Der vor sechs Tagen in Istanbul von Unbekannten verschleppte und am frühen Morgen mit verbundenen Augen im Stadtteil Başakşehir freigelassene Gökhan Güneş hat auf einer Pressekonferenz in der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD von seiner Entführung berichtet. An der Pressekonferenz nahmen die Istanbuler IHD-Vorsitzende Gülseren Yoleri und der ESP-Vorsitzende Şahin Tümüklü sowie zahlreiche Angehörige und Journalist*innen teil.
Gökhan Güneş hat Hämatome unter dem linken Auge und an den Händen. Von den Geschehnissen der letzten Tage berichtete er, dass er sich am 20. Januar auf dem Weg zur Arbeit befand: „Ungefähr um zwölf Uhr bin ich aus dem Bus gestiegen. Auf dem Bürgersteig an der Bushaltestelle standen vier Personen. Eine von ihnen sprach mich an. Als ich mich umdrehte, stürzten sich alle vier zusammen auf mich. In dem Moment sah ich, dass es noch mehr geworden waren. Sie versuchten, mich in ein Fahrzeug zu zwingen. Ich wehrte mich dagegen und wich zurück. Um meinen Widerstand zu brechen, setzten sie einen Elektroschocker ein. Ich kam erst im Auto wieder zu mir. Zwei Personen hielten meine Arme fest. Sie beugten mich nach unten und zogen einen Sack über meinen Kopf. Dann wurde ich in ein anderes Fahrzeug gesetzt. Sie brachten mich an einen Ort. Ich konnte nichts sehen und mir wurde nicht gesagt, wo und an welcher Stelle ich mich befinde.
Nachdem wir hineingegangen waren, wurden systematisch und mit Abständen Foltermethoden angewendet. Die Folter reichte von Stromschlägen über Prügel bis zum Abspritzen mit kaltem Wasser. Manchmal wurde ich nackt liegengelassen, manchmal hatte ich noch meine Unterwäsche an. Mir wurde mit Vergewaltigung gedroht. Es gab einen Bereich, der ,Grab' genannt wurde. Dort konnte man nur stehen und die Arme nicht bewegen. Man wurde dort mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen eingesperrt. Es wurden Drohungen ausgestoßen und Angebote gemacht. Das ging willkürlich so weiter.
Zuletzt war ich davon ausgegangen, dass ich gestern freigelassen werde. Ich spürte, dass so etwas vorbereitet wurde. Aber dann ließen sie mich doch nicht gehen. Sie sagten, dass ich mit ihnen zusammenarbeiten soll. Später fragten sie mehrmals, ob ich wisse, wer sie seien. Ich antwortete, dass sie vermutlich vom Geheimdienst sind. Dazu sagten sie nichts. Sie sagten jedoch mehrmals, dass sie ,die Unsichtbaren' seien.“
Von seiner Freilassung erzählte Güneş: „Es war vermutlich morgens, als ich in ein Fahrzeug gesetzt wurde. Meine Augen waren verbunden. Es waren schätzungsweise vier Personen da. Vorher gaben sie mir Kleidung. Bis auf die Hose gehörte nichts davon mir. Unterwäsche, Strümpfe und Hemd habe ich von ihnen bekommen. Bevor es losging, wurde mein Körper gesäubert. Nachdem ich mich angezogen hatte, sprühten sie Parfum auf meine Jacke. Bevor sie mich gehen ließen, sagte einer, den sie Chef nannten: ,Ich habe dir nichts weggenommen, nur deine SIM-Karte.' Ich fragte nach dem Grund. Er antwortete nicht darauf und sagte nur, dass ich mir eine neue Karte von demselben oder einem anderen Anbieter besorgen soll.“
Im Auto wurde sein Kopf erneut von zwei Personen nach unten gedrückt. Bevor er ausstieg, wurde ihm der Sack vom Kopf gezogen. „Sie sagten mir, dass ich loslaufen soll und auf keinen Fall nach hinten gucken darf. Ich ging los und öffnete meine Augen. Sie hatten Watte auf meine Augen gelegt und mit Klebeband befestigt. Ich hatte kein Telefon und konnte niemanden anrufen. Es war am frühen Morgen. Schließlich bat ich einen Wachmann, mir ein Taxi zu rufen. Ich stieg ins Taxi und fuhr zur Wohnung meiner Familie.“
Auf die Fragen von Journalist*innen antwortete Güneş, dass die Fahrt nach seiner Entführung etwa anderthalb Stunden gedauert hat. Der Raum, in dem er tagelang festgehalten wurde, habe einer Gummizelle geähnelt. Über Lautsprecher sei rassistische Musik abgespielt worden.
Gökhan Güneş bedankte sich zum Schluss bei allen, die sich für ihn eingesetzt haben. Er betonte, dass er aufgrund seiner politischen Identität als Sozialist verschleppt wurde: „Dabei handelt es sich um eine Politik der 1990er Jahre, die auch heute wieder angewandt wird. Vermutlich wird das in der kommenden Zeit so weitergehen.“ Mit dieser Methode lasse sich der Kampf nicht marginalisieren, er selbst werde weiterkämpfen.