Küstenwache soll Schutzsuchende ins Meer geworfen haben

Eine Untersuchung des Spiegel und Guardian kommt zu dem Ergebnis, dass die griechische Küstenwache zwei Schutzsuchende vor der Küste von Samos von einem Boot geworfen hat. Beide Männer sind ertrunken.

Am 15. September 2021 gingen Sidy Keita von der Elfenbeinküste und Didier Martial Kouamou Nana aus Kamerun an Bord eines Schlauchbootes von der Türkei nach Griechenland. Obwohl sie es bis zur griechischen Insel Samos schafften, wurden ihre Leichen Tage später in der Provinz Aydın an der türkischen Ägäisküste angeschwemmt.

Interviews des Guardian und des Spiegel mit mehr als einem Dutzend Zeug:innen, die Analyse von geheimen Dokumenten, Satellitenbildern, Social-Media-Konten und Online-Material sowie Gespräche mit Beamten in der Türkei und in Griechenland deuten darauf hin, dass die beiden Männer von einem Boot der griechischen Küstenwache geworfen wurden.

Nach dem Aufbruch von der türkischen Küste erreichte das Boot gegen sieben Uhr morgens die Nordostküste von Samos bei Kap Prasso. Anwälte, die für das Human Rights Legal Project (HRLP) auf Samos zehn Kilometer von Kap Prasso entfernt arbeiten, erhielten eine SMS von einer unbekannten Nummer, die sie über die Ankunft des Schlauchbootes informierte, zusammen mit Fotos, die von Land aus von einem Schiff der griechischen Küstenwache gemacht wurden, das in dem Gebiet gesichtet wurde. Um 10.25 Uhr informierte das HRLP per E-Mail die örtliche Polizei, das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und ein auf der Insel ansässiges Mitglied der Europäischen Kommission sowie den Aufnahme- und Identifizierungsdienst für Asylsuchende auf Samos über die Ankunft.

28 Menschen auf Rettungsinseln ausgesetzt

Kurz nach dem Eintreffen des Bootes hörten Zeugen nach eigenen Angaben Schüsse. In Panik teilten sich die Menschen auf und kletterten die Hügel hinauf, um sich zu verstecken. Acht von ihnen konnten ins Landesinnere entkommen, aber die anderen 28, darunter ein Baby, kleine Kinder und eine schwangere Frau, wurden von den Behörden festgenommen. Am Nachmittag sollen sie auf ein Boot der Küstenwache verladen, auf das Meer hinausgefahren und auf zwei Rettungsinseln ausgesetzt worden sein – eine gut dokumentierte Form der Zurückdrängung durch die griechischen Behörden.

Mindestens drei Personen sollen einer Leibesvisitation unterzogen und geschlagen worden sein. Eine Person berichtete, dass mindestens eine Frau von den Beamten auf der Suche nach Geld einer Durchsuchung von Körperöffnungen unterzogen wurde. Betroffene berichteten: „Die Polizei schlug uns mit größter Gewalt, ich wurde ins Gesicht und in den Bauch geschlagen. Ich habe geweint.“ Eine Betroffene sagte, sie sei ausgeraubt und ihr Baby sei in die Rettungsinsel geworfen worden, „als ob man einen Mülleimer werfen würde“. „Wir müssen das anprangern, weil es unmenschlich ist. Sie haben Menschen vor unseren Augen geschlagen und die Kinder traumatisiert.“ Zwei Stunden später wurden die Boote von der türkischen Küstenwache aufgegriffen. Eine Schwangere lag bereits in den Wehen.

Von den acht Personen, die den Behörden auf Samos zunächst entkommen waren, schafften es vier in ein Flüchtlingslager auf der Insel, während die anderen vier aufgegriffen wurden. Eine Frau wurde vor einem Kloster gestellt und aufs Meer geschickt. Sie wurde am 17. September von der türkischen Küstenwache aufgegriffen.

Sidy Keita von der Elfenbeinküste und Didier Martial Kouamou Nana sowie ein weiterer Mann namens Ibrahim wurden in einem Waldstück am 16. September aufgegriffen.

Sie haben einen nach dem anderen ins Wasser gestoßen“

Ibrahim, ein ehemaliges Mitglied der kamerunischen Marine, sagte, sie seien auf einer Straße von Personen angehalten worden, die sich als Polizeibeamte ausgaben. Sie wurden nach ihrem Ausweis gefragt und ihrer Handys und ihres Geldes beraubt, bevor sie in ein Auto gesetzt und zu einem Hafen gebracht wurden. Ibrahim sagte, sie seien dann auf ein Schnellboot verladen worden, das er als die Rafnar identifizierte, ein Schiff, das von der Küstenwache auf Samos eingesetzt wird.

Nach einer halben Stunde hielt das Boot an, berichtet Ibrahim. Dann sei einer nach dem anderen ins Wasser gestoßen worden. „Ich habe mich gewehrt", sagt er. „Sie schlugen mich heftig, bevor sie mich ins Wasser warfen.“ Er berichtet, er sei verzweifelt geschwommen, und die Wellen hätten ihn in Richtung der türkischen Küste und an den Strand vor Kuşadasi getrieben.

Nach Angaben von Ibrahim wurde Keitas Leiche kurz darauf angespült. Freunde sagten, weder Keita noch Kouamou konnten schwimmen. Ibrahim versuchte Wiederbelebungsmaßnahmen, aber es war zu spät. Er steckte einen Stock neben Keitas Leiche in den Sand und begann, an der Küste entlangzulaufen. Zwei Tage später wurde Kouamou am selben Strand gefunden. Ibrahim identifizierte später beide Leichen im Leichenschauhaus in Izmir. Aus den medizinischen Unterlagen geht hervor, dass Keita ertrunken ist und die Leiche von Kouamou in der Nähe des Ufers im Meer gefunden wurde.

Es ist billiger, Schutzsuchende ins Meer zu werfen“

Während es dem Rechercheteam unmöglich war, Ibrahims Geschichte vollständig zu überprüfen, bestätigten zwei griechische Beamte mit direkter Kenntnis von Einsätzen der Küstenwache, unter dem Vorbehalt der Anonymität, dass dies vorkomme, in der Regel bei kleineren Gruppen von Schutzsuchenden. Der Grund dafür sei es, den Einsatz von teuren Rettungsinseln zu vermeiden; eine öffentliche Ausschreibung für deren Ersatz könne Fragen aufwerfen. Beide Beamte sagten, dass die Flüchtlinge normalerweise mit Schwimmwesten ausgestattet werden, bevor sie aufgefordert werden, zurück in die Türkei zu schwimmen.