Linker Aktivist in Istanbul entführt: Wo ist Gökhan Güneş?

Der linke Aktivist Gökhan Güneş ist vor zwei Tagen in Istanbul auf dem Weg zur Arbeit von Unbekannten verschleppt worden. Die Entführung wurde von einer Überwachungskamera eingefangen, doch die Polizei ist untätig. Das hat Gründe.

Mehr als 48 Stunden sind bereits vergangenen, seit der linke Aktivist Gökhan Güneş von bislang Unbekannten in Istanbul verschleppt worden ist. Doch die Polizei ist untätig, obwohl eine Überwachungskamera die Entführung des 23-Jährigen eingefangen hat. „Das hat Gründe“, sagen die Angehörigen von Güneş, die Sicherheitskräfte als Täter vermuten. „Gökhan wurde in der Vergangenheit bereits Opfer einer versuchten Entführung durch staatliche Kräfte. Wir glauben, dass es ihnen diesmal gelungen ist“, sagt seine Schwester Gülhayat Toraman. Die Familie hat sich am Freitag mit der Bitte um Unterstützung an den Menschenrechtsverein IHD gewandt.

Was ist über die Entführung bekannt?

Gökhan Güneş arbeitet als Elektriker. Am Mittwoch stieg er mittags um 12.20 Uhr im Bezirk Ikitelli in die Buslinie 79 FY, um zu seinem Arbeitsplatz in Başakşehir zu gelangen. Nach dem Aussteigen an der Haltestelle „Grundschule Şehit Abdülselam Özatak“ wurde er von vier bis fünf Personen überwältigt und in eines von zwei wartenden Autos gezerrt. Danach rasten die Fahrzeuge davon. Auf den Bildern einer Überwachungskamera sind auch Umstehende zu erkennen, die den Vorfall beobachten.

Gökhan Güneş

Die Eltern von Gökhan Güneş haben sich seit Mittwoch mehrmals an die Polizei sowie die Istanbuler Antiterrorzentrale gewandt, um die Entführung anzuzeigen, doch ohne Erfolg. Mehrfach seien sie weggeschickt worden, auch eine Anzeige von Anwälten brachte die Familie nicht weiter. Die Aufnahmen aus der Überwachungskamera, die die Familie in Eigeninitiative beschaffen konnte und der Polizei übergab, seien „ohne Würdigung in einer Schublade gelandet“. Inzwischen soll sogar ein polizeiliches Ermittlungsverfahren wegen der Herausgabe der Aufnahmen eingeleitet worden sein, so Gülhayat Toraman.

Die Neunziger sind zurück

„Wenn wir uns die Aufnahmen der Entführung von Gökhan Güneş ansehen, dann fragen wir uns, ob die dunkle Periode der 1990er Jahre wieder zurück ist“, sagte Gülseren Yoleri, die Vorsitzende der Istanbuler IHD-Zweigstelle, bei einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten des Vereins, an der unter anderem auch die HDP-Abgeordneten Musa Piroğlu und Ali Kenanoğlu teilnahmen. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte die Türkei nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte - während dieser dunklen Phase aus.

Verschwindenlassen erlebt Revival

Unter der AKP erlebt diese Praxis seit einigen Jahren ein Revival, im letzten Jahr erreichten versuchte Entführungen von linken Aktivist*innen und Mitgliedern des HDP-Jugendrats sowie Spitzelanwerbeversuche sogar einen neuen Höhepunkt. Laut Yoleri liegt das an einer „staatlichen Politik der Straflosigkeit“. Die Regierung habe kein Interesse an einer Abkehr dieser Staatsführung, vielmehr werde sie institutionalisiert.

Verstörende Stille bei Behörden

Nazife und Ibrahim Güneş, die Eltern von Gökhan Güneş, finden es „verstörend“, dass sich der Innenminister als Zuständiger für die Polizei bezüglich der Entführung noch nicht zu Wort gemeldet hat. „Seit mehr als zwei Tagen ist mein Sohn verschwunden, aber der Staat gibt sich bedeckt. Wie kann das sein?“, will Ibrahim Güneş wissen.

Derweil sind vor dem Istanbuler Polizeipräsidium Vatan zwei Unterstützer der Familie bei einer Mahnwache für Gökhan Güneş festgenommen worden. Gülsüm Elvan, die Mutter des 14-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 durch eine von der Polizei abgefeuerte Gaskartusche schwer verletzt worden war und vor seinem Tod 269 Tage im Koma lag, harrt mit weiteren Angehörigen des entführten Aktivisten weiterhin vor dem Präsidium aus.