jugendrats, der als dynamischster Teil der Opposition in der Türkei gilt. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD, der solche Fälle regelmäßig öffentlich macht, werde mit dieser Methode verfolgt, die Betroffenen einzuschüchtern. Es gehe dabei weniger um die Informationsgewinnung, vielmehr sollen die Menschen dazu gebracht werden, ihr politisches und soziales Umfeld und damit ihre Persönlichkeit aufzugeben.