Tod in Obhut des Staates: Grabbesuch bei Hasan Ocak und Rıdvan Karakoç

Die Namen von Hasan Ocak und Rıdvan Karakoç stehen als Sinnbild für Mord in Obhut des Staates. 1995 von der türkischen Polizei festgenommen und verschwunden gelassen, waren ihre Fälle die ersten, die von den „Samstagsmüttern” in Erfahrung gebracht wurden.

Als Emine Ocak am 27. Mai 1995 zum ersten Mal auf dem berühmten Galatasaray-Platz in Istanbul demonstrierte, war ihr Sohn bereits tot. Hasan Ocak, Gymnasiallehrer, gebürtig aus Dersim, war 30 Jahre alt und betrieb in Istanbul eine Teestube, als er am 21. März 1995 während der Unruhen in Gazi festgenommen wurde. Nach seinem Verschwinden wurde sein Leichnam in einem Waldgebiet abgeworfen und später auf einem „Friedhof für Namenlose“ entdeckt. Das Ergebnis der Autopsie zeigte deutlich, dass er durch einen Strick um den Hals ermordet wurde. Sein Körper wies zudem Verbrennungen durch Strom und Schnitte im Gesicht auf. Hasan Ocak wurde in der „Obhut“ des türkischen Staates zu Tode gefoltert.

Festgenommen, gefoltert, ermordet und anonym verscharrt

Die Sitzaktion von Emine Ocak war der erste Schritt, um den Protest gegen die Praxis des „Verschwindenlassens” öffentlich zu machen und neue Fälle von „Verschwundenen” zu verhindern. Der Familie schlossen sich Angehörige weiterer Vermisster an, als erstes die Familie von Rıdvan Karakoç. Der Kurde aus Agirî (tr. Ağrı) wurde im Februar 1995 in Istanbul festgenommen, gefoltert, ermordet und anonym verscharrt. Sein Tod wurde eine Woche nach der ersten Mahnwache von Emine Ocak bekannt. Von da an versammelten sich jeden Samstag immer mehr Menschen um 12 Uhr auf dem Galatasaray-Platz, friedlich, schweigend, mit Fotos ihrer „Verschwundenen“, um auf diese Weise für eine halbe Stunde ihre Forderung sichtbar zu machen: die Verbrechen aufklären und die Schuldigen vor Gericht bringen. Sie machten es wie die Mütter und Großmütter in Argentinien, die in der dunkelsten Zeit der Militärdiktatur regelmäßig die Plaza de Mayo umrundeten. Die Presse gab ihnen den Namen „Samstagsmütter“. Seit August 2018 werden ihre Mahnwachen verboten – trotz eines gegenteiligen Urteils des Verfassungsgerichts.


Tod nur durch Zufall aufgedeckt

Dass Rıdvan Karakoç dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen war, kam nur durch einen Zufall ans Licht: die Familie Ocak hielt sich gerade bei der Staatsanwaltschaft auf, als sie ein Foto einer erstellten Leiche sah. Es war der Körper von Rıdvan Karakoç, der zum Zeitpunkt seines Verschwindens zur Fahndung ausgeschrieben war. Der Leichnam war von Dorfbewohnern in einem Waldgebiet im Istanbuler Stadtteil Beykoz entdeckt worden. Drei Wochen lang wurde er in der Gerichtsmedizin aufbewahrt und später auf einem Friedhof für Unbekannte begraben. Es dauerte Monate, bis die Familie erwirken konnte, dass das Grab geöffnet wird. Die Autopsie ergab, dass Rıdvan Karakoç vermutlich am 1. März 1995 durch einen Strick um den Hals erdrosselt wurde, zudem wies sein Körper an etlichen Stellen Verbrennungen auf – dasselbe Schicksal hatte auch Hasan Ocak erleiden müssen.

Rıdvan Karakoç hatte als Jugendlicher seinen Geburtsort Dûtax verlassen und sich mit seiner Familie in Istanbul niedergelassen. Dort engagierte er sich bei den kurdischen Parteien HEP und DEP, zudem gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Kulturzentrums Mesopotamien (Navenda Çanda Mezopotamyayê). Kurz vor seinem Verschwindenlassen hatte ihn jemand diffamiert, vermutlich um sich selbst vor Folter zu schützen. Er tauchte unter, hielt den Kontakt zu seiner Familie und seiner Rechtsanwältin Eren Keskin einige Wochen lang telefonisch aufrecht. Den letzten Anruf von ihm erhielt sein Bruder Abdurrahman Karakoç am 15. Februar 1995.

Fotos: Mezopotamya Ajansı

Die genaue Zahl der „Verschwundenen“ in der Türkei ist nicht bekannt, sie wird mit bis zu 17.000 angegeben. Doch die Tode von Hasan Ocak und Rıdvan Karakoç waren die ersten beiden, die in Erfahrung gebracht werden konnten. Aus Anlass der „Internationalen Wochen gegen das Verschwindenlassen in Haft“, die jedes Jahr vom 17. bis 31. Mai begangen werden, hat am Freitag ein Besuch auf dem Gazi-Friedhof stattgefunden, wo Hasan Ocak und Rıdvan Karakoç begraben liegen. Unter den Teilnehmenden befanden sich neben Familienangehörigen der beiden Männer auch die Samstagsmütter und Mitglieder von politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Anwesend, wenn auch nicht in unmittelbarer Nähe, war auch die Polizei – sie hatte einen Belagerungsring um den Friedhof gezogen.

Verantwortung übernehmen, entschuldigen, Täter bestrafen

Nach einer Schweigeminute wurden Reden gehalten. Rıdvan Karakoçs Bruder Hasan merkte an, dass der Kampf gegen das Verschwindenlassen seit 28 Jahren unermüdlich andauere und solange fortgesetzt werde, bis den Opfern dieser staatlichen Praxis Gerechtigkeit widerfährt. „Auch wenn noch tausend Jahre vergehen müssen – der Widerstand wird erst enden, wenn der Staat Rechenschaft ablegt für seine Verbrechen und der Schmerz von uns Angehörigen gelindert wird. Erst wenn die politische Führung Verantwortung übernimmt, um Entschuldigung bittet, das Schicksal aller Verschwundenen aufklärt, die Täter ausfindig macht und bestraft, dann erst können wir abschließen.“

Kollektive, gesellschaftliche Schmerzen

Hasan Ocaks Schwester Maside Ocak verurteilte den Unwillen des Staates, sich der eigenen Wahrheit zu stellen, die Mörder der Verschwundengelassenen preiszugeben und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Wir als die Familien von Hasan und Rıdvan können uns glücklich schätzen, die Gebeine unserer ermordeten Angehörigen gefunden und einen Ort geschaffen zu haben, an dem wir trauern können. Doch tausende anderen Menschen, die dieselbe Gewalterfahrung gemacht haben, bleibt dies bis heute verwehrt.“ Es gebe unzählige Fälle von Menschen, die seit Jahrzehnten vermisst werden. „Es sind keine Einzelschicksale, sondern kollektive, gesellschaftliche Schmerzen. Sie bleiben von der Justiz unbeachtet und werden in die Verjährung gedrängt.“

Buldan: Am 28. Mai zwischen Licht und Dunkelheit wählen

Auch die amtierende HDP-Vorsitzende Pervin Buldan beteiligte sich an dem Grabbesuch. Sie hatte ein Foto ihres Ehepartners Savaş Buldan mitgebracht. Er war einer von drei kurdischen Geschäftsleuten, die am 3. Juni 1994 beim Verlassen eines Hotels in Istanbul verschleppt wurden. Einen Tag später wurden die Leichen von Savaş Buldan, Adnan Yıldırım und Hacı Karay in 270 Kilometern Entfernung in Bolu von Dorfbewohnern aufgefunden. Die Männer waren gefoltert und erschossen worden. Für ihren Tod wird der damalige Polizeichef und spätere Innenminister Mehmet Ağar verantwortlich gemacht. Wie sich später herausstellte, befanden sich ihre Namen auf einer Todesliste kurdischer Geschäftsleute. Bis heute ist niemand für ihre Ermordung verurteilt worden. Pervin Buldan hat am Tag der Ermordung ihres Mannes eine Tochter zur Welt gebracht. Sie rief heute die Öffentlichkeit in der Türkei dazu auf, der „Ära der Ungerechtigkeit“ bei der Stichwahl am 28. Mai den endgültigen Schlag zu versetzen. „Es wird wohl die letzte Möglichkeit sein, um zwischen Licht und Dunkelheit zu wählen“, sagte Buldan.